Vilnius Löcher in der Decke, ein Schnurtelefon mit Drehscheibe, 70er-Jahre-Möbel und jede Menge Werkzeug – auf den ersten Blick scheint die ehemalige Textilfabrik in Litauens Hauptstadt Vilnius näher an längst vergangenen Sowjetzeiten zu liegen als an der Zukunft der europäischen Start-up-Szene.
Doch die Unternehmerinnen und Unternehmer, die die Mitarbeiter von Darius Zakaitis durch den Gebäudekomplex führen, stören sich daran nicht. In vielen der Räume auf dem 55.000 Quadratmeter großen Gelände zeigen ihnen Entwürfe und Baupläne, wie ihr Büro aussehen könnte.
Zakaitis, Gründer des Start-up-Campus „TechZity“, will hier nicht nur an den Erfolg anderer Jungunternehmen im Land anknüpfen. Er will den größten Tech-Hub Europas schaffen – und so europäischen Vorbildern wie der Factory in Berlin (23.000 Quadratmeter) oder Station F in Paris (34.000 Quadratmeter) Konkurrenz machen.
Ein großer Vorteil für die TechZity ist der Standort, wie Adrian Locher, Gründer und Geschäftsführer der Berliner KI-Plattform Merantix erklärt. „Die baltischen Staaten sind schon lange dafür bekannt, bei der Digitalisierung sehr weit vorn zu sein“, sagt Locher. In vielen digitalen Bereichen nehme die Region eine Vorreiterrolle ein. Litauen konnte in den vergangenen Jahren mehrere Einhörner hervorbringen, darunter das Cybersicherheits-Unternehmen Nord Security, ebenso wie den Online-Modehändler Vinted.
Litauische Start-ups haben im vergangenen Jahr insgesamt 295 Millionen Euro eingesammelt, am besten finanziert sind die Bereiche Sicherheit und Fintechs. Die litauische Start-up-Vereinigung Startup Lithuania schätzt den kombinierten Unternehmenswert von Start-ups, die in Litauen gegründet wurden oder ansässig sind, auf 9,5 Milliarden Euro.
Das baltische Land hat zwar nur 2,8 Millionen Einwohner. Laut der niederländischen Unternehmensplattform Dealroom gehört Litauen dennoch zu den am schnellsten wachsenden Start-up-Ökosystemen Mittel- und Osteuropas.
Talente als entscheidender Faktor für den Erfolg von Start-ups
TechZity-Gründer Zakaitis, der aktuell rund 20 Mitarbeiter hat, beschreibt den Vorteil Litauens so: „Der größte Unterschied zwischen Deutschland und Litauen: Ihr seid 20-mal größer – aber wir denken einfach noch nicht mal an den lokalen Markt. Vom ersten Tag an denken unsere Gründer global, und das ist unser größter Vorteil.“
Sein Berliner Konkurrent Locher betreibt mit Merantix selbst einen KI-Hub, an dem rund 1000 Leute an etwa 500 Arbeitsplätzen arbeiten. Der entscheidende Faktor ist aus seiner Sicht Talent. „Gute Leute wollen dahin, wo andere gute Leute sind. Und solche Netzwerke oder Ökosysteme brauchen ein physisches Zuhause“, sagt Locher.
Die geopolitische Lage im Baltikum – Litauen grenzt an die russische Enklave Kaliningrad sowie an Belarus, auch die andere baltischen Staaten Lettland und Estland sind direkte Nachbarn Russlands – ist für Locher nicht per se schlecht. „Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Vorteil ist – dass man mit diesem Standort besonders abenteuerlustige oder risikoaffine Leute anziehen kann“, findet er. „Wie die Leute, die in den 1990er-Jahren nach Berlin gegangen sind.“
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Udo Schloemer, Gründer und Vorsitzender des Start-up-Campus Factory Berlin, sieht ebenfalls Potenzial im Standort. „Generell ist Osteuropa eine ganz große Chance in dem Bereich“, erklärt er. Die Region sei voller Talente in Unternehmen und Forschung. Neben Menschen mit kreativen Ideen sei eine wichtige Frage aber: „Gibt es genug Leute, die das Konzept nach vorn bringen, die Tempo reinbringen?“
TechZity soll eine Gemeinschaft schaffen
Zakaitis arbeitet schon seit zehn Jahren an der Idee der TechZity, wie er erzählt. „Ich dachte mir: Start-ups in den ersten Entwicklungsphasen brauchen einen gemeinsamen, sicheren Raum.“
Die Vision: „Wir versuchen, eine vollwertige Stadt zu bauen.“ Das unterscheide das Projekt auch von ähnlichen Ansätzen in Paris oder Berlin, findet er. Zakaitis ist überzeugt: „Multifunktions-Hubs sind die Zukunft.“ Das Gelände soll rund um die Uhr geöffnet sein. „Die Leute wollen doch auch gemeinsam essen, Veranstaltungen organisieren, sich weiterbilden, Sport machen, zusammenleben“, sagt Zakaitis.
100 Millionen Euro soll die Umsetzung kosten, für 5000 Menschen, voll integriert mit Restaurants, Bars, Gemeinschaftsräumen. Bisher wurden davon 30 Millionen zugesagt, erklärt Zakaitis. 80 Prozent davon trägt Vinted-Gründer Mantas Mikuckas, Zakaitis selbst den Rest. Um die übrigen 70 Millionen werbe man beispielsweise bei Banken und privaten Investoren.
Im Oktober will das Unternehmen bekannt geben, welche Unternehmen einziehen, öffnen soll TechZity im kommenden Jahr. „Unser Ziel ist es, bereits vor Baubeginn, also noch vor Jahresende, 70 Prozent der Flächen vermietet zu haben. Ich bin zu 90 Prozent zuversichtlich, dass wir dieses Ziel erreichen werden“, so der Gründer. Einige Unternehmen hätten schon Arbeitsflächen reserviert.
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Wie Zakaitis sicherstellen will, dass das Projekt zum Erfolg wird? „Erstens ist die Infrastruktur sehr wichtig“, mit der Stadt verhandle sein Team gerade über Genehmigungen für Fahrradwege, „zweitens die Gemeinschaft und drittens gleichgesinnte Menschen aus ähnlichen Bereichen“.
Aus Sicht des deutschen Gründers Schloemer wird sich der Erfolg des Unterfangens daran messen lassen, wie gut eben diese Gemeinschaft funktioniert. Er findet insbesondere die Schnittstelle zwischen neuer und alter Wirtschaft wichtig. Niemand wolle mehr wie beim Coworking schlichtweg nebeneinanderher arbeiten, ist Schloemer überzeugt. „Heutzutage geht’s ums Netzwerken“, sagt er, gerade zwischen etablierten und neuen Unternehmen.
„Aber auch: Welche Wagniskapitalgeber investieren? Nicht unbedingt ins Gebäude, sondern in die Start-ups, die letztendlich vor Ort mitmachen.“ Entscheidend für den Erfolg sei letztendlich auch, ob sich die Wagniskapitalgeber-Szene für das Projekt interessiert und sich vor Ort ansiedelt.
Hilfreich sei zudem, zu Beginn ein besonders bekanntes Unternehmen für sich zu gewinnen und diesem gegebenenfalls auch umsonst Arbeitsflächen zur Verfügung zu stellen. „Ein Start-up, das alle kennen, gute Redner bei der Eröffnung, dann will jeder dort arbeiten.“
Die Factory Berlin beispielsweise konnte frühzeitig Soundcloud für sich begeistern – aus Schloemers Sicht nicht unerheblich für den weiteren Werdegang des Campus. Zuletzt empfiehlt Schloemer seinen aufstrebenden Konkurrenten aus Vilnius, ein selektives Bewerbungsverfahren zu organisieren: „Selbst wenn es noch Platz gibt: Man sollte nicht einfach jeden reinlassen.
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