„Die Gefahr einer längeren Stagnation im Euro-Raum wächst“

Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding

„Insgesamt dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass die EZB ihre Zinsen nochmals erhöht, bei etwas über 50 Prozent liegen.“

(Foto: Berenberg)

Die EZB hat die neunte Zinserhöhung in Folge vollzogen. Ob im September ein weiterer Schritt folgt, ist offen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hält sich die Option offen. Tags zuvor hat bereits die US-Notenbank Fed ähnlich agiert. Auch sie hat den Zins um 25 Basispunkte erhöht, allerdings ist die Fed in ihrem Zinserhöhungszyklus bereits wesentlich weiter.

Berenberg-Cheefvolkswirt Holger Schmieding spricht im Interview über die Gemeinsamkeiten in der Geldpolitik, die konjunkturellen Aussichten und die Reaktion an den Kapitalmärkten.

Herr Schmieding, wie bewerten Sie die Entscheidungen der EZB?
Nachdem sie den neuen Zinsschritt klar vorangekündigt hatte, war er wohl unvermeidlich. Glücklicherweise hat sich die EZB nicht darauf festgelegt, im September noch einmal nachzulegen.

Ist damit der Zinsgipfel erreicht?
Insgesamt dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass die EZB ihre Zinsen nochmals erhöht, bei etwas über 50 Prozent liegen. Einerseits wird die EZB im September ihre Wachstumsprognosen deutlich zurücknehmen müssen. Die schwächere Konjunktur gibt den Tauben, den Verfechtern einer lockeren Geldpolitik im EZB-Rat, ein gutes Argument gegen höhere Zinsen. Andererseits könnte die lebhafte Sommer-Reisesaison dafür sorgen, dass die Inflation im Dienstleistungssektor und damit die sogenannte Kerninflation ohne Energie und Nahrungsmittel noch einige Monate hoch bleibt. Das würde die Position der Falken, also der Verfechter einer straffen Geldpolitik, stützen. Sollte die Kerninflation im Juli und August weiter zurückgehen, könnte die EZB auf eine Zinserhöhung im September verzichten.

Die Märkte haben euphorisch reagiert. Ist das aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
Ja, die Reaktion der Märkte ist weitgehend gerechtfertigt. Die Falken im EZB-Rat haben sich diesmal nicht voll durchgesetzt. Aber noch wichtiger sind die Zahlen aus den USA zur Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal, die auf eine sanfte Landung der US-Konjunktur hindeuten, also eine Reduktion der Inflation, ohne eine Rezession zu verursachen.

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Reichen die Zinserhöhungen der EZB aus, um die Inflation im Euro-Raum auf zwei Prozent zu drücken?
Der schwache Ausblick für die Euro-Konjunktur bis zum Frühjahr 2024 und die straffere Geldpolitik reichen aus, um die Inflation im Laufe des Jahres 2024 auf deutlich unter drei Prozent zu drücken, vermutlich sogar auf etwas unter 2,5 Prozent. Ob die EZB angesichts eines strukturellen Mangels an Arbeitskräften dabei bis 2025 glatte zwei Prozent erreichen kann, ist aber fraglich. Immerhin zeichnet sich bereits jetzt ab, dass der Lohndruck in der Euro-Zone nach einem Buckel im Jahr 2023 im kommenden Jahr wieder abnehmen wird.

Einige fürchten, dass es die EZB mit ihren Zinserhöhungen übertreibt und eine schwere Rezession verursacht. Zu Recht?
Eine schwere Rezession zeichnet sich bisher nicht ab. Aber mit jedem weiteren Zinsschritt wächst die Gefahr, dass die Wirtschaft der Euro-Zone in eine längere Stagnation fallen könnte. Die Geldpolitik wirkt zeitlich verzögert. Nachdem die EZB zunächst zu spät auf zunehmende Inflationsgefahren reagiert hatte, sollte sie jetzt darauf achten, nicht den Folgefehler zu begehen und ihre Geldpolitik zu sehr und zu lange zu straffen.
Auch die Fed hat diese Woche über die Zinspolitik entschieden. Wie bewerten Sie die Beschlüsse dort?
Die US-Notenbank hat es richtig gemacht. Auch sie hat die Zinsen noch einmal erhöht, aber den weiteren Ausblick offengelassen. Die Chancen steigen, dass der Fed eine sanfte Landung gelingen wird. Obwohl die Konjunktur wie gewünscht etwas an Schwung verloren hat, steht die US-Wirtschaft dank einer weiterhin lebhaften Nachfrage nach Dienstleistungen und eines noch immer recht robusten Arbeitsmarktes nicht am Rande einer spürbaren Rezession. Gleichzeitig geht der Inflationsdruck langsam zurück. Ein weiterer Zinsschritt im September ist zwar möglich, aber wahrscheinlich nicht mehr notwendig. Die geldpolitischen Weichen sind in den USA insgesamt bereits jetzt richtig gestellt.

Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen den USA und der Euro-Zone?
Die Gefahr, dass die Notenbank ihre Zinsen zu stark erhöht, ist in der Euro-Zone ausgeprägter als in den USA. In den USA muss die Fed eine hausgemachte Inflation bekämpfen, zu der eine übermäßig expansive Fiskalpolitik entscheidend beigetragen hat. Die Inflation in der Euro-Zone ist dagegen überwiegend die direkte und indirekte Folge des Putin-Schocks, also des explosionsartigen Anstiegs der Energie- und Nahrungsmittelpreise im vergangenen Jahr. Anders als die durch eine übermäßige Nachfrage getriebene US-Inflation geht die weitgehend durch einen negativen Angebotsschock ausgelöste Euro-Inflation von sich aus zurück, ohne dass die Notenbank so energisch auf die geldpolitische Bremse treten muss, wie es einige Falken im EZB-Rat gefordert haben. Zugleich trifft die weltweit schwache Nachfrage nach Gütern die industrie- und ausfuhrabhängige Euro-Zone härter als die USA. Auch deshalb könnte eine noch straffere Geldpolitik die Konjunktur stärker belasten als in den USA.

Herr Schmieding, vielen Dank für das Gespräch.

Mehr: Verfolgen Sie hier nachträglich die Pressekonferenz mit Christine Lagarde im Newsblog

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