Edelmetallspezialst-Chef Rinnert über China & Europa

Hanau Heraeus ist ein breit aufgestellter Technologie- und Familienkonzern mit 360 Jahren Geschichte. Bislang war das Unternehmen aus dem hessischen Hanau vor allem als Edelmetallspezialist bekannt. Das Geschäft mit Gold, Silber und Platin ist noch immer wichtig.

Doch mittlerweile liefert Heraeus auch Quarzglas für die Halbleiter- und Telekommunikationsindustrie, Sensoren für die Stahlindustrie und die Medizintechnik. Und eigene Deeptech-Start-ups werden für die Zukunft des Unternehmens immer wichtiger, das inzwischen rund 30 Milliarden Euro pro Jahr umsetzt.

Jan Rinnert lobt Robert Habeck und Annalena Baerbock und ermutigt die Bundesregierung, auf europäischer Ebene aktiver zu werden. Nicht nur bei der Energieversorgung, sondern auch bei der Inflationsbekämpfung, Verteidigung, beim Wettbewerb oder der Cybersicherheit. Man müsse in Europa Wachstum fördern und den Menschen Perspektiven bieten. „Ohne dies destabilisiert sich die EU weiter. Das wäre eine Katastrophe für uns alle.“

Herr Rinnert, Fachkräftemangel, Lieferkettenprobleme, Renationalisierung, Energieknappheit, Krieg – wie behalten Sie alles im Blick?
Es geht ja noch weiter: Pandemie, Inflation, Euro-Dollar-Parität und die geostrategischen Herausforderungen. Unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem steht unter starkem Druck. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit Deutschlands und der EU. Bei all den dringenden kurzfristigen Problemen kann ich keine politische Langfristplanung erkennen.

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Das war jetzt sehr generell. Wie reagieren Sie als Unternehmen darauf?
Wir haben eine Strategie für die nächsten fünf bis sieben Jahre. Und wir sind ein sehr diversifiziertes Familienunternehmen. Sowohl in den Geschäften als auch regional. Es hilft, dass wir inzwischen sehr selbstständige Einheiten haben, die eigenverantwortlich auf die Herausforderungen wie Rohstoffknappheit oder Energiemangel reagieren.

Sie klingen vergleichsweise entspannt …
… weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben. Wir haben rund 20 Einheiten, die eigenständig und schnell reagieren können und einen Fokus auf Exzellenz, Kundenorientierung und Innovation haben. In den letzten fünf Jahren haben wir weltweit in rund ein Dutzend neuer Standorte investiert. Die vergangenen 24 Monate haben wir trotz Covid gut hinbekommen. Unsere Lieferketten sind nach wie vor recht stabil. Dennoch spüren wir die Probleme unserer Kunden, wenn diese zum Beispiel keine Halbleiter bekommen.

Problembewusstsein in der Bevölkerung schaffen

Dann mal konkret: 2021 stieg der Umsatz um gut zehn Prozent, der Gewinn schnellte um fast 100 Prozent in die Höhe. So wird das doch kaum weitergehen, oder?
Wir sind gut ins erste Halbjahr gestartet. Ich rechne aber in den kommenden 18 Monaten mit einer Abschwächung.

Rechnen Sie auch mit einer Rezession?
Wenn die Situation um die Gasversorgung nicht gelöst wird, dann ja. Auch die Inflation schafft Unsicherheit und birgt eine große Gefahr für verringertes Konsum- und Investitionsverhalten.

Gasspeicher

Rinnert rechnet mit einer Rezession, wenn die Situation um die Gasversorgung nicht gelöst wird.

(Foto: dpa)

Etwas konkreter bitte: Sinken Ihre Auftragseingänge?
Unsere Kunden machen sich Sorgen. Wir sehen erste Schatten im Auftragseingang. Dazu kommt die Psychologie der dunklen Tage im Winter. Es ist wichtig, in der Bevölkerung ein Problembewusstsein zu schaffen und die Menschen auf den Weg mitzunehmen.

Also die Sorge vor kalten Stuben und stillstehenden Fabriken?
Das ist die größte Sorge in Europa. Amerika und China haben dieses Problem nicht. Mein Eindruck ist, dass jedes Land in Europa bisher selbst nach Lösungen sucht. Daran werden auch die Vorschläge des EU-Energieplans nichts ändern. Der ist nur reaktiv. Eine solide langfristig durchdachte EU-Energiestrategie wäre ein wesentlicher Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstandssicherung Europas.

>> Lesen Sie hier: Die deutsche Wirtschaft steht am Rand der Rezession – der einzige Lichtblick kommt aus dem Inland

Was können Sie denn beeinflussen?
Wir haben nicht das Ziel, energieautark zu werden, wenn Sie darauf anspielen. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass die Politik die Rahmenbedingungen für eine gute Infrastruktur und zuverlässige Energieversorgung sicherstellt.

Also können Sie sich nicht vorstellen, selbst Energieerzeuger zu werden?
Doch. Überall wo es geht, installieren wir Solardächer. Wir haben einen größeren Photovoltaik-Park und verhandeln gerade über eine Beteiligung an einem Windpark. Das hilft uns bei der CO2-Neutralität, aber nicht dabei energieautark zu werden, schon weil es die Stromleitungen zu unseren Standorten nicht gibt.

Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Wirtschaftsräumen

Die deutsche Wirtschaft hat sich bei der Energieversorgung komplett auf die Politik verlassen, auch Sie?
Nicht nur dort. Auf ganz vielen Entscheidungsebenen sind strategische Lücken entstanden. Zum Beispiel In der Digitalisierung, Infrastruktur, im Bildungssystem. Und auch international: Unser regelbasiertes System mit WTO und OECD ist praktisch zahnlos. Von diesem System haben wir stark profitiert. Heute nutzen die USA und China ihre politische und wirtschaftliche Stärke, hebeln die Organisationen aus und bestimmen die Regeln individuell.

Russland und China auf der einen Seite und die USA und Europa auf der anderen?
Es gibt heute Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Wirtschaftsräumen: USA, Europa, China. Wobei die USA auch in Zukunft ein sehr wichtiger Partner für uns bleiben werden. Wir müssen den USA zeigen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Dazu muss Europa weiter an einer eigenen Agenda arbeiten. Europa muss beweisen, dass es politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Vorteile bietet und es sich lohnt, Teil dieser Idee zu sein. Mit Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Bei Robert Habeck und Annalena Baerbock erkenne ich, dass sie diese Ziele in ihrer Politik verfolgen wollen.

Weil beide so klar kommunizieren?
Weil sie Themen anpacken und aktiv nach Lösungen suchen und das dann auch klar kommunizieren. Ich unterstütze das und hoffe, dass sie für eine neue Art von Politikern stehen.

Gehört Olaf Scholz‘ Zeitenwende auch in diese Kategorie?
Noch nicht. Zeitenwende ist ein gutes Wort, bisher erkenne ich aber nur 100 Milliarden Euro für militärische Zwecke, um Lücken zu schließen. Eine echte Zeitenwende wäre eine Neupositionierung und Modernisierung Europas. Das würde Deutschland und Europa voranbringen. Das kann ich heute aber noch nicht erkennen.

Mehr zu Gasversorgung in Europa:

Was sollten Bundesregierung und Wirtschaft dafür tun?
Wir müssen viel stärker auf europäischer Ebene Lösungen für die aktuellen Herausforderungen suchen, nicht nur bei der Energieversorgung, sondern auch bei anderen Themen wie Inflationsbekämpfung, Verteidigung, Wettbewerb oder Cybersicherheit. Deutschland muss den Schulterschluss mit Ländern suchen, die die Europäische Idee fördern wollen. Dabei genügt es aber nicht, nur Schulden und Lasten umzuverteilen und Solidarität in Anspruch zu nehmen. Es bedarf Maßnahmen und Programme, die nach vorne gerichtet sind, Wachstum fördern und den Menschen Perspektiven bieten. Ohne dies destabilisiert sich die EU weiter. Das wäre eine Katastrophe für uns alle.

Keine Distanz zu China

Heraeus war 1974 eines der ersten deutschen Unternehmen, das in China aktiv war, Sie bauen gerade drei neue Werke dort. Trotzdem weisen Sie Ihren Umsatz dort nicht aus. Gehen Sie auf Distanz zu China?
Nein, im Gegenteil. Heraeus entwickelt sein Geschäft in China ständig weiter. Wir sind immer unseren eigenen Weg in China gegangen, wir haben uns nie auf China als Exportmarkt oder günstige Produktionsstätten verlassen. Sondern wir produzieren in China für China. Und es läuft trotz Lockdowns weiter.

Vita Jan Rinnert

Wirklich?
Ja, in Schanghai haben Hunderte von Mitarbeitenden den Lockdown in unseren Standorten verbracht, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Das ist eine gewaltige Anstrengung gewesen, auch psychologisch, vor der ich größten Respekt habe. Auch auf der Kundenseite gibt es keine Probleme. Wir stehen gut da und erweitern unsere Marktanteile.

Aber China will selbst Autarkie, wie sehr werden dort noch deutsche Unternehmen gebraucht?
Das hängt sehr stark von den einzelnen Branchen ab. Grundsätzlich sollte sich jeder klarmachen, dass China eigene Ziele verfolgt. Wir sind in vielen Bereichen Konkurrenten und werden als Unternehmen nur noch akzeptiert, wenn wir uns mit Innovationen und Know-how behaupten können. Dabei ist es wichtig, unsere selbst definierten Werte zu verteidigen.

Heißt das, mit der sich ändernden Globalisierung muss sich auch das Geschäftsmodell Deutschlands ändern?
Aber ja! Das Globalisierungsmuster der vergangenen 30 Jahre mit freien Marktzugängen hatte den Vorteil, dass Länder wie Deutschland den gleichen Zugang hatten, wie die ganz großen Volkswirtschaften. Jetzt erzeugen die USA und China eine Dominanz, auf die wir in Europa bisher nicht ausreichend vorbereitet sind.

Was fordern Sie?
Es bedarf eines klaren Umdenkens, wenn wir wollen, dass Europa und europäische Werte erhalten bleiben. Dann müssen wir Europa verändern und weiterbringen. Für uns in Europa und unsere Partner, die auf uns setzen.

Wobei?
Zum Beispiel beim Thema Klimaschutz. Da kann es nur globale Lösungen geben und da müssen wir auf Augenhöhe verhandeln.

Klimaschutz ist wichtiges Thema für Heraeus

Beim Thema Halbleiter dürfte das eher schwierig werden …
… bei Halbleitern stehen USA und China im Wettbewerb, richtig. Auch bei anderen Themen wie Telekommunikation oder Stahl sind sie auf Konfrontation. Aber es geht hier nicht um Freund oder Feind. Wir sollten dort zusammenarbeiten, wo dies möglich ist und bereit sein, im Wettbewerb zu bestehen, wo wir Wettbewerb erleben. Das ist die neue Art der Globalisierung, und daraus ergeben sich politische Handlungsbedarfe – zum Beispiel in Afrika oder den Asean-Staaten.

Gerade dort sind uns die Chinesen doch zuvorgekommen.
Ja, aber die Bedingungen ändern sich. Auch hier müssen wir zeigen, dass wir erfolgreiche Vorbilder und Partner sind.

Wie sehr achtet die Familie darauf, wie viel China-Abhängigkeit sich Heraeus leistet?
Diversifikation ist bei uns auch geografisch gemeint. Wir investieren in Europa in eine neue Quarzglasfabrik. Das größte Investment Ende vergangenen Jahres war Norwood Medical in den USA. In der Summe ist unser Chinageschäft nun kleiner als das US-Geschäft.

>> Lesen Sie hier: Aldis riskante China-Offensive – Der Discounter plant Hunderte neue Läden

Die größte Herausforderung haben viele Familienunternehmen bislang unterschätzt: Klimaschutz. Gibt es einen Zielwert für den gesamten Heraeus-CO2-Fußabdruck?
Klimaschutz ist ein sehr wichtiges Thema für Heraeus. Viele unserer Produkte helfen, schädliche Treibhausgase zu reduzieren. Wir sind Marktführer für Silberleitpaste in der Photovoltaik oder produzieren Katalysatoren zur Minimierung von Lachgasemissionen. Wir recyceln Edelmetalle und PET-Flaschen und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Ressourcenschonung.
Auch in der Produktion wollen wir CO2-Emissionen vermeiden. Jedes Geschäft hat die Aufgabe, einen eigenen Fahrplan und Ziele zu entwickeln. Gut die Hälfte der Einheiten hat diese Ziele bereits formuliert, die anderen werden in den nächsten zwölf Monaten fertig werden.

„Wir würden auch nicht in Drogen, zum Beispiel Cannabis oder Ähnliches investieren.“

Dann geben Sie uns mal ein Beispiel, wo es schon konkrete Ziele gibt.
Unser Edelmetallgeschäft, die Heraeus Precious Metals, wird das erste Unternehmen seiner Branche sein, das bis 2025 klimaneutral operiert. In zehn Jahren wollen sie dann komplett auf fossile Betriebsmittel verzichten. Diese Ziele sind in einem umfangreichen Maßnahmenkatalog definiert und auf Standorte und persönliche Zielvereinbarungen runtergebrochen.

Sie haben gerade eine Anleihe in Höhe von 500 Millionen begeben, waren die Finanzdienstleister mit Ihren dezentralen Klimazielen zufrieden?
Ja, Sie akzeptieren, dass unterschiedliche Geschäfte unterschiedliche Vorgehensweisen benötigen.

Gab es schon Situationen, wo die Gesellschafter sich gegen ein Geschäft entschieden haben, weil sie es nicht mehr für zeitgemäß halten?
Wir haben eine enge und regelmäßige Verbindung zu unserem Gesellschafterausschuss, unserem Aufsichtsrat sowie dem gesamten Gesellschafterkreis. Es gibt viele Formate, in denen wir die Gesellschafter informieren und uns gemeinsam austauschen. Es ist sehr wichtig, dass unsere Gesellschafter zum Unternehmen stehen und die Entwicklung weiter fördern.

Aber Sie brauchen doch Leitlinien für Investitionen?
Die haben wir. Wir gehen z. B. nicht in das Geschäft mit Waffen. Wir würden auch nicht in Drogen, zum Beispiel Cannabis oder Ähnliches investieren.

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Und was müssen Ihre Gesellschafter tun?
Wir haben uns im Gesellschafterkreis entschieden, in Familienhand zu bleiben. 2060 werden wir auf 400 Jahre als Unternehmerfamilie seit Gründung der Apotheke 1660 zurückblicken. Wir gehen verantwortungsvoll mit Ressourcen um. Bis zu 25 Prozent des Jahresüberschusses werden nur an die Gesellschafter ausgeschüttet. Damit verbleibt ein großer Teil des Gewinns im Unternehmen für weiteres Wachstum.

Was sagen die Gesellschafterinnen und Aufsichtsrätinnen dazu, dass Heraeus noch immer so wenig divers in der Spitze ist?
Die Förderung von Diversität im Unternehmen ist uns ein wichtiges Anliegen und wird das Unternehmen besser machen. Unser Ziel ist es dabei, Talente vor allem von innen her aufbauen. Wichtige Fortschritte haben wir hierbei auf verschiedenen Ebenen des Unternehmens bereits gemacht, benötigen aber auch noch etwas Zeit.
Unsere Entscheidungen treffen wir in der Regel in unserem erweiterten Führungskreis. Da sind wir bei Diversität schon einen Schritt weiter.

Herr Rinnert, vielen Dank für das Interview.

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