„Die EU-Staaten müssen wieder auf ein solides wirtschaftliches Fundament stehen“

Berlin Als Sanna Marin im Dezember 2019 ihr Amt antrat, war sie die jüngste Premierministerin der Welt. Aber jugendlich-lax regiert sie nicht. In Helsinki muss sie eine Fünf-Parteien-Koalition steuern, in der EU verlangt sie Haushaltsdisziplin und die Einhaltung der Bürgerrechte.

„Wir müssen eine strikte Haltung einnehmen, wenn die gemeinsamen Werte der EU herausgefordert werden“, argumentiert Marin mit Blick auf Polen. Eine Lösung werde Zeit brauchen, sagte die Sozialdemokratin im Interview mit dem Handelsblatt in Berlin, wo sie sich nacheinander mit Olaf Scholz und Angela Merkel traf.

Eine weitere Vergemeinschaftung von Schulden lehne Finnland ab, so Marin: „Wir wollen, dass alle Mitgliedstaaten auf wirtschaftlich solidem Grund stehen“, sagte sie. „Und wir werden bei der Frage der Verschuldung hart bleiben.“ Zudem dürften die Maastricht-Verträge zur Stabilisierung der Währungsunion nicht angetastet werden. „Das würde ein Tor öffnen für viele sehr schwierige Diskussionen.“

Einer Reform der Stabilitätsvorgaben an sich steht die Finnin jedoch offen gegenüber. „Die Situation heute ist in vielen Mitgliedstaaten weit von 60 Prozent Verschuldungsgrenze und maximal drei Prozent Haushaltsdefizit entfernt, und wir müssen investieren, um wettbewerbsfähig zu sein.“ Es gehe darum, „eine neue Balance zu finden, ohne die Verträge anzutasten“.

Top-Jobs des Tages

Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Frau Premierministerin, vor zehn Monaten hat Großbritannien die EU endgültig verlassen. Schon macht das Wort des Polexit die Runde. Was hält die Europäische Union noch zusammen?
Das Wichtigste ist gegenseitiger Respekt. Wir Mitgliedstaaten müssen uns, unsere Unterschiede und unsere unterschiedlichen Meinungen zur europäischen Politik respektieren. Aber gleichzeitig müssen wir den gleichen grundlegenden Werten, auch den Grundwerten der EU, verpflichtet sein.

Stehen alle Mitgliedstaaten wirklich hinter den gleichen Werten, wenn wir uns die Diskussion mit Polen derzeit anschauen?
Ich möchte glauben, dass es so ist. Wir müssen eine strikte Haltung einnehmen, wenn die gemeinsamen Werte der EU herausgefordert werden. Rechtsstaatlichkeit ist für Finnland sehr wichtig. Als wir die EU-Ratspräsidentschaft 2019 innehatten, haben wir uns dafür eingesetzt, dass Rechtsstaatlichkeit und Budgetfragen aneinander gekoppelt werden. Bei Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte oder die Grundwerte müssen wir eine harte Haltung einnehmen. Gleichzeitig aber müssen wir einen funktionierenden Dialog aufrechterhalten und versuchen zu verstehen, warum einige Länder so agieren, wie sie es tun. Ich glaube an Dialog und Diskussion – mit Polen, aber auch mit Ungarn.

Also ist ein Polexit keine Option in Ihren Augen?
Meiner Ansicht nach wäre es nicht weise zu versuchen, die Europäische Union zu spalten. Ich glaube, es ist immer besser zu diskutieren, sich an einen Tisch zu setzen. Länder wegzustoßen ist keine Lösung für irgendetwas.

Aber wie umgehen mit einem polnischen Premier, der verkündet, die EU habe Polen den „Dritten Weltkrieg“ erklärt, weshalb er nun doch den Klimapakt der EU blockieren wolle?
Wir müssen die EU-Kommission, die beim Punkt Rechtsstaatlichkeit gerade eine Lösung mit Polen sucht, bei ihrer Arbeit unterstützen. Und wir müssen geduldig sein. Lösungen für solch schwierige Situationen brauchen Zeit und Dialog. Ich hoffe, wir finden eine Lösung in dieser Sache. Wir brauchen Polen an Bord – beim Klimapakt „Fit for 55“, mit dem wir die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent senken wollen, ebenso wie beim Weg zur Klimaneutralität der EU bis 2050. Die Gesetze, die für diese Klimaschritte nötig sind, werden zu harten Verhandlungen führen. So viel steht fest. Aber darauf sind wir vorbereitet.

Inwiefern?
Finnland will zeigen, dass es möglich ist, die Gesellschaft klimatisch nachhaltig zu verändern und gleichzeitig Arbeitsplätze zu schaffen sowie eine prosperierende Wirtschaft zu haben. Wir wollen bis 2035 klimaneutral werden. Wir alle haben keine Wahl. Wir müssen die Transformation in unseren Gesellschaften und unserer Wirtschaft schaffen. Wir müssen unsere Wirtschaften neu denken – wegen des Klimawandels, aber auch wegen des Rückgangs an Biodiversität.

Macht Europa genug im Kampf gegen den Klimawandel?
Europa macht zum Glück inzwischen viel. Aber ist das genug? Nein. Wir müssen alle gesteckten Ziele erreichen und immer wieder überprüfen, ob wir sie erreichen. Wenn nicht, müssen wir das Tempo beschleunigen. Das Wichtigste ist, fossile Brennstoffe zu verbannen und unsere Wirtschaft sauberer und digitaler zu machen. Dazu müssen wir den EU-Wiederaufbaufonds stark nutzen.

Die Bevölkerung klagt über die hohen Energiepreise. Wie wollen Sie Menschen und Industrie davor schützen?
Wir sind ja in dieser misslichen Lage, weil wir unsere Energiesysteme nicht viel eher umgebaut haben. Die Preise für fossile Brennstoffe steigen. Wenn wir eher und entschlossener in erneuerbare Energien investiert hätten, wäre die Lage heute anders. Die Lösung liegt also darin, jetzt noch stärker in grüne Energie zu investieren. Das ist die Lösung, und ich bin froh, dass wir diesen Weg jetzt gehen.

„Wir werden bei der Frage der Verschuldung hart bleiben“

Angela Merkel sagte auf ihrem letzten EU-Gipfel, die 27 EU-Mitgliedstaaten müssten sich entscheiden, ob sie künftig immer weiter zusammenwachsen wollten in Form einer „ever closer union“ oder ein Bund einzelner Nationalstaaten bleiben wollten. Was ist Ihre Vision der EU in zehn Jahren?
Ich hoffe, dass die EU und Europa insgesamt dann viel stärker ist als heute. Die Diskussion über Europas strategische Autonomie finde ich sehr wichtig. Der europäische Binnenmarkt ist eine riesige Wirtschaft, Europa damit ein wichtiger globaler Spieler. Aber wir hinken hinterher – bei Innovationen und neuen Technologien, bei Investitionen in Forschung und Entwicklung. Da müssen wir das Wissen und die Fähigkeiten in Europa wieder stärken. Ich hoffe, dass wir auch weniger abhängig werden von anderen Teilen der Welt. Das darf aber nicht heißen, dass wir keine offene Wirtschaft mehr sind. Wir wollen weiter mit anderen Ländern zusammenarbeiten, unsere Waren austauschen.

Mit welchen Schritten kommen wir dahin? Brauchen wir dafür noch mehr gemeinsame EU-Projekte wie das Förderprogramm für eine europäische Cloud Gaia-X oder das europäische Batterieförderprogramm?
Zum Teil ist es Arbeit, die wir als EU gemeinsam tun können. Aber entscheidend ist das, was wir als Mitgliedstaaten leisten. Finnland etwa hat das Ziel, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf vier Prozent der Wirtschaftsleistung zu steigern bis 2030, von 2,9 Prozent 2020. Das ist für unsere eigene Wettbewerbsfähigkeit zentral. Ohne solche Weichenstellungen heute werden wir in zehn Jahren nicht mehr wettbewerbsfähig sein.

Grafik

Bedeutet eine stärkere Europäische Union in Ihrer Vision auch eine Fiskalunion?
Ich glaube, im kommenden Jahr und vermutlich noch über längere Zeit werden wir enorm wichtige Diskussionen haben über die Regeln für unsere Wirtschaften in der EU. Finnland unterstützt weder die Auflösung der Verträge noch eine größere Gemeinschaftsverantwortung.

Wie stehen Sie zu den Forderungen vor allem aus dem Süden Europas, die Euro-Stabilitätskriterien aufzuweichen?
Finnland ist strikt: Wir wollen, dass alle Mitgliedstaaten auf wirtschaftlich solidem Grund stehen. Und wir werden bei der Frage der Verschuldung hart bleiben. Aber wir müssen auch diskutieren, wie wir Investitionen gewährleisten können, die heute und in Zukunft nötig sind, um unsere Gesellschaften klimaneutral, digitaler und technologisch innovativer zu machen. Da müssen wir eine Balance finden.

Heißt das, Finnland ist für eine Reform der Maastricht-Kriterien?
Wir sind dagegen, die Maastricht-Verträge anzutasten. Das würde ein Tor öffnen für viele sehr schwierige Diskussionen. Aber wir müssen pragmatisch sein. Die Situation heute ist in vielen Mitgliedstaaten weit von 60 Prozent Verschuldungsgrenze und maximal drei Prozent Haushaltsdefizit entfernt. Und wir müssen investieren, um wettbewerbsfähig zu sein. Es geht darum, eine neue Balance zu finden, ohne die Verträge anzutasten.

Aus dem Stabilitätsfonds ESM gibt es den Vorschlag, die Verschuldungsgrenze von 60 auf 100 Prozent anzuheben und die Defizitgrenze von drei Prozent in normalen Zeiten beizubehalten. Was halten Sie davon?
Wir warten die Vorschläge der EU-Kommission zur Reform der Finanzregeln ab. Dann wird Finnland seine Haltung einnehmen. Vorher werde ich nicht spekulieren.

Mit dem Wiederaufbaufonds der EU wurde in der Pandemie ein Präzedenzfall gemeinsamer Schulden geschaffen. Es gibt bereits Stimmen, die dieses Modell auch darüber hinaus vorschlagen.
Das ist für Finnland ein absolutes No-Go. Wir würden kein zweites Wiederaufbau-Instrument akzeptieren. Das war einmalig wegen der Pandemie. Der Verfassungsausschuss des finnischen Parlaments würde niemals eine Wiederauflage akzeptieren – und wir brauchen für solche Entscheidungen eine Zweidrittelmehrheit im ganzen Parlament.

Der Wiederaufbaufonds wird als Erfolg der EU in der Pandemie bewertet. Zugleich zeigt er, wie träge die EU ist. Noch immer ist kein Geld ausgegeben. Jetzt müssen die Mitgliedstaaten in den nächsten drei Jahren die 750 Milliarden Euro plus die normalen EU-Mittel ausgeben. Der Rechnungshof warnt schon vor Korruption und wenig zielführenden Ausgaben…
Wir müssen sicherstellen, dass das Geld in die richtigen Bereiche fließt und gut ausgegeben wird. Dafür gibt es ja klare Bedingungen. Für mich ist das eine wirkliche Chance für Europa, unsere Wirtschaft nachhaltiger, grüner und digitaler umzubauen. Wir müssen dieses Instrument zur Reform unserer Volkswirtschaften nutzen. Mehr beunruhigen mich Stimmen in einigen EU-Ländern, die bereits einen nächsten Wiederaufbaufonds herbeisehnen. Und das obwohl wir in der Tat die Mittel dieses Fonds noch gar nicht eingesetzt haben. Einen zweiten Wiederaufbaufonds wird es mit Finnland nicht geben.

„Die USA sind eine sehr protektionistische Nation“

Sie haben eine stärkere europäische Autonomie angesprochen. Wie soll die EU künftig mit autoritären Staaten wie Russland und China umgehen?
Die Idee strategischer Autonomie ist für mich nicht mit einem Decoupling – einer Entflechtung – verbunden. Vielmehr soll die EU gestärkt werden. Wir müssen sicherstellen, dass all unsere Länder wettbewerbsfähig sind. Durch die nötigen Transformationen, durch die Stärkung unserer Bildungssysteme, mehr Forschungsinvestitionen. Wir wollen kein Decoupling, wir wollen uns nicht abschotten. Aber wir wollen mit China und den USA auf gleicher Augenhöhe sprechen.

Wie soll es dann Ihrer Meinung nach weitergehen mit dem EU-China-Investitionsabkommen, das von Merkel, Macron und Xi unterzeichnet wurde und jetzt auf Eis liegt?
Die Situation mit diesem Abkommen ist wirklich verzwickt. Wir müssen da sehr strikt bleiben in Sachen Menschenrechtsverletzungen. Menschenrechte gehören zum Kern europäischer Werte und auch der finnischen Außenpolitik. Wir müssen mit China über solche kritischen Fragen reden. Und gleichzeitig müssen wir Punkte finden, bei denen wir besser zusammenarbeiten können: Wir brauchen China zum Beispiel im Kampf gegen den Klimawandel.

Das klingt, als seien Sie dagegen, das Investitionsabkommen weiterzutreiben, denn eine Lösung in der Uiguren-Frage ist ja nicht abzusehen…
Da brauchen wir in der Tat zunächst Lösungen.

Fürchten Sie, dass Europa zwischen die Blöcke China und USA gerät und die EU sich entscheiden muss, wer ihr Partner ist und wer nicht?
Ich denke, das Wichtigste für Europa ist Dialog und Kooperation sowohl mit China wie auch mit den USA. Ich bin sehr glücklich, dass Präsident Biden die US-Politik geändert hat zurück in Richtung Staatenkooperation sowie einer Stärkung der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation WHO geht. Aber in einigen Fragen hat sich die US-Politik nicht geändert, etwa was die Abschottung der eigenen Wirtschaft und Industrie angeht. Die USA sind weiter eine sehr protektionistische Nation. Wir teilen mit den USA die Werte und sind enge Partner, aber wir müssen im Umgang mit Washington sehr pragmatisch sein und vor allem unsere Wirtschaft und Industrien stärken.

Grafik

Finnland ist eines der am wenigsten verschuldeten Länder der EU, einer der Spitzenreiter in Sachen Digitalisierung. Was kann Deutschland von Finnland lernen?
Wir können gegenseitig voneinander lernen. Finnland ist wie Deutschland sehr exportabhängig, wir müssen für unsere Bevölkerung die beste Bildung ermöglichen. Wir haben mehr als Deutschland in den Ausbau unserer digitalen Infrastruktur investiert, da muss Deutschland deutlich mehr tun.

Finnland gilt auch als Vorbild im Kampf gegen Corona. Was erwarten Sie: Wird der kommende Coronawinter trotz Impfungen wieder so schlimm wie der vorherige?
Das Wichtigste ist, dass wir unsere Bevölkerung impfen und alle Menschen auf der Welt. Auch die ärmeren Staaten der Welt müssen genug Impfstoff bekommen, sonst werden wir Corona nie los. Dann kann sich das Virus weiter ausbreiten und mutieren, sodass die bisherigen Impfstoffe vielleicht nicht mehr dagegen wirken. Es gibt noch viele EU-Mitgliedstaaten, in denen die Zahl der Geimpften noch zu niedrig ist und der Widerstand der Bevölkerung gegen das Impfen zu hoch. Wir müssen die Impfraten schnell deutlich steigern.

Sie denken vor allem an die Lage in Ost- und Südosteuropa?
In Osteuropa, im Baltikum, aber auch in einigen Teilen Deutschlands. Das macht mir große Sorgen. Wir müssen noch mehr aufklären über den Sinn der Impfungen.

Frau Ministerpräsidentin, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Damit 750 Milliarden Euro nicht versickern: EU-Rechnungshofchef warnt vor Verschwendung der Corona-Hilfen​​​​​​​

.
source site