Mexiko-Stadt Politik ist in Ecuador eine Frage von Leben und Tod geworden. Nach dem Mord an Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio haben andere Kandidaten ihre persönlichen Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Villavicencios Nachfolger Christian Zurita zeigt sich in diesen aufgewühlten Tagen nur noch in schusssicherer Weste.
Die Gewalt beherrscht das Land zwar schon länger, aber nie wurde das so erschreckend deutlich wie am 9. August – ein „Sicario“, ein Auftragsmörder, erschoss den Bewerber nach einem Auftritt auf offener Straße. Mit dem Mord, vermutlich im Auftrag eines Drogenkartells, fiel das Land in eine Art Schockstarre. „Wir Ecuadorianer sind konsterniert und wütend“, sagt Luis Córdova Alarcón, Direktor des Forschungsprogramms „Ordnung, Konflikt und Gewalt“ an der Zentraluniversität von Ecuador.
Seit 2018 befindet sich Ecuador in einer Abwärtsspirale. Zwei neoliberale Regierungen stoppten teilweise die Investitionen in Bildung, Sicherheit und Landwirtschaft. Die Gefängnisse sind nur mehr Verwahranstalten, in denen die Kartelle bestimmen.
Hinzu kommen die Nachwirkungen der Wirtschaftskrise während der Pandemie, die Ecuador so hart traf wie kaum ein anderes Land in Lateinamerika. Die Wirtschaft schrumpfte um neun Prozent und hat sich noch immer nicht wieder erholt. Vergangenes Jahr stieg das Bruttoinlandsprodukt um 2,9 Prozent, für dieses Jahr reduzierte die Zentralbank die Prognose gerade von 3,1 auf 2,6 Prozent wegen der schwächelnden Erdölexporte.
Aber Millionen Arbeitsplätze gingen verloren. Auch das ist ein Grund, warum die Banden der Organisierten Kriminalität keine Nachwuchssorgen haben.
Ecuador ist das neue Zentrum der Drogen-Logistik
Das internationale Verbrechen hat Ecuador vor einigen Jahren zum neuen logistischen Zentrum auserkoren. Das Land ist wegen seiner Lage zwischen den Koka-Produzenten Peru und Kolumbien, seiner mit US-Dollar laufenden Wirtschaft sowie eines der größten Häfen Lateinamerikas in Guayaquil attraktiv. Vor allem mexikanische Kartelle, aber auch die albanische Mafia haben sich festgesetzt und mit lokalen Banden verbündet.
Die Folge ist eine beispiellose Welle der Gewalt. Die Mordrate lag 2022 bei 26 Fällen pro hunderttausend Einwohner und stellte sogar Länder wie Mexiko und Brasilien in den Schatten. Präsident Guillermo Lasso wusste sich angesichts dieser Situation nicht anders zu helfen, als vergangenes Jahr vier Mal den Ausnahmezustand auszurufen. Insgesamt 165 von 365 Tagen mussten die Streitkräfte die innere Ordnung in dem Land sicherstellen.
Das frühere Selbstverständnis der Menschen, in einem Land zu leben, das friedlich zwischen gewaltgeplagten Nachbarländern lag, ist lange vorbei.
Im Kampf zwischen staatlicher Gewalt und Organisierter Kriminalität ist die Ermordung von Fernando Villavicencio in Augen von Experten eine Art politische Botschaft gegen die Demokratie. Die Drogenbosse wollten zeigen, dass sie die Regeln des Spiels in Ecuador bestimmen.
Nicht nur die Einwohner schätzen die Lage des Landes als immer bedrohlicher ein. Auch die ausländischen Direktinvestitionen, die 2022 nach Zentralbankdaten noch bei 788 Millionen Dollar lagen, dürften in diesem Jahr weitaus geringer ausfallen, erwarten Analysten. Eigentlich wäre das Land gerade für deutsche Unternehmen als Markt für Umwelttechnologien und grünen Wasserstoff interessant, doch die immer schwereren Gewaltexzesse schrecken ab.
Wut und Ernüchterung vor der Wahl
Mit Ernüchterung und Wut gehen die Menschen deshalb elf Tage nach dem Mord an Villavicencio am Sonntag zur Wahl, um einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für den gescheiterten Präsidenten Lasso zu bestimmen. Dieser rief im Mai nach nur zwei Jahren im Amt die Neuwahl aus, nachdem er zuvor das Parlament aufgelöst hatte, das seinerseits gegen Lasso ein Amtsenthebungsverfahren angestrengt hatte. Es ging um die Veruntreuung öffentlicher Ressourcen, aber auch darum, dass der ehemalige Banker weder die sozialen Krisen noch die Gewalt in den Griff bekam.
Der Ausgang der Wahl ist völlig unklar. „Der große Protagonist der Wahl ist die Ungewissheit“, sagt der Politologe Pedro Donoso von der Beratungsagentur Icare. Da so kurz vor dem Urnengang keine Umfragen mehr veröffentlicht werden dürfen, „bleibt unklar, wie das politische Schachbrett nach dem Attentat“ aussieht. Es wurde jedoch erwartet, dass der Law-and-Order-Kandidat Jan Topic an Zustimmung gewinnt.
Die letzten Umfragen vor dem Mord an dem Korruptionskritiker Villavicencio sahen Luisa González von der Partei „Revolución Ciudadana“ (Bürgerliche Revolution) des ehemaligen Linkspräsidenten Rafael Correa als klare Favoritin. Ihr gaben die Umfragen zwischen 25 und 30 Prozent der Stimmen. Mit Abstand folgen Otto Sonnenholzner, konservativer Ex-Vizepräsident, sowie der Umweltaktivist Yaku Pérez, der sich zum zweiten Mal um das höchste Amt im Staat bewirbt.
Die letzte TV-Debatte vor der Wahl hatte etwas Makabres. González und ihre sechs Mitbewerber stritten, während das Stehpult von Villavicencio demonstrativ leer blieb. Nachrücker Zurita durfte nicht teilnehmen.
Die Politiker debattierten vor allem über den Kampf gegen die ungezügelte Gewalt, wobei sich die meisten in den zentralen Fragen einig waren: harte Hand gegen die Organisierte Kriminalität, Kontrolle über die Gefängnisse, bessere Ausrüstung und Ausbildung der Sicherheitskräfte und der Aufbau eines effizienten Nachrichtendienstes. Ecuador dürfte also mehr ein Law-and-Order-Staat werden, egal, wer die Wahl für sich entscheidet.
Wie wichtig das Thema Kriminalitätsbekämpfung ist, zeigte sich auf brutale Weise Anfang der Woche: Fünf Tage nach der Ermordung Villavicencios wurde der Lokalpolitiker Pedro Briones von „Revolución Ciudadana“ in der nördlichen Provinz Esmeraldas erschossen. An der Tür seines Hauses lauerten ihm seine Mörder auf einem Motorrad auf und erschossen ihn. „Ecuador erlebt die blutigste Epoche seiner Geschichte. Die unfähige Regierung hat aufgegeben, und der Staat ist von der Mafia übernommen worden“, wetterte Präsidentschaftskandidatin González auf der Online-Plattform X, ehemals Twitter.
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