Diese Bücher bringen erfrischende Erkenntnisse

Pack die Badehose ein… und dazu ein gutes Buch. Umfragen zeigen, dass die Deutschen in den Urlaub auch meist neuen Lesestoff mitnehmen. Mehr als die Hälfte von ihnen gibt an, in der Ferienzeit mehr zu lesen als sonst.

Wer lieber Sachbücher liest als Romane, für den hat die Handelsblatt-Redaktion acht Bücher für den Reisekoffer rausgesucht. Darunter finden sich historische Bücher, Biografien – oder ein Märchenbuch der etwas anderen Art.

Kein Begriff ist so oft missbraucht worden wie die „Zivilisation“. Europa begründete seine blutigen kolonialen Eroberungen damit, „Unzivilisierte“ zivilisieren zu müssen. Südafrikas Apartheidsregime wollte angeblich die Schwarzen auf das Niveau der „weißen Zivilisation“ heben. Und selbst der barbarische Nationalsozialismus beanspruchte, die Zivilisation des „nordischen Herrenmenschen“ in die Welt zu tragen.

Der Oxford-Historiker Paul Betts beleuchtet in seinem Buch „Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945“ all die haarsträubenden Umdeutungen des Zivilisationsbegriffs – sein Schwerpunkt liegt aber auf positiven Entwicklungen hin zu universellen Menschenrechten, Demokratie und Freiheit.

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Er zeigt, wie fremde Armeen zur Rezivilisierung Europas beitrugen und es den Staaten ermöglichten, die meisten Ressourcen in friedliche Zwecke zu lenken – seit Putins Überfall auf die Ukraine erleben wir wieder das Gegenteil.

Zu Recht betont Betts, dass die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten im Kalten Krieg nur mit ihrer Unterstützung der Dekolonisierung Afrikas auf der „richtigen“ Seite der Geschichte standen und dem Westen – sieht man von den zeitweiligen Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland einmal ab – hinsichtlich zivilisatorischer Errungenschaften ansonsten hoffnungslos unterlegen waren. Betts hat eine gelungene Nachkriegsgeschichte vorgelegt. Michael Brackmann

2. Weltgeschichte der Flüsse: Sprudelnde Quellen der Inspiration

Mina Guli rennt – Tausende Kilometer, Jahr für Jahr: Seit ihrem globalen Sechs-Flüsse-Lauf, der sie in 40 Marathons an 40 Tagen vom Colorado über den Amazonas, den Murray, Jangtse, Nil bis an die Themse brachte, macht die australische Anwältin auf Wasserknappheit und Umweltverschmutzung aufmerksam. Die Anekdote lässt aufhorchen, wie so viele andere Beispiele, mit denen Laurence C. Smith, preisgekrönter Professor an der renommierten Brown University in Providence und Berater der US-Regierung, die Leser für seine „Weltgeschichte der Flüsse“ begeistert.

Laurence C. Smith: Weltgeschichte der Flüsse.
Übersetzung: Jürgen Schröder.
Siedler Verlag
München 2022
448 Seiten
26 Euro

Der Untertitel bringt auf den Punkt, was der Autor mit seinem Buch zeigen will: „Wie mächtige Ströme Reiche schufen, zerstörten und unsere Zivilisation prägten“. Tatsächlich ist das Buch höchst aktuell, geht der Autor dort doch auch der machtvollen Kraft bei Überschwemmungen, Energiegewinnung und beim Klimawandel auf den Grund. Ein breites thematisches Delta tut sich auf: Smith verquickt Evolutionstheorie mit Kultur und Geschichte, Sozialisation, militärischen Auseinandersetzungen und Architektur, Landwirtschaft, Technologie, Politik und Infrastruktur.

Bisweilen geht es zeitlich und geografisch stromschnell umher. Mal begegnet dem Leser George Washington am Ohio River, mal drohen IS-Kämpfer mit Staudamm-Zerstörungen, mal führt der Weg in die Erdumlaufbahn zu Satelliten- und Radartechnik, die Daten zur Topografie und zum globalen Wasserkreislauf sammelt. Die Erlebnisreise über die Lebensadern der Welt ist erkenntnisreich, bisweilen wild – aber nie langweilig. Anne Koschik

3. Die Frauen der Rothschilds: Die unterschätzte Macht im Hintergrund

Kaum ein jüdischer Name ist berühmter als dieser: Rothschild. Von Frankfurt aus baute sich die Familie ein europaweites Bankimperium auf, erarbeitete sich über Jahrhunderte politischen und gesellschaftlichen Einfluss. Dieser Erfolg wird vor allem Dynastiegründer Mayer Amschel und seinen männlichen Nachkommen zugesprochen. Natalie Livingston, britische Historikerin und Feuilletonistin, zeigt nun anhand des englischen Familienzweigs, dass ohne die Frauen dieser Aufstieg nicht möglich gewesen wäre.

Natalie Livingstone: Die Frauen der Rothschilds.
Übersetzung: Rainer Schumacher.
Quadriga
Köln 2022
584 Seiten
26 Euro

Wenn sie nicht in der Bank halfen, kümmerten sich die Frauen im Hintergrund um den gesellschaftlichen Aufstieg. Ihre Dinners und Partys waren wichtige Treffpunkte der Rothschild-Männer und der britischen Elite. Doch so privilegiert ihr Leben war, verlangte die Familie auch Opfer.

Dynastiegründer Mayer Amschel hatte seine Frau und Töchter von der Bank ausgeschlossen. Das Geschäft erbten seine fünf Söhne – und behielten diese Tradition bei. Nicht nur finanziell abhängig, wurden Rothschild-Frauen oft mit Cousins verheiratet. Die Familie sollte eng beieinanderbleiben.

Anhand von ausgewählten Frauen aus mehr als 200 Jahren Familiengeschichte beschreibt die Autorin die Vielfalt unter ihnen – von der Philanthropin über die Zionistin bis zur Wissenschaftlerin. Vor allem zeigt sie eindrücklich, wie jede Generation die strengen Familiengrenzen immer ein bisschen weiter verschoben hat – bis auch die Heirat mit einem Christen kein Skandal mehr war. Anja Holtschneider

4. Atlas des Unsichtbaren: Weltkarten jenseits der Oberfläche

Wo kommen wir her? Wer sind wir? Wie geht es uns? Und: Wie sieht unsere Zukunft aus? Es sind diese vier Fragen, die das neue Buch von James Cheshire und Oliver Uberti strukturieren. Die beiden Autoren haben sich also nicht weniger vorgenommen, als vier der Grundfragen der Menschheit zu beantworten. Allerdings nicht in Form einer ausufernden Essay-Sammlung.

James Cheshire, Oliver Uberti: Atlas des Unsichtbaren.
Übersetzung: Marlene Fleißig.
Carl Hanser Verlag
München 2022
216 Seiten
26 Euro

Das Buch sei „eine Ode an eine Welt von Informationen, die nicht durch Wörter oder Zahlen allein vermittelt werden kann“, schreiben die Autoren. Es sind deshalb gerade nicht Textpassagen und Tabellen, die hier neue Einsichten eröffnen. Cheshires und Ubertis „Atlas des Unsichtbaren“ ist ein Atlas im Wortsinne, eine 200-seitige Sammlung von anschaulichen Karten und Grafiken. Und von erstaunlichen Einsichten.
Ein Beispiel: Es gibt noch immer kein Land der Welt, in dem Frauen nicht die größeren Bürden des Alltags schultern. Ein anderes: Die Böden der Weltmeere gehören zunehmend den Tech-Konzernen. So verbindet etwa das längste Glasfaserkabel der Welt 33 Länder auf drei Kontinenten entlang des Meeresgrunds.
Das Buch ist die Kombination zweier Leidenschaften, die sich auf wunderbare Weise ergänzen: die des Geografie-Professors, Daten- und Kartografie-Liebhabers Cheshire auf der einen Seite, die des Designers und Künstlers Uberti auf der anderen. Das Buch lässt sich genauso gut durchlesen wie durchstöbern, es erhellt, erstaunt – und lässt eine entscheidende Frage zurück: Sollten wir wirklich so weitermachen? Tobias Gürtler

5. Spektakuläre Maschinen: Das Verhältnis von Mensch und Maschine

Es war ein Mönch, der vor mehr als siebenhundert Jahren die mechanische Uhr erfand. Die Bewohner seines Klosters brauchten ein objektives Zeitmaß, um zu wissen, wann wieder die richtige Stunde zum Gebet anbrach. Tagsüber half die Sonnenuhr. Doch im Dunkeln?

Also ertüftelte der Mönch die Spindelhemmung. Die hält ein Konstrukt von Zahnrädern und Schwunggewichten in einem immer gleichen Takt für einen kurzen Moment an, um es danach wieder loszulassen.

Es ist eines der vielen Beispiele aus dem lesenswerten Buch „Spektakuläre Maschinen“ von Daniel Strassberg. Der Philosoph und Psychologe zählt darin nicht einfach die wichtigsten mechanischen Erfindungen auf, sondern untersucht ihre Wirkung auf Gesellschaft und Menschheit. So wie die der mechanischen Uhr, die sich schnell in Europa verbreitete.

Daniel Strassberg: Spektakuläre Maschinen.
Matthes & Seitz
Berlin 2022
442 Seiten
28 Euro

Andere Maschinen folgten, mit denen sich der Konflikt zwischen Kirche und Wissenschaft zuspitzte: Wer herrscht über die Welt, Gott oder die Materie? – Wer glaubt, das sei allein eine Sache der Renaissance, der denke nur an die heutige Diskussion über die Superintelligenz von neuronalen Netzen.

Strassberg gelingen viele philosophische Einsichten zum Verhältnis von Mensch und Maschine. Etwa, dass wir uns ihnen anpassen und nicht unbedingt umgekehrt.

Das Buch muss man nicht in einem Zug durchlesen. Der Autor verhakt sich zwar manchmal in abstrakten Begriffen und Kategorien. Doch es gibt viele Erstaunliches und Kluges zu entdecken. Thomas Jahn

6. Der Prinz auf der Erbse: Aschenpeterl und Dornrösling

„Es war einmal…“ Mit diesen drei Worten beginnen gewöhnlich Märchen. Das lernen unsere Kinder schon – oder noch immer – in der Grundschule. Diese Formel ist in dem „umgekrempelten“ Märchenbuch von Karrie Fransmann und Jonathan Plackett gleich geblieben. Denn sie ist neutral. Die Geschlechter der Märchen haben die Illustratorin und der Autor aber getauscht.

Sie haben aus dem Prinzen die Prinzessin gemacht, aus dem Kaufmann die Kauffrau, aus Aschenbrödel Aschenpeterl und aus Dörnröschen Dornrösling. Und damit nicht genug. Sie haben Reihenfolgen verändert. So wurden aus „Hänsel und Gretel“ „Gretel und Hänsel“ und aus „Brüder und Schwestern“ „Schwestern und Brüder“. Herausgekommen ist ein Buch mit dem programmatischen Titel „Der Prinz auf der Erbse“.

Jonathan Plackett, Karrie Fransman: Der Prinz auf der Erbse.
Übersetzung: Sophie Zeitz-Ventura.
Kein & Aber
Zürich 2022
280 Seiten
28 Euro

Das Buch zeigt auf einfache wie sehr unterhaltsame Weise, welche Geschlechterrollen in den Märchen transportiert werden, und sensibilisiert damit auch für Stereotypen in anderen Medien und Kontexten. Die beiden Briten geben den Frauen die Macht und den Männern die Schutzbedürftigkeit. Dabei sparen die Autoren auch Grenzfälle nicht aus und lösen die Fragen: Kann ein Mann Kinder kriegen oder ein Hahn Eier legen? Das „umgekrempelte“ Märchenbuch ist eine empfehlenswerte Sommerlektüre – zum Schmunzeln und Nachsinnen.

Das knapp 200 Seiten umfassende, bunt illustrierte Buch eignet sich auch gut als Geschenk – nicht nur für die letzten Machos und verzweifelte Feministinnen. Tanja Kewes

7. Zwölf Cäsaren: Im Sinne des Machttransfers

Die zwölf Cäsaren von Julius Cäsar über Caligula und Nero bis hin zu Domitian herrschten zwischen 48 vor Christus und 96 nach Christus – und sind dennoch bis auf den heutigen Tag präsent: in Büsten und Bildern, als Tintenfässer, Kerzenständer und Comic-Figuren. Wie erklärt sich diese Allgegenwart des Vergangenen, was hat es damit auf sich? Wer Antworten sucht, findet sie in dem neuen Buch „Zwölf Cäsaren“ der Bestsellerautorin und Alt-Historikerin Mary Beard.

Mary Beard: Zwölf Cäsaren.
Übersetzung: Ulrike Bischoff.
Propyläen
Berlin 2022
528 Seiten
36 Euro

Die Cambridge-Gelehrte unternimmt einen reich bebilderten Streifzug durch die Kunstgeschichte und zeigt: Das gesamte Genre europäischer Porträtkunst wurzelt in den Münz-Miniaturköpfen römischer Herrscher sowie ihren Büsten und Statuen. Viele vermeintliche Originale sind in Wirklichkeit Repliken, die Adelige oder reiche Bürgerliche auf der Jagd nach antiken Porträts für ihre Herrenhäuser zu Mondpreisen erwarben. Und bei angeblichen Cäsaren-Büsten handelt es sich tatsächlich nicht selten um Porträts gewöhnlicher Römer.

Meist wollten die Käufer im Sinne eines „Machttransfers“ ihre eigene Bedeutung erhöhen. Seit dem 19. Jahrhundert reflektierten Cäsaren-Gemälde aber auch Gewalt und Korruption des Römischen Reiches. Sie stellen zweifelhafte Rollenvorbilder infrage – und sind damit Vorläufer der aktuellen Debatte über den Sinn oder Unsinn von Kolonialismus-Denkmälern. Beard gelingt es, den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart zu spannen. Michael Brackmann

8. Der Wolf des Wassers

Der Hecht gilt als eher seelenlos, im Allgemeinen rührt er den Menschen nicht sonderlich an. Wenn er überhaupt in Erscheinung tritt, dann zum Beispiel als Trophäe Wladimir Putins, der mit ihm als Beute posiert und damit Stärke demonstrieren will. Schließlich handelt es sich dabei um den größten und gefährlichsten Raubfisch unserer Zeit. Umso eigenartiger mag es erscheinen, gleich ein ganzes Buch über diesen nicht sonderlich schönen Fisch zu schreiben.

Andreas Möller, Kommunikationschef des Maschinenbauers Trumpf und Angler von klein auf, ist es gelungen, ein einfühlsames, lehrreiches Porträt des Hechts zu schreiben. Es ist sein viertes Buch zum Verhältnis von Mensch und Natur. Erschienen ist „Hechte“ in der Reihe „Naturkunden“, die die Erfolgsautorin Judith Schalansky („Der Hals der Giraffe“) herausgibt.

Andreas Möller: Hechte. Ein Portrait.
Matthes & Seitz
Berlin 2022
159 Seiten
20 Euro

Doch das Buch ist mehr als eine Liebeserklärung an einen Fisch, der „als Räuber gefürchtet, als Speisefisch verschmäht, als Trophäe zu Tode fotografiert“ ist, wie Möller schreibt. Es ist auch eine Mahnung an den Menschen, sorgsamer mit der Natur umzugehen. So beschäftigt sich Möller etwa mit der Frage, warum es eigentlich keine Hechte mehr in städtischen Restaurants gibt, berichtet über den Zustand der Berufsfischerei und fragt sich, warum einzelne Arten geschützt werden und damit wiederum anderen Arten das Leben schwer gemacht wird.

Ein äußerst liebevoll geschriebenes, keineswegs alltägliches Buch. Nicht nur Angelfreunde werden gern in die Welt des Wolfs des Wassers eintauchen. Claudia Panster

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