Die Richterin, die sich Netanjahu in den Weg stellt

Tel Aviv Kaum hatte der Justizminister des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die Reformen vorgestellt, mit denen er das Justizsystem umkrempeln will, ging Esther Hajut, Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, zum Angriff über. „Herr Minister, das ist nicht der richtige Weg!“, sagte sie in einer Rede vor einem Verband von Juristen für Öffentliches Recht.

Der Plan, warf sie ihm vor, sei nicht darauf angelegt, die Justiz zu reparieren, sondern sie zu zerschlagen. Würde die Reform umgesetzt, wäre das „ein tödlicher Schlag“ für die Unabhängigkeit der Richter im Land. Der Sinn dieses „schändlichen Plans“ sei es, „die demokratische Identität Israels zu verändern“ und es „unkenntlich“ zu machen.

Hajut sei überzeugt, den Staat retten zu müssen, sagt einer ihrer Berufskollegen. Doch dafür bleibt ihr nicht mehr viel Zeit: Im Oktober, an ihrem 70. Geburtstag, geht sie in Rente. Vor ihrem Ruhestand steht sie vor der wohl schwierigsten Entscheidung ihrer Laufbahn. Sie muss klären, ob das bereits im März vom israelischen Parlament verabschiedete kontroverse Amtsenthebungsgesetz rechtens ist.

Dem Gesetz nach könnte ein Ministerpräsident nur aufgrund psychischer oder gesundheitlicher Gründe für amtsunfähig erklärt werden. Für Hajut ist klar: Es handle sich um ein persönliches Gesetz, zugeschnitten auf Netanjahu.

Der israelische Premier ist wegen Betrug und Bestechlichkeit angeklagt. Das Gesetz sei nicht akzeptabel, weil es „sehr deutlich die Fingerabdrücke“ eines Vorhabens offenbare, Netanjahu vor einer Amtsenthebung zu schützen, kritisiert Hajut.

Proteste gegen die Justizreform

Die Pläne der israelischen Regierung spalten die Gesellschaft im Land.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Elf der 15 Richter des Obersten Gerichts sollen an dem Entscheid über das Gesetz mitarbeiten. Sie strebe ein möglichst deutliches Resultat an, weil sie hoffe, dass dann die Akzeptanz in der Bevölkerung höher ausfallen werde, sagt ein Richter, der früher mit Hajut zusammengearbeitet hat.

Hajut hat lange Erfahrung am Obersten Gerichtshof

Ihre Biografie habe sie zu einer zähen Person gemacht, sagt eine Richterkollegin. Hajut wurde in einem kleinen und verarmten Viertel in der Küstenstadt Herzlia nördlich von Tel Aviv geboren. Der Vater, ein Auschwitz-Überlebender, verließ die Familie, als Hajut noch klein war. Ihre Mutter, ebenfalls eine Holocaust-Überlebende, musste deshalb zusammen mit den Großeltern für die Familie sorgen.

Nach ihrer verpflichtenden Dienstzeit beim Militär, in der sie Bekanntheit in der Musikeinheit erlangte, entschied sich die heute 69-Jährige für eine Karriere als Juristin. 1990 wurde sie zur Richterin ernannt, 2003 in den Obersten Gerichtshof berufen und vor sechs Jahren als dessen Präsidentin vereidigt.

Benjamin Netanjahu

Der israelische Premier will die Macht des Obersten Gerichts beschränken.

(Foto: dpa)

Nun sieht sich die erfahrene Richterin mit Netanjahus Anwalt konfrontiert. Er argumentiert, dass das Amtsenthebungsgesetz rechtmäßig beschlossen worden sei und deswegen vom Gericht nicht gekippt werden dürfe.

>> Lesen Sie hier: Eine Cern-Forscherin kämpft gegen Netanjahus Justizreform

Er bestreitet zudem, dass es speziell zugunsten Netanjahus entworfen worden sei. Das Gesetz solle vielmehr sicherstellen, dass Beamte einen gewählten Premierminister nicht entmachten können. Und genau dieses Prinzip, so Netanjahus Anwalt, wolle Hajut unterlaufen.

Ein weiteres Gesetz, das Hajut beschäftigt, ist eine Ende Juli von der Knesset verabschiedete Novelle, mit der die sogenannte Angemessenheitsklausel abgeschafft wurde. Die Klausel hatte vorgesehen, dass der Oberste Gerichtshof Entscheide der Regierung und des Parlamentes annullieren kann, wenn er diese als „nicht angemessen“ betrachtet. Die Novellierung ist ein Kernelement der Justizreform Netanjahus und schränkt die Handlungsmöglichkeiten des Gerichts erheblich ein.

Petitionen gegen Kernelement der Justizreform

Der Staat Israel hat keine schriftliche Verfassung und fußt stattdessen auf einer Sammlung von Grundgesetzen, die immer wieder vom Obersten Gericht interpretiert werden müssen. Daher kommt der Institution eine besondere Bedeutung bei der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zu.

>> Lesen Sie hier: Netanjahu sitzt in der Falle der Radikalen – ein Kommentar

Das Gericht hat in der Vergangenheit mehrfach von der Angemessenheitsklausel Gebrauch gemacht, zum Beispiel als es Kollektivstrafen gegen palästinensische Dörfer untersagte oder das Verbot arabischer Parteien in der Knesset aufhob. Die größte Entscheidung des Gerichts in jüngster Zeit war wohl ein einstimmiger Beschluss vor drei Jahren. Damals verfügten die Richter, dass Netanjahu eine neue Regierung bilden kann, obwohl gegen ihn Anklage erhoben wurde.

Nach der Aufhebung der Angemessenheitsklausel wurden beim Obersten Gerichtshof mehrere Petitionen eingereicht. Der Fall landete bei Hajut.

Ihr Entscheid wird zur Probe für Netanjahus Verständnis des Rechtsstaates. Bisher hat er es in Interviews mit mehreren US-Fernsehsendern offengelassen, ob er den Entscheid der Richter akzeptieren werde. Mehrere Minister seiner rechts-religiösen Koalition haben bereits öffentlich gesagt, dass sie den Beschluss der Obersten Richterin nicht respektieren würden.

Sollte Netanjahu das höchstrichterliche Urteil nicht beachten, würde das zu einer Verfassungskrise führen. Und es wäre ein erneutes Alarmzeichen für die Zukunft der Demokratie in Israel.

Mehr: Die israelische Tech-Branche fürchtet wegen der Justizreform ihren Untergang

source site-13