Die dunkle Seite der KI: Killerroboter werden Wirklichkeit

Ankara, Düsseldorf Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit spielte sich im Mai 2020 eine historische Schlacht an der libyschen Mittelmeerküste ab. Truppen der Übergangsregierung griffen die Libysche Nationale Armee (LNA) an, um Ölterminals zu erobern.

Es war ein Stellvertreterkrieg. Die LNA wurde von Russland unterstützt, die Regierungstruppen von der Türkei. Dabei waren viele Hightech-Waffen im Einsatz: Fregatten, spezielle Abwehrraketen und Artillerie mit Präzisionsmunition, die Panzer zerstören kann.

Die LNA verlor die Schlacht. Die Soldaten flohen, ihnen stand ein grausiges Schicksal bevor. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen wurden sie „gejagt und aus der Ferne gestellt“ – mit Waffensystemen wie der Drohne Kargu-2, hergestellt vom türkischen Rüstungsunternehmen STM. „Die tödlichen autonomen Waffensysteme waren darauf programmiert, Ziele ohne Datenverbindung zwischen dem Bedienenden und dem Kriegsgerät anzugreifen“, heißt es in dem 2021 veröffentlichten Report.

Die Soldaten sind wohl die ersten Kriegsopfer KI-gelenkter autonomer Waffen. „Das ist ein Einschnitt in der Militärgeschichte“, sagt Toby Walsh, Professor für Künstliche Intelligenz (KI) an der UNSW Sydney. Er spricht von einer „dritten Revolution der Kriegsführung“ – chemischen und nuklearen Waffen ebenbürtig.

Top-Jobs des Tages

Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.

Rüstungsunternehmen nutzten die Fortschritte bei Objekterkennung und maschinellem Lernen, um mit einer Kombination aus immer leistungsfähigerer Software und unbemannten Luftfahrzeugen, U-Booten oder Panzern, Killerroboter zu kreieren. „Die Software für ein selbstfahrendes Auto ist fundamental nicht viel anders“, sagt Walsh. „Nie war es einfacher, eine autonome Waffe zu bauen.“

Elon Musk und das Rote Kreuz warnen

Eine Horrorvorstellung: Maschinen bestimmen über Tod und Leben, KI entscheidet über Krieg oder Frieden. Aktivisten und Experten warnen vor ungewollten Opfern und unkontrollierbaren Eskalationen, auch Terroristen könnten autonome Waffen für Anschläge nutzen.

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes fordert rechtsverbindliche Regeln für autonome Waffensysteme, um „ausreichende menschliche Kontrolle und Urteilsvermögen“ zu gewährleisten. Schon vor drei Jahren unterzeichneten 2400 führende KI-Wissenschaftler einen Aufruf gegen autonome Waffen, darunter Demis Hassabis von Google Deep Mind oder Elon Musk, Tesla-Chef und SpaceX-Gründer.

Doch ohne Erfolg: Eine entsprechende Resolution vor den Vereinten Nationen scheiterte vor wenigen Wochen. Einige Länder treiben die Entwicklung autonomer Drohnen mit ganzer Kraft voran. Die Türkei sei eines der drei führenden Länder bei der Produktion von bewaffneten, unbemannten Luftfahrzeugen („fighting UAVs“), verkündete Staatschef Recep Tayyip Erdogan in einer Rede vor wenigen Monaten. „Aufgrund dieser Errungenschaften können wir mühelos Anti-Terror-Operationen innerhalb unserer Grenzen sowie grenzüberschreitende Friedensoperationen durchführen.“

Der erste KI-Krieg hat bereits stattgefunden

KI spielt in der Rüstungsindustrie eine bedeutende Rolle. Intelligente Software verarbeitet Daten schneller, erkennt Muster und reagiert präziser. Die deutsche Rüstungsfirma Hensoldt setzt KI in ihren Radarwarnsensoren ein. Damit können Piloten erkennen, ob und von welchen Radarsystemen ihr Flugzeug erfasst wurde. „KI wird dann für uns wichtig, wenn viele Signale schnell auszuwerten sind“, sagt Joachim Schranzhofer, Sprecher des Münchener Rüstungsunternehmens.

Israel setzte im „ersten KI-Krieg der Geschichte“ die Technologie im vergangenen Frühjahr ein, als sich die israelische Armee im Gazastreifen elf Tage lang mit der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas bekriegte. Die israelische Eliteeinheit 8200 erkannte mithilfe von Programmen wie „Alchemist“, „Gospel“ und „Depth of Wisdom“ in Echtzeit Veränderungen im Terrain, identifizierte so laut der Armee Hunderte Ziele wie Raketenwerfer. 150 ranghohe Hamas-Mitglieder seien mithilfe von KI getötet worden.

Kargu-2

Die KI-gesteuerte Drohne vom türkischen Rüstungsunternehmen STM schreibt Militärgeschichte.


(Foto: STM)

Autonome Waffen sind allerdings eine neue Kategorie. Es fehlt der „Human-In-The-Loop”, wie es in der Militärsprache heißt, die menschliche Aufsicht ist nicht oder nur teilweise vorhanden. Auch sind die Killerroboter offensiv ausgerichtet. Mittels Gesichtserkennung können sie Einzelanschläge ausüben oder in Schwarmformation größere Ziele wie Panzer oder Geschütze angreifen. „Formationen von mehr als 1000 Drohnen sind eine Massenvernichtungswaffe“, ordnet KI-Experte Walsh ein.

Vertreter der Rüstungsbranche warnen vor Panikmache, Kritiker dagegen würden lieber noch mehr Schreckensbilder malen. „Autonome Waffensysteme sind bislang kein Thema bei unseren Kunden, sie alle wollen menschliche Kontrolle bewahren“, sagt Hensoldt-Sprecher Schranzhofer.

Bis zu 150 km/h schnell

Die Kargu-2 sieht aus wie die zivilen Drohnen bekannter Firmen wie DJI. Sie besteht aus zwei Komponenten: der Kampfdrohne selbst und einer Bodeneinheit. „Die Drohne wiegt etwa sieben Kilo, wovon 1,3 Kilo für einen Sprengsatz vorgesehen sind“, berichtet der türkische Tech-Journalist Hakki Alkan.

Die Rotorblätter sind je 70 Zentimeter lang, die Drohne ist inklusive Kamera 40 Zentimeter hoch. Während der 30 Minuten Akkulaufzeit kann sich die Drohne bis zu 5,1 Kilometer von der Bodenstation entfernen und bis zu 150 Stundenkilometer schnell fliegen, bei Außentemperaturen zwischen -20 und 50 Grad Celsius und in bis zu 3000 Meter Höhe.

Die Kamera verfügt über einen zehnfachen optischen Zoom. Funkkontakt zur Bodenstation hält die Drohne über 5G-Technologie, die in der Türkei in den meisten Funkmasten verbaut ist. Im Jahr 2020 hat das Land einen entsprechenden 5G-Satelliten ins Weltall geschossen. Die Drohne wird völlig ohne Importe in der Türkei hergestellt.

Seit Juni 2020 besitzt das türkische Militär 500 Exemplare von Kargu-2. Im Standardmodus steuert ein Soldat am Boden die Drohne. Doch sobald sie ein gegnerisches Ziel anvisiert hat, verfolgt die Kargu-Drohne es automatisch, senkt sich ab und wirft einen Sprengsatz „im Präzisionsschlag“ ab, wie es beim Hersteller STM heißt.

Laut den Vereinten Nationen handelte die Drohne Kargu-2 in Libyen 2020 autonom und tödlich. Die türkische Armee weist das aber zurück. Zachary Kallenborn, amerikanischer Experte für Drohnenschwärme, Terrorismus und Massenvernichtungswaffen, erkennt im Statement der Armee aber auch ein Eingeständnis: „Sie sagten, dass die Drohne ihre autonome Fähigkeiten nicht genutzt habe.“ Damit habe die Türkei indirekt bestätigt, dass Kargu-2 eine autonome Waffe sei.

Verbindungen in höchste Kreise

Hergestellt wird Kargu-2 von der Firma STM in Ankara, die unweit der Technischen Universität und des Präsidentenpalasts ihren Hauptsitz hat. Die Firma produziert seit den 1990er-Jahren Korvetten, also kleinere Kriegsschiffe für die türkische Marine, später Helikopter und sogar die neuen türkischen Personalausweise mit Informationschip. In Branchenkreisen wird das Unternehmen als eines der führenden für Cybersicherheit und Militärtechnologie in der Türkei beschrieben. „Ein Unternehmen, das trotz seiner Größe abseits der großen Rüstungskonzerne kaum jemand kennt, selbst in der Türkei“, sagte ein deutscher Industriemanager, der in Istanbul lebt, dem Handelsblatt.

Im Aufsichtsrat sitzt unter anderem Reha Denemec. Der AKP-Co-Gründer war zuletzt unter anderem Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarats und türkischer Vizeminister für Bildung. Geleitet wird der Aufsichtsrat der Firma von Ismail Demir, Chef der Unterstaatsbehörde für Militärbeschaffung in Ankara. Der fasste die Nutzung militärischer Drohnen zuletzt wie folgt zusammen: „Wenn du eine, zwei, drei verlierst, ist es egal, solange andere ein Ziel finden.“

Ende 2018 stieg STM mit der Drohne „Kargu“ – ein alttürkisches Wort für einen militärischen Beobachtungsposten – erstmals in das Geschäft mit den unbemannten Kampfdrohnen ein, die allerdings noch von Bodenpersonal gesteuert werden mussten. Ein halbes Jahr später gab das Unternehmen bekannt, eine Künstliche Intelligenz in das Kargu-System einzubauen.

Gesichtserkennung ist mit dabei

Murat Ikinci, der ehemalige CEO von STM, erklärte im vergangenen Jahr, dass ihre Drohnen auch über Gesichtserkennungstechnologie verfügen: „Das verschafft türkischen Sicherheitskräften einen großen Vorteil bei der Identifizierung einzelner Ziele, damit diese neutralisiert werden können, ohne Truppen vor Ort einzusetzen.“ 2019 wurde Ikinci in türkischen Medien zitiert, dass die Hauptvorteile der Kargu-2-Schwärme darin bestehen, dass ihre schiere Anzahl Ziele überwältigen und sie GPS-Störsendern ausweichen können.

Der türkische Verteidigungssektor hat bisher vier verschieden große autonome Drohnen entwickelt: Kargu-2, Alpagu und Togan, die von STM hergestellt werden, und Şimsek von Turkish Aerospace Industries (TAI). Merve Seren, angehende Professorin für internationale Beziehungen an der Yildirim-Beyazit-Universität in Ankara, glaubt an einen militärischen Durchbruch der Türkei mit dem Einsatz der autonomen Killerdrohnen. „Sie bieten einen operativen Vorteil im Konfliktgebiet.“

Diese Drohnen stechen im türkischen Kriegsinventar heraus, da sie auch ohne GPS autonom operieren können. „Sie haben die Fähigkeit, Ziele mithilfe von Computeralgorithmen zu erfassen, anstatt Befehle von dem woanders sitzenden Operator zu empfangen.“ Sie könnten mit hoher Geschwindigkeit auf feindliche Anlagen zufliegen und ihre Sprengköpfe zünden, erläutert die Professorin, die früher für STM arbeitete.

Seren hält die Drohnen für präzise und auch geeignet, Kollateralschäden, also ungewollte zivile Opfer, zu vermeiden. „In der modernen Welt sollte dem Schutz des intellektuellen und physischen Humankapitals Priorität eingeräumt werden“, sagte Seren in einem Interview mit dem türkischen Staatssender TRT. „Die Türkei hat eine sehr klare und erfolgreiche Geschichte beim Einsatz von Drohnen, um zivile Opfer zu vermeiden.“

Türkei wird zum Rüstungsland

Doch warum ist die Türkei eigentlich so aktiv auf dem Gebiet? Die Landesverteidigung ist ein hohes Gut für das Land, das erst durch Unabhängigkeitskriege zu dem wurde, was es heute ist. Die Regierung von Staatschef Erdogan verfolgt außerdem eine äußerst offensive Außenpolitik. So sind türkische Soldaten in Syrien sowie im Nordirak und in Somalia im Einsatz, waren außerdem in Libyen und kurzzeitig in Aserbaidschan stationiert.

Durch die Kampfeinsätze bringen die Soldaten regelmäßig Erfahrungen mit, die in die Rüstungstechnologie einfließen. „Wir wissen immer genau, was unsere Soldaten brauchen“, fasste der Manager eines türkischen Rüstungsmittelständlers gegenüber dem Handelsblatt zusammen.

Baykar-CTO Selcuk Bayraktar

Der Schwiegersohn von Präsident Erdogan spricht bei der Eröffnung des Weltraum- und Technologiefestivals Teknofest Anfang Februar 2021.


(Foto: Anadolu Agency/Getty Images)

Die Rüstung wird für die Türkei zum Exportschlager. Innerhalb der vergangenen 20 Jahre stieg die Anzahl türkischer Rüstungsfirmen von 56 auf 1500. Unter den Top 100 der globalen Rüstungsfirmen finden sich immer mehr türkische Kandidaten, darunter mit dem Großkonzern Aselsan, dem Luftfahrtausrüster TAI und dem Fahrzeug- und Panzerhersteller BMC drei Schwergewichte. Insgesamt sind sieben türkische Firmen in der Liste zu finden, aus Deutschland kommen nur drei.

Neben STM entwickeln auch andere türkische Anbieter wie Baykar Drohnensysteme. Deren TB2-Modelle waren ebenfalls am „Friedenssturm“ in Libyen 2020 beteiligt. Die Drohne mit einer Spannweite von zwölf Metern arbeitet mit einer Aufklärungseinheit von Hensoldt, die aber laut dem deutschen Hersteller keine KI verwendet. Deren Kameras können auf einer Distanz von 60 Kilometern problemlos das Kennzeichen eines Fahrzeugs abbilden – und Raketen helfen, ihr Ziel zu finden.

Die TB2 wird zum Exportschlager für die Türkei, Polen gehört zu den jüngsten Kunden, aber auch Katar, Aserbaidschan und die Ukraine. Der Cheftechnologe von Baykar heißt Selcuk Bayraktar und ist der Schwiegersohn von Präsident Erdogan. Bayraktar lernte das Handwerk der Drohnentechnologie in seinem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik in den USA.

„Ich schäme mich, dass wir ihn hier am MIT ausgebildet haben“, sagt Max Tegmark, Professor der Physik an der Eliteuniversität.

Mehr: Wie die Roboterauto-Revolution bald doch noch beginnen könnte

.
source site-11