Zeitenwende: Die neue Weltwirtschaftsunordnung

Berlin Die Autorin erzählt, wegen Papiermangel wisse sie nicht, wann ihr Buch erscheint. Verbraucher sind verzweifelt, weil die Senfregale in Geschäften leer geräumt sind. Die Krankenkasse AOK Nord-West kann wegen akuten Chipmangels rund 400.000 Versicherten keine neue Versichertenkarte ausstellen.

Die drei Beispiele zeigen jeweils im Kleinen, was derzeit im Großen zu beobachten ist: Der Welthandel ist aus dem Takt geraten. Überall fehlen Vorprodukte, Halbleiter, ja sogar Schrauben. Die Ära der Turbo-Globalisierung, die seit Beginn des Jahrhunderts den Wohlstand in der Welt maßgeblich gemehrt hat, ist vorüber.

War vor der Pandemie noch von einer „Slowbalisation“, von einer langsameren Globalisierung die Rede, zeigt sich nach Corona und besonders nach Ausbruch des Ukrainekrieges immer mehr: Die Globalisierung hat sich auf einen ungeordneten Rückzug begeben. Die alte Weltwirtschaftsordnung wird durch eine neue „Weltwirtschaftsunordnung“ abgelöst.

„Das System internationaler Zusammenarbeit, das Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantiert hat, steht zur Disposition“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. „Die Globalisierung, wie wir sie kannten, wird nicht mehr zurückkommen“, glaubt BASF-Chef Martin Brudermüller.

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Politiker und Unternehmenslenker sind gefordert, den globalen Kapitalismus neu zu erfinden. Die Suche nach neuen Formen der internationalen Zusammenarbeit hat gerade erst begonnen. Doch einige Umrisse dieser neuen Weltwirtschaftsordnung kristallisieren sich bereits heraus.

Und dabei ist klar: Diese neue Spielart der Globalisierung wird für Deutschland als Exportnation so gravierende Folgen haben wie für kaum ein anderes Land. Die Politik wird schmerzhafte Schritte einleiten, die Wirtschaft vielleicht sogar das komplette exportorientierte Geschäftsmodell umbauen müssen.

Die Gefahren einer vernetzten Welt

So zeigt der Ukrainekrieg auf beunruhigende Weise: Eine allzu vernetzte Welt kann mitunter gefährlicher sein als eine nicht vernetzte. Zumindest dann, wenn Staatschefs wie Unternehmenslenker ihre Energie-, Rohstoffimporte und Wertschöpfungsketten einzig auf Kosten und Effizienz trimmen, sich dabei in eine gefährliche Abhängigkeit begeben und sich wenigen Lieferanten ausliefern, die unter dem Einfluss autokratischer Regierungen stehen.

Das erste Mal deutlich wurde dies zu Beginn der Coronapandemie, als der Westen plötzlich auf Maskenlieferungen aus China angewiesen war. Bis heute leiden die Unternehmen unter den Coronafolgen, vor allem weil wegen Chinas eisenharter Null-Covid-Politik sich die großen Frachtcontainer vor chinesischen Seehäfen stauen.

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So kann der Werkzeugmaschinenhersteller Trumpf bis heute die Produktion nicht wie gewohnt hochfahren. Eine Maschine kann etwa nicht fertiggestellt werden, weil zwei Schrauben fehlen. Die findet man zwar in jedem Baumarkt, doch Trumpf darf nicht einfach Baumarkt-Schrauben verwenden, weil alle Teile zertifiziert sein müssen. Das Beispiel zeigt, wie fein verästelt, fragil und anfällig Wertschöpfungsketten selbst bei einfachsten Vorprodukten sind.

Kommt die machtbasierte Weltordnung?

Ein noch größerer Augenöffner, dass es mit der Globalisierung so nicht weitergehen kann, war der Ukrainekrieg. So sagt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm: „Der Angriff Russlands beschleunigt die Erosion der regelorientierten Weltordnung und damit die Basis der Globalisierung.“ An deren Stelle trete zunehmend eine „machtbasierte Weltordnung, in der das Recht des Stärkeren gilt“.

Jahrzehntelang war die Maxime „Wandel durch Handel“ das Leitmotiv der deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen. Nach der Invasion Russlands in der Ukraine ist klar: Der Ansatz ist nicht nur gescheitert, er hat sich gegen Deutschland selbst gekehrt. Deutschland und der Westen sind es jetzt, die sich wegen der eigenen naiven Handelspolitik wandeln müssen. Und Russland ist da im Vergleich zu der immensen Abhängigkeit von China ein kleines Problem.

Die Globalisierung ist nicht tot, aber sie wird künftig eine andere Gestalt annehmen. Seit dem Fall der Mauer hatten sich Unternehmen dort niedergelassen, wo die Produktion am günstigsten war, vor allem in China. Es schien ein Win-win-Geschäft zu sein. Die Unternehmen aus den Industriestaaten konnten billig für den Weltmarkt produzieren, die Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern entkamen der Armutsfalle.

Der Handel stärkt Autokratien

Doch nach der bitteren Erfahrung, dass Autokratien durch Handel wirtschaftlich stärker, aber keineswegs demokratischer werden, wird künftig neben Effizienz Sicherheit eine entscheidende Rolle bei Standortentscheidungen spielen. Politik und Unternehmen werden mit den Staaten Geschäfte machen, auf die sie sich verlassen können und mit denen sie freundschaftliche Beziehungen pflegen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bringt es auf diese Formel: „Freiheit ist wichtiger als Freihandel, der Schutz unserer Werte wichtiger als Profit.“

Was das konkret bedeutet, lässt sich in den USA beobachten. US-Präsident Joe Biden will „wieder in den USA produzieren lassen, statt uns auf ausländische Produktionsketten zu verlassen“. Noch weiter geht US-Finanzministerin Janet Yellen: Die USA sollten nur noch Handel mit befreundeten Staaten treiben, fordert sie gar.

Nicht nur die Politik gibt diese Richtung vor, sondern auch die Finanzmärkte. Inzwischen gibt es Private-Equity-Unternehmen, die nur noch in jene US-Konzerne investieren, die in keiner Abhängigkeit mehr zu China stehen.

In den USA halten Politiker und Manager diesen klaren Strich für notwendig, weil sie über kurz oder lang einen Konflikt mit China fürchten, sei es wegen Taiwan oder aus einem anderen Anlass.

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Die Volksrepublik ihrerseits hat im Rahmen ihrer Industriestrategie 2025 erklärt, bis Mitte dieses Jahrzehnts wirtschaftlich autark, also nicht mehr abhängig von anderen Staaten sein zu wollen. Gleichzeitig treibt China etwa mit dem Ausbau des Infrastrukturprojekts „Neue Seidenstraße“ seine geoökonomische Strategie mit aller Macht voran. China soll nicht mehr vom Rest der Welt abhängig sein, sondern der Rest der Welt von China.

In den USA und Europa ist deshalb seit einiger Zeit „Decoupling“ das Schlagwort der Stunde. Der Begriff bezeichnet die wirtschaftliche Abkopplung autokratischer Staaten von den westlichen Demokratien. Die Globalisierung würde rückabgewickelt, die Welt wie zu Zeiten des Kalten Krieges in zwei Wirtschaftsblöcke zerfallen, so die Befürchtung.

Der Welthandel ist auf dem Rückzug

Anzeichen zumindest eines Rückbaus der Globalisierung sind unübersehbar:

  • Das rasante Wachstum des globalen Warenhandels hat sich seit dem Jahr 2010 deutlich verlangsamt.
  • Die Zahl protektionistischer Barrieren von Mitgliedern der Welthandelsorganisation (WTO) nimmt seit 2012 auffällig zu.
  • Die 3000 größten Unternehmen haben ihre Vorratsbestände seit 2016 von sechs auf neun Prozent erhöht.
  • Immer mehr Unternehmen setzen wie der Elektroautokonzern Tesla auf vertikale Integration, bei der die Firmen vieles selbst produzieren und damit die Produktion kontrollieren.
  • Im ersten Halbjahr 2022 waren chinesische Logistikunternehmen nur an 15 Prozent aller weltweiten Übernahmen und Zusammenschlüsse beteiligt. Das war der niedrigste Stand seit zehn Jahren, wie eine aktuelle Studie der Marktforschungsgesellschaft Price Waterhouse Coopers zeigt. Fusionen und Übernahmen im Transportsektor sind ein Gradmesser für die internationale Verflechtung in der Weltwirtschaft.

Die globalen Handelsströme müssen neu justiert werden

Die unumgängliche Neujustierung globaler Handelsströme und Wertschöpfungsketten bringt große Gefahren für den Wohlstand mit sich. Es drohen eine neue Protektionismuswelle, staatliche Regulierungs- und Subventionswut also, um die Folgen der De-Globalisierung vermeintlich abzufedern, sowie eine anhaltend hohe Inflation, weil Vorzüge der globalen Arbeitsteilung wegfallen.

Würde ein Viertel der bestehenden Lieferketten umgebaut, könnten die zusätzlichen Kosten zwei Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung übersteigen, schätzen Experten. Sollte es zu einer neuen Blockbildung kommen, wären die Wohlstandsverluste noch größer.

Zerrissene Lieferketten, leere Regale

Wie die gestörte Globalisierung beim Verbraucher ankommt.


(Foto: IMAGO/Andre Lenthe)

Schon vor Corona war Freihandel immer mehr in Verruf geraten. Dabei ging es keineswegs nur um die alte Kritik von Linken, für die Globalisierung ein Synonym ist für die Ausbeutung des globalen Südens, die Zerstörung der Natur oder die Anhäufung von Kapital.

Plötzlich wurden eigene Nachteile sichtbar, die die Industriestaaten neben allen Globalisierungsgewinnen erlitten. Eine Reihe neuer Studien zeigte: Freihandel produzierte nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer.

Die Globalisierung erzeugt auch Verlierer

So habe der Beitritt Chinas zur WTO 2001 in Großbritannien, den USA oder Frankreich zu einer De-Industrialisierung geführt und Millionen Industriearbeiter in die Arbeitslosigkeit geschickt – was als entscheidender Grund für das Erstarken des Populismus in diesen Ländern gilt. Die politischen Folgen wurden bald sichtbar: Großbritannien verließ die EU, der frühere US-Präsident Donald Trump zettelte einen Handelskrieg mit China an, in Frankreich liebäugelte die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen mit dem Präsidentenamt.

Zugleich haben die stetig steigenden globalen Kapitalflüsse die Finanzmärkte anfälliger gemacht. Das zeigt sich gerade wieder an einem aktuellen Beispiel: So muss sich China im Rahmen seines Neue-Seidenstraße-Projekts erstmals mit einem Überschuldungsproblem von Staaten auseinandersetzen, die von der Volksrepublik mit Geld gepäppelt worden waren.

Auch in Deutschland machte sich im vergangenen Jahrzehnt eine Anti-Freihandels-Bewegung breit, obwohl die Bundesrepublik so von der Globalisierung profitierte wie kaum ein anderes Land. Ausdruck dessen waren die Großdemonstrationen gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP mit dem Chlorhuhn als Synonym für angeblich sinkende Verbraucherstandards.

Protest gegen das Freihandelsabkommen TTIP

Chlorhuhn als Synonym für angeblich sinkende Verbraucherstandards.

(Foto: dpa)

Vor allem wegen des großen Widerstands in Deutschland wurde das Handelsabkommen mit den USA auf Eis gelegt. Bis heute wirkt dieses Fiasko nach; die USA verspüren wenig Lust, neue Verhandlungen aufzunehmen. Die neuen protektionistischen Bewegungen treffen also auf fruchtbaren Boden.

Die Politik muss nun – Stichworte Corona, Zeitenwende, China – der Versuchung widerstehen, protektionistischen Forderungen nachzugeben. Wenn es stattdessen gelingt, die Vorteile des Freihandels zu erhalten und gleichzeitig die Widerstandsfähigkeit von Staaten, Unternehmen und Wertschöpfungsketten zu erhöhen, könnte sich die Weltwirtschaft tatsächlich zum Besseren verändern.

„Wir stehen vor dem wohl radikalsten Umbau der Wirtschaft seit der Industrialisierung“

Dafür müssen Politik und Wirtschaft jedoch schwierige Gratwanderungen hinbekommen. „Wir stehen vor dem wohl radikalsten Umbau der Wirtschaft seit der Industrialisierung“, sagt Ökonomin Grimm.

Wertschöpfungsketten zu diversifizieren und damit weniger anfällig zu machen ist logistisch hochkomplex und mit hohen Kosten verbunden. Die Frage, mit welchen Staaten man noch ohne Bedenken Geschäfte machen kann, ist ebenso schwer zu beantworten.

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Deutschland wird einen neuen, belastbaren Umgang mit Autokratien jenseits der alten Maxime „Wandel durch Handel“ finden müssen, insbesondere mit China. Das fängt bei der Debatte über einen Ausschluss des chinesischen Tech-Konzerns Huawei aus den deutschen Telekommunikationsnetzen an, geht aber noch viel weiter.

Das Außenwirtschaftsgesetz muss so neujustiert werden, dass die eigene kritische Infrastruktur gesichert wird, ohne zu protektionistisch zu wirken. Auch die neue Außenwirtschaftsförderung muss überdacht werden.

Und in der Handelspolitik muss Deutschland auf neue Handelsverträge mit Verbündeten setzen, ohne auch hier den Eindruck zu vermitteln, ein westliches Wirtschaftsbollwerk aufzubauen. Ebenso gehört das institutionelle globale Rahmenwerk generalüberholt, allen voran die sich seit Jahren selbst blockierende Welthandelsorganisation.

Denn eine Erkenntnis gilt als gesichert, die auch Scholz in Davos vortrug: „Die De-Globalisierung ist ein Holzweg“, sagte der Bundeskanzler. „Sie wird nicht funktionieren.“

Der Artikel ist Auftakt der Handelsblatt-Serie: Die neue Weltwirtschafts(un)ordnung: Wie Politik und Wirtschaft die Globalisierung neu erfinden müssen. Teil 2 beschäftigt sich mit dem Thema: Die große (Un)Abhängigkeit: Wie stark die deutsche Wirtschaft von autoritären Regimen abhängig ist – und wie sie sich daraus befreien kann

Mehr: „Dax-Konzerne oder Tech-Giganten allein halten keine Wirtschaft am Laufen“ – Susanne Klatten über ihre Start-up-Strategie

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