Deutschland, der kranke Mann Europas? Doch es gibt Hoffnung

Berlin, Hamburg Olaf Scholz ist verschwunden. Der Bundeskanzler macht Urlaub, wo genau, das verrät er nicht. „Im befreundeten europäischen Ausland“, mehr ließ er nicht kundtun. Wo auch immer das sein mag: Die Chance ist groß, dass die Stimmung dort eine bessere ist als daheim.

Deutschland im Sommer 2023, das fühlt sich an wie ein Land kurz vor dem Burnout. Die Rolle der besorgten Mediziner haben die Wirtschaftsforscher übernommen. Sie präsentieren beinahe täglich neue Indikatoren, die allesamt in eine Richtung weisen: nach unten.

Die meisten Ökonominnen und Ökonomen diagnostizieren dem Land nicht nur einen kurzfristigen konjunkturellen Dämpfer, aus dem man sich mit einem schuldenfinanzierten Konjunkturprogramm schnell wieder herauskaufen könnte. Sie verweisen auf strukturelle Probleme, die das Wirtschaftswachstum auf Jahre hinaus ausbremsen dürften: Bürokratie, erdrückende Energiepreise, eine hohe Steuer- und Abgabenlast und ein immer stärkerer Fachkräftemangel.

Das ist in etwa so, als wolle man von seiner Hausärztin eigentlich nur eine Krankschreibung und ein paar Schmerztabletten – und kriegt stattdessen einen Vortrag zu gesunder Ernährung und mehr Sport. Man weiß, dass sie recht hat. Und ist deswegen noch frustrierter.
Deutschland im Sommer 2023, das erinnert an Deutschland im Sommer 1999. Damals titelte der britische Economist über den „kranken Mann des Euro“. „Die deutsche Wirtschaft ist im Moment die schwächste in Westeuropa“, lautete der Befund damals, der nun wieder Gültigkeit hat.

Diesmal ist die Bundesrepublik nicht nur das Wachstumsschlusslicht in Europa, sondern unter allen großen Industriestaaten, wie der Internationale Währungsfonds jüngst prognostizierte.

Drei Viertel sind pessimistisch

Und wie schon in den Jahren nach der Jahrtausendwende kommt zum ökonomischen der politische Frust. Damals erlebte die Linke ihren Aufstieg als Protestpartei der Unzufriedenen. Nun ist es die politische ungleich gefährlichere Alternative für Deutschland (AfD), die in den Umfragen bei rund zwanzig Prozent steht – als zweitstärkste Kraft hinter der Union.

Wirtschaftliche Schwäche bedingt zwar nicht eins zu eins einen Anstieg der politischen Extreme. Aber sie begünstigt ihn – vor allem wenn sich die ökonomische Unsicherheit mit einem gesellschaftlichem Wandel paart, der viele Bürgerinnen und vor allem Bürger traumatisiert zurücklässt.

Gendersternchen, Heizungsgesetz, Benzinpreise, Ukrainehilfe, Ärztemangel: In Teilen der Bevölkerung vermengen sich all diese Themen zur Erzählung von einer abgehobenen grün-liberalen Elite, die die wahren Interessen des Volkes vergessen hat. Und die AfD steht bereit, dieses Narrativ zu befeuern. „Populismus ist Verlustunternehmertum. Verlustangst wird sozusagen kapitalisiert, man macht daraus politischen Gewinn“, analysiert der Soziologe Andreas Reckwitz diese Strategie im Handelsblatt-Interview.

Im August 2022 äußerten 84 Prozent der Befragten in einer Umfrage der Universität Bonn und der Friedrich-Ebert-Stiftung die Erwartung, es werde kommenden Generationen schlechter gehen – deutlich mehr als in der Vorgängerbefragung 2019. Die Bundesrepublik, erbaut auf dem impliziten Gesellschaftsvertrag ewig steigenden Wohlstands, muss derzeit ohne dieses Versprechen auskommen. Es ist das ungewollte Experiment einer „Fortschrittsgesellschaft ohne Fortschrittsglauben“ (Reckwitz).

Die ersten Rückwirkungen auf das Vertrauen ins politische System sind nicht ermutigend und gehen weit über das AfD-Milieu hinaus. Dieselbe Untersuchung der Universität Bonn zeigt: Drei Viertel der Bundesbürger finden, dass sich der Zustand der Demokratie in Deutschland in den letzten Jahre verschlechtert hat. Ein ebenso großer Anteil sieht die repräsentative Demokratie kritisch und bevorzugt eine direkte Demokratie oder eine Expertenherrschaft.

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Diese Verächter des Parlamentarismus sitzen nicht nur rechts. Sie finden sich auch bei den akademisch geprägten „Klimaklebern“, die ihre Interessen für zu bedeutend halten, um sie mühsam in den politischen Prozess einzuspeisen.

Deutschland im Sommer 2023, das ist ein Land, das aus einer jahrelangen Selbsttäuschung erwacht. In der Prosperität der Ära Merkel hatte sich das Gefühl breitgemacht, man sei wirtschaftlich unverletzbar. Die Finanzkrise steckte die Bundesrepublik erstaunlich gut weg. Während der darauffolgenden Euro-Krise galt Deutschland unter Investoren als sicherer Hafen.

Schon damals gab es mahnende Stimmen: Deutschland solle sich nicht ausruhen auf den Erfolgen von Gerhard Schröders Agenda 2010. Die Mahner wurden weitgehend ignoriert. Es lief gut. Scheinbar. Tatsächlich zeigten sich schon vor der Corona-Pandemie deutliche Warnzeichen. Das Wirtschaftswachstum lag nur noch um ein Prozent.

Aber in der Pandemie bäumte sich Deutschland noch mal auf. Olaf Scholz, damals Bundesfinanzminister, versprach, das Land werde „mit Wums aus der Krise“ kommen. Die Bundesregierung legte riesige Rettungsprogramme auf. Und wieder konnte sich Deutschland für sein Krisenmanagement auf die Schulter klopfen.

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Kaum war die Corona-Pandemie überstanden, folgte der Angriff Russlands auf die Ukraine und in der Folge eine Energiekrise in Deutschland. Scholz, mittlerweile Kanzler, verkündete den „Doppel-Wums“, erneut wurde eine Rettungsschirm über die deutsche Wirtschaft gespannt und die Schuldenbremse ausgesetzt.

Durch das Jahr 2022 ist Deutschland mit all den staatlichen Stützungsaktionen erstaunlich gut gekommen, das konstatiert auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem jüngsten Länderbericht. Doch anders als erhofft bleibt der Aufschwung nach der akuten Krise nun aus. Nach zwei Minus-Quartalen stagnierte die deutsche Wirtschaft im zweiten Quartal. Während die Weltwirtschaft 2023 um drei Prozent wächst, prognostiziert der Währungsfonds für Deutschland im Gesamtjahr 2023 ein Minus von 0,3 Prozent.

Das Ifo-Geschäftsklima sank im Juli den dritten Monat in Folge, was unter Fachleuten als Warnsignal für eine negative konjunkturelle Trendwende gilt.

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Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger klingt, als spräche er eine Warnung für potenzielle Investoren aus: „Wir haben mit die höchsten Energiekosten, wir haben mit die höchsten Steuern und Lohnzusatzkosten. Wir haben eine marode Infrastruktur. Diese Probleme mischen sich mit Fachkräftemangel, verschlafener Digitalisierung und der Dekarbonisierung.“

Die Lehren der Agenda 2010

Aus heutiger Sicht klingt es nach einer grotesken Selbstüberschätzung, was der Kanzler im März in einem Zeitungsinterview verkündete: „Wegen der hohen Investitionen in den Klimaschutz wird Deutschland für einige Zeit Wachstumsraten erzielen können, wie zuletzt in den 1950er und 1960er Jahren geschehen.“

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Doch auch das ist eine Lehre aus der Zeit vor 20 Jahren: Gute Politik kann dabei helfen, selbst utopisch erscheinende Ziele zu erreichen. Damals lag die Arbeitslosenquote in Deutschland bei über elf Prozent. 15 Jahre später hatte sie sich halbiert.

Der Anteil, den die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Koalition an diesem Erfolg hatten, ist umstritten. Doch in jedem Fall war es gelungen, ein scheinbares ökonomisches Naturgesetz zu durchbrechen: Dass die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus steigt. Müsste, was damals gelang, nicht auch heute möglich sein? Der erneute Wiederaufstieg vom kranken Mann Europas zum ökonomischen Kraftzentrun des Kontinents?

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Arbeitslosigkeit ist derzeit nicht das Kernproblem in Deutschland, sondern die strukturelle Wachstumsschwäche. Sie führt dazu, dass teure Vorhaben wie die Klimaneutralität nicht aus Wohlstandszuwächsen finanziert werden können, sondern aus der Substanz bezahlt werden müssen. Das erzeugt Verlustängste und politische Unzufriedenheit in der Bevölkerung.

Aber was bedeutet das konkret? Das Handelsblatt hat zehn Ökonominnen und Ökonomen gefragt, welche Maßnahme sie schnellstmöglich umsetzen würden, um Deutschland wieder zu mehr Wirtschaftswachstum zu verhelfen. Die Antworten lesen Sie hier. Zudem stellt Handelsblatt-Chefökonöm Bert Rürup hier seinen Wachstumsplan vor.

Zusammengenommen bilden die Vorschläge eine Agenda gegen den Abstieg unseres Landes. Sie können helfen, die Prophezeiung wahr zu machen, die der Kanzler den Deutschen kurz vor seinem Sommerurlaub hinterlassen hat: „Es wird gut ausgehen für jeden Einzelnen und für jede Einzelne von uns.“

Mehr: Wachsender Populismus: „Das politische System muss an sich arbeiten“

Erstpublikation: 04.08.2023, 04:00 Uhr.

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