„Ich sehe keine lang anhaltende Krise“

Berlin Verdi-Chef Frank Werneke hat sich im Streit um das zunächst aufgeschobene Wachstumschancengesetz hinter Familienministerin Lisa Paus (Grüne) gestellt. „Die Ampel handelt momentan leider sehr situativ, sie lässt sich zum Teil von Klientelinteressen leiten und präsentiert kein gemeinsames Bild, das auch überzeugt“, sagte der Gewerkschafter, der sich auf dem Bundeskongress im September zur Wiederwahl stellt, im Interview mit dem Handelsblatt.

Der Streit um die Kindergrundsicherung und die Weigerung von Finanzminister Christian Lindner (FDP), eine auskömmliche Finanzierung dafür zu gewährleisten, sei ein Beispiel. „Die Unternehmen beklagen einen massiven Mangel an Arbeits- und Fachkräften; gleichzeitig haben wir in Deutschland derzeit mehr als 2,6 Millionen Menschen unter 35 Jahre ohne Berufsabschluss und jedes Jahr 50.000 Schulabbrecher. Das ist nicht akzeptabel“, sagte Werneke.

Die Ursachen dafür lägen oft in den armutsbedrohten Herkunftsfamilien, bei der frühkindlichen Bildung und bei der Schulbildung. „Diese Kinder dürfen wir nicht weiter abhängen. Darauf zielt die Kindergrundsicherung“, sagte Werneke.

Lesen Sie hier das ganze Interview mit dem Verdi-Vorsitzenden:

Herr Werneke, von Deutschland ist wieder als kranker Mann Europas die Rede. Zu Recht?
Nein. Wir haben eine schwache wirtschaftliche Entwicklung, vor allem zu wenige Investitionen. Das liegt vor allem an der Zinspolitik der Europäischen Zentralbank und der anderen Notenbanken, die das Ziel hat, die Inflation zu bekämpfen, und dafür bereit ist, die Kaufkraft zu schwächen. Die Zinspolitik kann die Bundesregierung nicht beeinflussen, wohl aber die hohen Energiepreise. Wir tragen als Gewerkschaft das Unsrige dazu bei, durch gute Tarifabschlüsse die Nachfrage zu stabilisieren. Ich sehe uns weder in einer lang anhaltenden Krisensituation, noch glaube ich, dass Deutschland signifikant schlechter aufgestellt ist als andere europäische Länder.

Sie hoffen auf eine Zinswende, dabei ist die Inflation weiter hoch – und die belastet auch die von Verdi vertretenen Arbeitnehmer.
Die Inflation geht mittlerweile zurück, und die Nachteile von Zinserhöhungen überwiegen, wenn es zu einem Stopp dringend benötigter Investitionen kommt. Am handgreiflichsten ist das momentan in der Bauwirtschaft, die in vielen Bereichen zum Erliegen gekommen ist, aber auch die Unternehmen investieren weniger. Es ist der Punkt erreicht, an dem die EZB zumindest keine weiteren Zinserhöhungen vornehmen sollte.

Wo sehen Sie die größten Schwächen der deutschen Wirtschaft?
Die Energiewende kommt nicht schnell genug voran, das ist aus meiner Sicht die Achillesferse. Der Ausbau der Erneuerbaren und der Stromtrassen nach Süddeutschland dauert zu lange. Wir haben aber auch eine Investitionsschwäche bei Verkehrswegen und beim öffentlichen Gebäudebestand. Und ein enormes Digitalisierungsdefizit im gesamten öffentlichen Bereich.

Das ist seit Langem bekannt …
Und deshalb ist es doch ein Treppenwitz der Geschichte, dass der Bund jetzt ausgerechnet die Mittel für die digitale Verwaltung kürzt, während wir gleichzeitig darüber klagen, dass Baugenehmigungen oder andere Verwaltungsdienstleistungen zu lange dauern.

Brauchen wir den Industriestrompreis, um die industrielle Basis Deutschlands zu erhalten?
Man kann überlegen, den Industrieunternehmen eine Brücke zu bauen. Doch unter den hohen Energiepreisen leiden genauso viele Dienstleistungsbranchen, soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser und die Verbraucher.

Yasmin Fahimi, Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes, hat für den Industriestrompreis eine Größenordnung von 50 Milliarden Euro ins Spiel gebracht. Gibt es da keine abgestimmte DGB-Position?
Wir haben die abgestimmte Position, dass es Regelungen zum Industriestrom braucht, aber parallel auch eine Verlängerung der Strom- und Gaspreisbremse.

>> Lesen Sie hier das Interview mit DGB-Chefin Yasmin Fahimi: „Herr Lindner muss die Frage beantworten, ob dieses Land noch eine stabile Industriebasis haben soll“

Woher soll das Geld kommen?
Ich erinnere an den Doppel-Wumms aus dem vergangenen Jahr. Für den Wirtschaftsstabilisierungsfonds gibt es eine Kreditermächtigung über 200 Milliarden Euro, und es ist nur ein Teil des Geldes abgeflossen, etwa 60 Milliarden. Es sind also Möglichkeiten vorhanden.

Was halten Sie von den milliardenschweren Entlastungen, die Finanzminister Christian Lindner für die Wirtschaft plant?
Es ist sicherlich sinnvoll, Investitionen in die Klimawende steuerlich zu fördern. Aber einen großen Konjunkturimpuls erwarte ich mir von den geplanten Steuerentlastungen für Unternehmen nicht.

Das Entlastungspaket wurde nicht wie geplant im Kabinett verabschiedet, weil Familienministerin Lisa Paus ihr Veto eingelegt hat …
Die Ampel handelt momentan leider sehr situativ, sie lässt sich zum Teil von Klientelinteressen leiten und präsentiert kein gemeinsames Bild, das auch überzeugt. Der Streit um die Kindergrundsicherung und Lindners Weigerung, eine auskömmliche Finanzierung dafür zu gewährleisten, ist so ein Beispiel. Die Unternehmen beklagen einen massiven Mangel an Arbeits- und Fachkräften; gleichzeitig haben wir in Deutschland derzeit mehr als 2,6 Millionen Menschen unter 35 Jahren ohne Berufsabschluss und jedes Jahr 50.000 Schulabbrecher. Das ist nicht akzeptabel.

>> Lesen Sie hier das Interview mit Finanzminister Christian Lindner: „Wir können schnell in der zweiten Liga landen“

Was hat das mit der Kindergrundsicherung zu tun?
Die Ursachen dafür liegen oft in den armutsbedrohten Herkunftsfamilien, bei der frühkindlichen Bildung und bei der Schulbildung. Diese Kinder dürfen wir nicht weiter abhängen. Darauf zielt die Kindergrundsicherung.

Wo vermissen Sie noch ein gemeinsames und stimmiges Auftreten der Regierung?
Manche Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, verschärfen eher die Krise. Ein Beispiel: Weil der Bundeshaushalt keine ausreichenden Maßnahmen zur Stützung der gesetzlichen Krankenversicherung vorsieht, werden die Beiträge signifikant steigen. Das wiederum beeinflusst den Konsum negativ, was ich für unklug halte. Ich halte es auch für fragwürdig, einfach das Inflationsausgleichsgesetz, das einseitig Bezieher hoher Einkommen begünstig und gleichzeitig zu erheblichen Einnahmeausfällen führt, im nächsten Jahr fortzuführen.

Von der Strom- und Gaspreisbremse profitieren aber auch Gutverdiener …
Sie ist in der Konstruktion sicher nicht perfekt, aber das liegt auch daran, dass wir in Deutschland noch immer kein System haben, in dem wir staatliche Zahlungen mit Einkommensdaten verknüpfen und an ausnahmslos alle Bürgerinnen und Bürger leisten können. Das sollte schon nach der Corona-Pandemie abgestellt werden, aber da sind wir wieder beim Thema Digitalisierung der Verwaltung.

Stromzähler

Unter den hohen Energiepreisen litten nicht nur Industrieunternehmen, sondern auch viele Dienstleistungsbranchen, soziale Einrichtungen und die Verbraucher, sagt der Verdi-Chef.

(Foto: IMAGO/aal.photo)

Sie fordern, die Schuldenbremse erneut auszusetzen, obwohl das nur in außergewöhnlichen Notsituationen passieren darf. Leben wir in einer Dauerkrise?
Die außergewöhnliche Situation, die wir mit Ukrainekrieg und hohen Energiepreisen für das Haushaltsjahr 2023 hatten, ist auch für 2024 gegeben. Die Schuldenbremse schränkt den Investitionsspielraum unangemessen ein, doch statt sie zu reformieren, baut die Regierung immer neue Schatten‧haushalte auf wie den Klima- und Transformationsfonds mit Kreditermächtigungen von mehr als 200 Milliarden Euro.

Mit dem Geld soll unter anderem die Ansiedlung von Halbleiterherstellern wie TSCM gefördert werden, um Deutschland unabhängiger vom Ausland zu machen …
Aber sind fünf Milliarden Euro Subventionen für eine Chipfabrik wirklich notwendiger als ein Investitionsprogramm zur energetischen Sanierung der Krankenhäuser? Das sind Haushaltsfragen, über die im Parlament diskutiert werden müsste. Durch die Verlagerung in Schattenhaushalte unterbleibt das.

Neue Schulden gehen zu Lasten künftiger Generationen. Sind Sie kein Freund der Generationengerechtigkeit?
Natürlich sollen wir laufende Ausgaben des Staates, etwa für Personal, nicht über Schulden finanzieren. Aber wir laufen Gefahr, die Klimaziele zu reißen, weil nicht genug Geld für Investitionen da ist. Und wir müssen auch mittelfristig an die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands oder Europas denken. In anderen Teilen der Welt hängt man der Idee der Schuldenbremse erkennbar nicht nach – Stichwort Inflation Reduction Act in den USA.

Wir sollen die USA im Subventionswettlauf überbieten?
Vielleicht nicht überbieten, aber mitmachen sollten wir zumindest. Nichts zu tun, ist keine Antwort.

>> Lesen Sie hier: Wie die Ampelkoalition den Klimafonds ausnutzt

Sie haben gesagt, die Gewerkschaften tun ihr Möglichstes zur Stärkung der Binnenkonjunktur. Die Tarifrunden waren zuletzt sehr aufgeheizt. Wird das so bleiben?
Wir setzen jedenfalls alles daran, die Realeinkommen unserer Mitglieder zu verbessern oder mindestens zu erhalten. Dafür treten die Beschäftigten bei uns ein.

Spielt Ihnen der Arbeitskräftemangel in die Hände?
Er verbreitert auf jeden Fall die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Beschäftigten, aber auch der Tarifpolitik. Das Selbstbewusstsein der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wächst. Wir sehen das zum Beispiel an der zunehmenden Bereitschaft, sich an Streiks zu beteiligen oder auch Gewerkschaftsmitglied zu werden. Ich bin sehr optimistisch, dass wir als Verdi dieses Jahr unter dem Strich mit einer positiven Mitgliederentwicklung abschneiden.

Gerade Geringverdiener werden vor allem durch Sozialabgaben belastet – und die gehen in die Höhe. Tut die Koalition an dieser Stelle zu wenig?
Die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung finanzieren weiter die Gesundheitsversorgung von Bürgergeldempfängern mit zehn Milliarden Euro im Jahr. Würde die Ampel das ändern, wie im Koalitionsvertrag versprochen, hätten wir im nächsten Jahr auch keine steigenden Krankenversicherungsbeiträge. Es geht nicht, dass Arbeitseinkommen mit immer höheren Steuern und Abgaben belegt und andere Einkommensarten geschont werden.

Warnstreik von Beschäftigten des Nahverkehrs im März in Hamburg

Der Verdi-Vorsitzende sieht eine zunehmende Bereitschaft, sich an Streiks zu beteiligen oder auch Gewerkschaftsmitglied zu werden.

(Foto: dpa)

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leiden auch unter den steigenden Wohnkosten. Wie können sie an dieser Stelle entlastet werden?
Ich halte nichts von Plänen der Bauministerin, den Wohnungsbau mit generell verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten anzukurbeln – egal, ob es um ein Luxusappartement geht oder ein genossenschaftliches Unternehmen, das sozialen Wohnungsbau betreibt. Da wird mit der Bazooka wenig zielgenau auf ein Problem geschossen.

Was schlagen Sie vor?
Akut braucht es einen wirksamen Weg, um Mietpreissteigerungen zu bremsen. Das Verfassungsgericht hat den Mietpreisdeckel in der Hauptstadt ja nur gekippt, weil Berlin als Land nicht zuständig ist. Hier sehe ich die Bundesregierung in der Pflicht. Auf mittlere Sicht muss der Bereich der Mieten, die einer Mietpreisbindung unterliegen, erweitert werden, etwa durch Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Leider geht es bei der Wohngemeinnützigkeit nicht voran.

>> Lesen Sie hier: Neue Wohngemeinnützigkeit: Ökonomen halten Regierungspläne für „gefährlich“

Was meinen Sie?
Kommunale, genossenschaftliche oder auch private Wohnungsunternehmen würden dabei einen Ausgleich vom Staat erhalten, wenn sie zugunsten der Mieter ein Stück weit auf Rendite verzichten. Ob dieses Projekt in dieser Legislatur überhaupt noch auf die Spur gebracht werden kann, erscheint mir fraglich.
Herr Werneke, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Eine Koalition der Kraftlosen regiert Deutschland – Ein Kommentar

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