Nach Karlsruhe: Deutschlands wirtschaftliche Sicherheitsagenda steht auf der Kippe


Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, mit dem die Übertragung von 60 Milliarden Euro an Corona-Schulden an den Klima- und Transformationsfonds (KTF) für rechtswidrig erklärt wurde, wirft einen Schatten der Unsicherheit über die wirtschaftliche Sicherheitsagenda Deutschlands, argumentiert Tobias Gehrke.

Dr. Tobias Gehrke ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR), wo er sich mit Geoökonomie und Wirtschaftssicherheit befasstj.

Während es Berlin gelang, unmittelbare Haushaltsprobleme auszuräumen und eine abgespeckte KTF am Leben zu erhalten, bleiben langfristige Fragen zur geoökonomischen Lage Deutschlands offen. Fünf Fragen, die Sie im Jahr 2024 im Auge behalten sollten:

1. Wird Deutschland seine wirtschaftlichen Sicherheitsambitionen zurückfahren?

Das jüngste Gerichtsurteil stellt eine gewaltige Herausforderung für das deutsche Paradigma der wirtschaftlichen Sicherheit dar, das in seiner Zeitenwende-Philosophie verwurzelt ist.

Zu Beginn des Jahres veröffentlichte Strategien, insbesondere die China-Strategie und die Industriestrategie des Wirtschaftsministeriums, verdeutlichen die Schwere des geoökonomischen Wettbewerbs, mit dem Deutschland konfrontiert ist.

Beide sehen in Chinas geoökonomischer Strategie eine erhebliche Bedrohung, die eine wirkungsvolle Strategie und ein Instrumentarium für die wirtschaftliche Sicherheit erfordert.

Die KTF war das entscheidende Instrument, um Deutschland zu einem schlagkräftigeren Akteur im Wettbewerb um die Frage zu machen, wer in den Industrien der Zukunft innovativ ist, wer produziert und wer Handel treibt.

Während einige Flaggschiff-Investitionen, wie große Chip-Investitionen in Sachsen, möglicherweise weiterhin gefördert werden, könnten die Unsicherheit und die reduzierten Ambitionen künftige Investitionsentscheidungen im Land abschwächen.

2. Wie erhält Deutschland seine industrielle Wettbewerbsfähigkeit?

Deutschlands energieintensive Industrien mussten seit 2021 einen erheblichen Produktionsrückgang von 20 % verzeichnen. Die extrem hohen Strompreise für die Schwerindustrie, die die Preise in den USA, China und Frankreich bei weitem übertreffen, verschärfen die Situation.

Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass zwei Drittel der deutschen Unternehmen darüber nachdenken, ihre Produktion außerhalb Deutschlands zu verlagern, wobei Energiesicherheit und Kosten die Hauptsorgen sind.

Dieser Trend spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Investitionsmustern zwischen den USA und Deutschland wider, insbesondere in der Produktion von Elektrofahrzeugbatterien. Besorgniserregend ist, dass rund 70 % der angekündigten Investitionen in die europäische Produktion von Elektrofahrzeugbatterien aufgrund von Energiepreisen oder Subventionen, die eine günstigere Produktion in den USA begünstigen, mit Unsicherheiten konfrontiert sind.

Eine aktuelle Ankündigung aus Berlin, Industriestrom in Höhe von insgesamt 12 Milliarden Euro zu subventionieren, reicht möglicherweise nicht aus, um den Trend zu bremsen.

Deutschland verliert weltweit Marktanteile in seinem industriellen Kernland, von Autos bis hin zu Maschinen, Materialien und Chemikalien. Ein schlagkräftiger Plan zur Umkehr dieses Trends steht noch aus.

3. Wie wird Deutschland mit der Abhängigkeit von China umgehen?

Die starke Abhängigkeit Deutschlands von chinesischen Importen stellt eine ernsthafte Bedrohung dar. Fast die Hälfte der Industrieunternehmen verlässt sich bei ihren Vorleistungen auf China, aber mehr als die Hälfte hat keine Maßnahmen ergriffen, um diese Abhängigkeit zu verringern. Besorgniserregend ist, dass fast die Hälfte der Unternehmen, die auf chinesische Vorleistungen angewiesen sind, sogar darüber nachdenken, die Beziehungen zu China weiter zu stärken.

Angesichts dieser Trends ist es unerlässlich, die Haltung der Kanzlerin zu überdenken, die Anfang des Jahres die Verantwortung für den Risikoabbau direkt den Unternehmen übertrug.

Doch die Karlsruher Entscheidung wird die finanziellen Möglichkeiten der Regierung zur Unterstützung wichtiger Risikominderungsmaßnahmen weiter einschränken. Anstatt den hartnäckigsten Abhängigkeiten erhebliche Anreize zu bieten, können wir mit eher lockeren Regierungskonsultationen mit dem Privatsektor rechnen.

4. Wie wird Deutschland den Herausforderungen begegnen, die durch chinesische Überkapazitäten im Bereich saubere Technologien entstehen?

Chinas umfangreiche Investitionen in saubere Energie und High-Tech-Sektoren stellen erhebliche Herausforderungen dar. Der Aufstieg Chinas zur Auto-Supermacht hat das Handelsdefizit Deutschlands mit dem Land im Jahr 2022 auf 84 Milliarden Euro ansteigen lassen – eine Versechsfachung in nur vier Jahren.

Auch in China stehen deutsche Automobilhersteller vor Herausforderungen: Dort stagnieren oder sinken die Marktanteile. Deutsche Unternehmen und Regierungsbeamte haben ihre Besorgnis über die von der Kommission verfolgten Handelsmaßnahmen gegen chinesische Importe von Elektrofahrzeugen geäußert, da sie Vergeltungsmaßnahmen gegen die stark exponierten deutschen Automobilhersteller in China befürchten.

Das Karlsruher Urteil lässt Zweifel an der Fähigkeit Deutschlands aufkommen, die europäische Wertschöpfungskette für Elektrofahrzeuge zu skalieren. Dies wiederum könnte dazu führen, dass die deutsche Industrie ihren Druck erhöht, etwaige Handelsmaßnahmen gegen chinesische Überkapazitäten zu lockern.

5. Welche deutsche Rolle in der EU-Wirtschaftssicherheitsagenda?

Die begrenzten finanziellen Ressourcen auf EU-Ebene erschweren die Umsetzung einer soliden gemeinsamen Industriepolitik. Teile der Bundesregierung haben ihre Bereitschaft signalisiert, sich auf EU-Ebene für eine stärkere gemeinsame Industriepolitik einzusetzen.

Der praktische Erfolg blieb jedoch gering, und die Gefahr eines deutschen Alleingangs hat bereits europaweit für Kopfzerbrechen gesorgt.

Das rechtliche Scheitern des deutschen Sonderfonds könnte in Deutschland Stimmen bestärken, die eine stärker europäische Ausrichtung der Industriepolitik fordern, etwa durch einen durch EU-Anleihen finanzierten Souveränitätsfonds.

Aber die drohende Niederlage der Mitgliedsstaaten beim Aufbau eines strategischen Technologiefonds (STEP), für den die Mittel erheblich gekürzt werden, weckt kein Vertrauen in einen solchen Weg.



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