Deutschland steht vor einer „beispiellosen“ politischen Zersplitterung


Da die Unzufriedenheit der Wähler in Europas größter Volkswirtschaft zunimmt, ist die politische Landschaft Deutschlands zunehmend zersplittert, und ein neuer politischer Akteur versucht, Wähler für sich zu gewinnen, die den traditionellen Parteien den Rücken gekehrt haben.

Deutschland galt jahrzehntelang als Leuchtturm politischer Stabilität, wo Mitte-Parteien die Szene dominierten. „Wahl wird in der Mitte gewonnen“ war das Leitmotiv für den Wahlerfolg von Altkanzlerin Angela Merkel. Die New York Times kam sogar zu dem Schluss, dass die Deutschen ihre Politik gerne mögen langweilig.

Da Deutschland jedoch unter einer Vielzahl von Krisen leidet, vom Energiepreisanstieg bis zur wirtschaftlichen Rezession, drängt sich die Wählerschaft zunehmend an den politischen Rand. Und einige politische Newcomer versuchen, von diesem Trend zu profitieren.

„Wenn wir uns die Wahlbeteiligung und die Umfragen ansehen, ist es absehbar, dass bei der nächsten Bundestagswahl weniger als 50 % der Wahlberechtigten ihre Stimme für eine der sogenannten demokratischen Parteien der Mitte abgeben werden“, sagte die deutsche Links-Ikone Sahra Das sagte Wagenknecht nach dem Start ihrer neuen Partei am Montag.

„Die Mehrheit hat das Vertrauen in diese etablierten Parteien verloren“, fügte sie auf einer Pressekonferenz hinzu.

Die neue Partei, die nach ihrem Gründer den Namen „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) trägt, besteht überwiegend aus ehemaligen Abgeordneten der Linkspartei. Während ihre Partei derzeit bei Umfragen bei etwa 5 % liegt, deuten einige Umfragen darauf hin, dass ihr politisches Potenzial bei etwa 27 % liegt.

Fragmentierung Deutschlands

Wagenknechts neue Partei ist nur das jüngste Beispiel für einen Zersplitterungsprozess, der in Deutschland seit einiger Zeit stattfindet.

„Seit den 1990er Jahren hat die Fragmentierung stetig zugenommen. Dies ist insbesondere auf die sinkende Loyalität der einst populären und wahlerfolgreichen Parteien zurückzuführen. Die Krise der Mainstream-Parteien hat Raum für politische Konkurrenten geschaffen“, sagte Dorothée de Nève, Professorin für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, gegenüber Euractiv.

Während es unwahrscheinlich ist, dass Europas größte Volkswirtschaft so enden wird wie die Niederlande, wo über 15 Parteien im Parlament vertreten sind, markieren die jüngsten Entwicklungen einen neuen Höhepunkt im Grad der Fragmentierung.

„Das deutsche Parteiensystem ist bereits zersplitterter als je zuvor und dies wird durch die Wagenknecht-Partei noch verschärft“, sagte Thomas Biebricher, Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt, gegenüber Euractiv.

„Von den einstigen großen Volksparteien und ihren Nachfolgern ist nicht mehr viel übrig, abgesehen von einer CDU/CSU mit knapp über dreißig Prozent“, fügte er hinzu.

Wagenknecht dürfte vor allem von der Unzufriedenheit mit der Regierung profitieren. Die drei Koalitionsparteien zusammen kommen in den Umfragen derzeit nur auf 32 %. Auch die Zustimmungswerte von Bundeskanzler Olaf Scholz stürzten ab und erreichten kürzlich ein Rekordtief von 19 % – weniger als die Hälfte der niedrigsten jemals gemessenen Zustimmungsrate für Merkel.

Der Rückgang der Popularität der Regierung ist besonders im Osten Deutschlands sichtbar. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass in Sachsen die drei Regierungsparteien der Scholz-Koalition nur 14 % der Stimmen erhalten würden, wobei FDP und SPD wahrscheinlich sogar die erforderliche Hürde für den Einzug ins Landtag verfehlen würden.

Angeln auf der rechten Seite

Doch Wagenknecht ist nicht der einzige potenzielle Neuling, der die deutsche Politik aufmischen könnte. Der frühere Inlandsgeheimdienstchef und Enfant terrible der CDU, Hans-Georg Maaßen, sagte vergangene Woche, dass auch er über die Gründung einer neuen Partei nachdenke.

Maaßen ist derzeit Leiter der Werteunion, ein Verband, der behauptet, den konservativen Kern der CDU zu vertreten und seine Partei oft zu einer konservativeren Haltung gedrängt hat. Da dieser Vorstoß in den Augen der Maaßen weitgehend gescheitert sei, kündigte er am Donnerstag an, dass die Mitglieder der Werteunion werden darüber abstimmen, ob sie aus der CDU austreten und auf ihrem eigenen Parteiprogramm kandidieren sollen.

Während Wagenknecht und Maaßen aus entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums kommen, konkurrieren sie um die gleiche Wählerbasis, da sie versuchen, Wähler der rechtsextremen AfD anzusprechen, die derzeit einen Rekordwert von rund 23 % erreicht.

Maaßen macht keinen Hehl aus der politischen Ähnlichkeit zum linken Rivalen.

„Was mir bei Sahra Wagenknecht, aber auch bei der AfD, auffällt, ist, dass sie einfach offen und frei über die Probleme sprechen, die wir in Deutschland haben, und ich stimme einigen von ihnen sehr gut zu“, sagte Maaßen die Weltund fügte hinzu, dass die Unterschiede erst bei den Lösungsvorschlägen deutlich würden.

Europa erobern

Für neue Parteien stellen die bevorstehenden Europawahlen eine einzigartige Gelegenheit dar, vor der Bundestagswahl und einigen entscheidenden Regionalwahlen das Wasser zu testen und ihr politisches Profil zu schärfen.

„Um es klarzustellen: Die Europawahl ist für uns natürlich auch deshalb so wichtig, weil sie ein bundesweites politisches Signal aussendet“, sagte Wagenknecht am Montag.

Während es bei den Bundes- und Landtagswahlen eine 5 %-Hürde für den Einzug der Parteien ins Parlament gibt, gibt es diese Hürde bei der Europawahl nicht. Für neue Parteien ist es somit viel einfacher, einen erfolgreichen Wahlkampf für das Europäische Parlament zu führen.

„Natürlich sind die Europawahlen daher besonders für kleinere Parteien und neue Parteien interessant – auch aus finanziellen Gründen“, sagte der Experte de Nève.

Ob es Wagenknecht gelingt, ihre Partei nachhaltig zu etablieren, hänge jedoch vor allem davon ab, dass sie ein Programm anbieten könne, „das die Wähler auf nationaler und landespolitischer Ebene überzeugt“, fügte de Nève hinzu.

Dies wird insbesondere für die bevorstehenden Regionalwahlen von entscheidender Bedeutung sein.

Drei der ehemaligen ostdeutschen Bundesländer, Brandenburg, Thüringen und Sachsen, werden in diesem Jahr an den Wahlen teilnehmen, wobei die rechtsextreme AfD derzeit in allen drei Bundesländern an der Spitze liegt.

Wagenknecht hofft, Wähler aus der extremen Rechten für sich zu gewinnen, und das könnte ihr gelingen, denn aktuellen Umfragen zufolge liegt ihre Partei in Brandenburg bei rund 11 %.

„Wagenknecht kann auf Stimmen im rechtskonservativ-autoritären Spektrum hoffen; „Die Kombination aus einer eher linken Wirtschaftspolitik und gesellschaftspolitisch zumindest konservativen Positionen zu Migration, Europa, aber auch Minderheitenpolitik ist durchaus anschlussfähig“, so der Experte Biebricher abschließend.

(Oliver Noyan | Euractiv.com)

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