Wie sich Deutschland auf die ukrainischen Flüchtlinge vorbereitet

Berlin, Fürstenberg Ukraine, Moldawien, Rumänien, Ungarn, Slowakei, Polen – fünf Länder und fünf Tage später erreichen Elena und ihre Tochter das brandenburgische Fürstenberg. Als die 34-jährige Mutter am 24. Februar die ersten Explosionen in Kiew weckten, macht sie sich mit zwei weiteren Frauen, ihren beiden Kindern und einem Hund auf den Weg nach Deutschland.

Was die fünf Flüchtlinge mitnehmen konnten, passt in zwei Koffer. Über 2000 Kilometer fährt die Reisegruppe mit dem Auto bis nach Fürstenberg mit seinen knapp 6000 Einwohnern.

Für die Kleinstadt entschied sie sich, weil hier die Mutter einer Kollegin ihres Ex-Mannes lebt. Sie vermittelte den Ukrainerinnen eine frisch sanierte Altbauwohnung von Bekannten, in denen sie vorerst bleiben können. Die Reise aber hat sie mitgenommen. Elena zieht ihre Tochter ohne den Vater groß, sie sei daran gewöhnt, alles allein zu schaffen. „Plötzlich aber bin ich auf fremde Hilfe angewiesen“, sagt sie. „Deshalb fühle ich mich schlecht.“

Die fünf sind nicht die Einzigen, die in Fürstenberg ein vorläufiges Zuhause gefunden haben. Insgesamt 40 ukrainische Geflüchtete wohnen hier. Darunter sind auch Vita und Ljudmilla. Vergangene Woche kamen sie am Berliner Hauptbahnhof an. Die Cousinen flohen mit ihren drei Kindern nach drei Nächten im Bunker aus Kiew. Die Angst vor dem Krieg wurde zu groß.

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Sie hatten Glück und schafften es in einem völlig überfüllten Zug aus der ukrainischen Hauptstadt. In Berlin wartete die Linken-Politikerin Anke Domscheit-Berg auf die junge Familie, die über eine Plattform für Geflüchtete Kontakt aufnahm.

Weil beide Frauen kein Englisch können, besprach Vitas 14-jährige Tochter mithilfe eines Übersetzungsprogramms die letzten Details mit Domscheit-Berg. Treffpunkt: 18:25 Uhr, Gleis 7, Berlin Hauptbahnhof. Von dort ging es gemeinsam weiter nach Brandenburg.

Experten rechnen mit bis zu zehn Millionen Menschen

So wie Elena, Vita und Ljudmilla kommen mittlerweile täglich 12.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland an. Über 160.000 Menschen machten sich bereits auf die beschwerliche Reise. Weil sich die Geflüchteten nicht registrieren müssen, dürfte die tatsächliche Zahl deutlich darüber liegen und in den kommenden Tagen und Wochen noch einmal dramatisch ansteigen. Experten rechnen mit bis zu zehn Millionen Menschen, die aus der Ukraine flüchten werden.

Und so wappnet sich Deutschland für eine möglicherweise historische Fluchtbewegung, deren gesamtes Ausmaß sich auch zwei Wochen nach Kriegsbeginn nur erahnen lässt. Am drängendsten ist die Lage in Berlin. Hier zeigt sich wie unter einem Brennglas, was womöglich auch andernorts droht. Die Hauptstadt ist bislang am stärksten von der Fluchtbewegung betroffen. Wie stark, lässt sich etwa an den verzweifelten Wortmeldungen der Landespolitik heraushören.

„Jeder Tag, jede Nacht“ sei ein Wettlauf für die Ehrenamtlichen, sagte die Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) kürzlich. Das Bundesland nehme derzeit so viele Flüchtlinge auf wie alle anderen zusammen – und brauche dringend Unterstützung. „Alles, was wir bisher erleben, ist nur der Anfang.“

Ortstermin am Berliner Hauptbahnhof. Hier kommen die Züge mit Geflüchteten inzwischen fast stündlich an. Der Deutschen Bahn zufolge gibt es sechs Sonderzüge plus acht reguläre Intercitys pro Tag. In jeden Zug passen 600 bis 800 Menschen. Es sind hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern, die aus den Zügen steigen. Männer sind nur wenige darunter.

Die meisten haben Koffer bei sich, schultern Decken oder Isomatten, andere kommen nur mit vollgestopften Plastiktüten, wieder andere schleppen Käfige mit ihren Hunden oder Katzen mit sich. Einige weinen vor Verzweiflung, andere vor Erleichterung. Kinder schreien, Hunde bellen. Die Durchsagen an den Gleisen, die sonst alles übertönen, gehen im Stimmengewirr der Menge unter: Ausnahmezustand im Hauptbahnhof.

Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof

Am Berliner Hauptbahnhof kommen die Züge mit Geflüchteten inzwischen fast stündlich an.


(Foto: Lutz Jaekel/laif)

In einem Wartebereich spielen jetzt Kleinkinder zwischen zwei Stuhlreihen auf Teppichen mit Spielsachen. Auf den Bahnsteigen sitzen Menschen zwischen Koffern und Taschen auf dem Boden. Dazwischen drängeln sich Hunderte Freiwillige, um zu helfen.

Hinter Bierbänken geben sie das Nötigste aus, etwa Sandwiches, Suppen und Süßigkeiten, Tee und Kaffee, Shampoo, Deo und Tampons, aber auch Kinderspielzeug, Klamotten, Tiernahrung, Medizin und Sim-Karten. Fast alles sind private Spenden.

Viele wissen nicht, wohin, und auch nicht, wie es weitergeht

Doch es mangelt nicht nur an materiellen Dingen. Viele wissen nicht, wohin, und auch nicht, wie es weitergeht. Nicht alle Ukrainer sprechen Englisch, und Muttersprachler gibt es unter den Hunderten freiwilligen Helfern zu wenige. Aber selbst das hilft nicht immer: Auf manche Fragen hat selbst die Stadt, ja die ganze Republik noch keine Antwort.

Eine von ihnen ist, wo die vielen Geflüchteten unterkommen sollen – und wie sie sich versorgen können. Am zentralen Busbahnhof in Berlin und am Hauptbahnhof zusammen sind allein am Wochenende 20.000 Kriegsflüchtlinge angekommen.

Ordnung sollte das erst in der vergangenen Woche errichtete Willkommenszelt auf dem Washingtonplatz schaffen. Das ist aber schon jetzt ausgelastet – in dem 600 Quadratmeter beheizten Zelt können 400 Menschen versorgt werden.

Der Senat sucht deswegen unentwegt nach neuen Unterkünften. Bereits am Freitag eröffnet ein weiteres Zelt am Europaplatz. Das Terminal fünf des Flughafens Berlin Brandenburg soll Reservequartier für 500 Geflüchtete werden.

Ukrainische Flüchtlinge in Berlin

Der Berliner Senat sucht unentwegt nach neuen Unterkünften für die ankommenden Flüchtlinge. Manche Privathaushalte nehmen Familien auf.

(Foto: Reuters)

In einer Spandauer Kaserne sollen künftig 1000 Menschen Platz finden. Auch in den Messehallen übernachten seit Donnerstagnacht Flüchtlinge. 900 bis 1000 Betten sind dort für eine kurzfristige Unterbringung aufgestellt. Am Samstag soll auch noch eine dritte und vierte Halle in Betrieb gehen.

Um die Lage zu entschärfen, forderte die Berliner CDU jüngst gar, den Katastrophenalarm in der Stadt auszurufen. Dies würde es erleichtern, ungenützte Unterkünfte zu nutzen und Freiwillige zu rekrutieren, die sich von der Arbeit freistellen lassen müssten. Zudem brauche Berlin Unterstützung vom Bund, der „viel zu lange abgetaucht sei“, schrieb CDU-Landeschef Kai Wegner in einem Positionspapier.

Tatsächlich steht die Lage ganz oben auf der Agenda, wenn am Donnerstag Bund und Länder zu einer erneuten Ministerpräsidentenkonferenz zusammenkommen. Schon jetzt gibt es eine lange Liste an Wünschen aus den Ländern, die zeigt, dass die Erfahrungen und aufgebauten Strukturen aus 2015 derzeit nur bedingt weiterhelfen.

Damals flohen vor allem Männer aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und afrikanischen Ländern nach Deutschland. Viele Unterkünfte sind seither allerdings nicht mehr vorhanden, Gelder dafür schlicht nicht eingeplant.

Länder fordern dringend Hilfen

Das zuständige Ministerium in Rheinland-Pfalz forderte auf Anfrage etwa, dass der Bund einen „substanziellen Beitrag“ an den Kosten für die Aufnahme, Unterbringung und Integration von Flüchtlingen übernimmt.

Zentrale Anlaufstellen in dem Bundesland sind Speyer, Kusel, Hermeskeil, Bitburg und Trier, wo derzeit zusätzliche Schlafmöglichkeiten geschaffen würden. Dazu zählen zusätzliche Container, Traglufthallen und Zelte.

Das Sozialministerium Bremen teilte mit, eine „schnelle Struktur zur gleichmäßigen Verteilung“ wäre eine große Hilfe. Die Stadt werde von Geflüchteten überproportional aufgesucht und richte derzeit Unterkünfte in Hallen ein, weil die Kapazitäten von regulären Aufnahmestellen ausgeschöpft seien. Man überlege gar, ganze Hotels anzumieten.

Aus Bayern heißt es wiederum, man bereite sich auf mehr als 100.000 Geflüchtete vor. In der aktuellen Notsituation würden bereits Sporthallen und andere leer stehende Gebäude genutzt. Es sei aber nun Aufgabe der Bundesregierung, eine „geordnete und gerechte Verteilung innerhalb Europas zu erreichen“. Hierzu müssten auch die Kosten geklärt werden.

Auch für viele der Zehntausenden, die in Berlin ankommen, ist die Stadt nicht das Ziel, sondern nur ein Zwischenstopp. Am Hauptbahnhof wird die Schlange zu den Bussen, die Geflüchtete in andere Bundesländer fährt, jeden Tag länger. Doch manche sind so müde und erschöpft, dass sie sich vor der Fahrt ausruhen müssen. Für sie suchen freiwillige Helfer eine private Unterkunft für die Nacht.

Logistikzentrum im Flughafen Tempelhof

Um die Lage zu entschärfen, forderte die Berliner CDU jüngst gar, den Katastrophenalarm in Berlin auszurufen.


(Foto: IMAGO/Marius Schwarz)

Durch ein Megafon ruft eine von ihnen: „Zwei Frauen brauchen Betten für eine Nacht in Berlin!“ Vor ihr stehen hinter rot-weißem Absperrband Berlinerinnen und Berliner, die selbst gebastelte Schilder in die Höhe halten. Darauf gezeichnet sind Strichmännchen und ein Haus. Die meisten Strichmännchen tragen einen Rock. Einen Mann aufnehmen will fast niemand. Eine Frau, die die beiden Ukrainerinnen aufnehmen kann, hebt die Hand. Die Ukrainerin fängt an zu weinen, die beiden Fremden nehmen sich in den Arm.

Eine feste Organisation gibt es hier nicht, vieles hängt vom Zufall ab – und dem unermüdlichen Einsatz der ehrenamtlichen Helfer. An der Essensausgabe fällt ein Helfer besonders auf, er hat es eiliger als seine Kollegen, rennt mit einem Klemmbrett durch die Gegend. Seinen Namen hat er mit Edding auf Kreppband geschrieben, das auf seiner Weste klebt, in der Zeitung lesen will er ihn aber nicht. Daneben stehen die Sprachen, die er spricht.

Der Student ist einer derjenigen, die die freiwilligen Helfer koordinieren. Gerade kontrolliert er, von welchen Lebensmitteln noch wie viel auf Lager ist, um die Bedarfsliste online zu aktualisieren. Kritik am Senat formuliert er vorsichtig: „Wir sehen uns hier als Brücke, bis offizielle Stellen übernehmen.“  

Flüchtlingshilfe

Im Hilfsprojekt Wilkommensklasse organisieren Schüler und Schülerinnen in Berlin Unterstützung für eintreffende Flüchtlinge aus der Ukraine.


(Foto: Nele Hoefler/Handelsblatt)

Deutlich kritischer klingt Nadima, die am zentralen Busbahnhof der Hauptstadt Logistik und Spenden koordiniert. Auch hier sind Tag und Nacht Freiwillige im Einsatz. „In Krisensituationen gilt es, immer vor der Lage zu handeln, das hat die Stadt leider wieder nicht geschafft“, sagt sie. Nadima ist Produktionsleiterin für Großveranstaltungen. Sie kennt sich damit aus, schnell große Infrastrukturen aufzubauen.

Was die Stadt aber leistet, reicht ihr nicht. „Es darf nicht sein, dass die Zivilgesellschaft diese Lücke schließt.“ Auf Dauer könnten die Freiwilligen das nicht mehr leisten, viele seien inzwischen übermüdet und traumatisiert.

Schule, Krankenversicherung, Jobs für die Geflüchteten

Ohne die Helfer wäre die Fluchtbewegung auch in anderen Städten nicht zu stemmen. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) lobte kürzlich die „tolle Leistung durch viele, viele – auch freiwillige – Helferinnen und Helfer“. Wohl wissend, dass die eigentlichen Herausforderungen erst nach der Aufnahme der Geflüchteten warten.

Unter ihnen sind viele Frauen und Kinder, die Gesundheitsversorgung, einen Betreuungs- oder Schulplatz und Arbeit benötigen. Darauf haben sie ein Anrecht, seitdem die Staatschefs der EU in der vergangenen Woche die „Massenzustromrichtlinie“ aktivierten.

Sascha, Margarita und Ivanka, die Kinder von Vita und Ljudmilla, gehen bereits seit der vergangenen Woche zur Schule. Das Kollegium am Carolinum-Gymnasium in Neustrelitz in Brandenburg hat innerhalb weniger Tage eine Willkommensklasse eingerichtet. Darin kommen alle ukrainischen Kinder zusammen, die in der Umgebung untergekommen sind. Die Klasse hat derzeit 25 Schüler im Alter von neun bis 20 Jahren.

Man müsse realistisch sein, erklärt Schulleiter Henry Tesch: „Es geht derzeit darum, den Kindern einfache deutsche Begriffe beizubringen, und vor allem darum, ihnen einen Alltag zu bieten und die Eltern zu entlasten.“

Das Alter spiele dabei erst mal keine Rolle. Zeitnah müssten die Länder aber mit der Umsetzung solcher Angebote an anderen Schulen nachziehen. „Jeder ruft uns an und will sein Kind bei uns unterbringen“, berichtet Tesch. Dabei könne die Schule derzeit nicht viel mehr Kinder aufnehmen.

Helfer in Berlin

Eine feste Organisation gibt es nicht, vieles hängt vom Zufall ab – und dem unermüdlichen Einsatz der ehrenamtlichen Helfer.


(Foto: Getty Images)

Die Kultusminister der Länder einigten sich mit dem Bund bereits darauf, die Beschulung geflüchteter Kinder unbürokratisch sicherzustellen und dabei auch Lehrkräfte aus der Ukraine einzubeziehen. In der Ukraine sind glücklicherweise fast alle Lehrinhalte der Schulen digitalisiert.

Unbürokratisch soll auch die Integration auf dem Arbeitsmarkt sein. „Viele der Menschen werden länger bleiben“, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) dem Handelsblatt „Deshalb werden wir auch unseren Arbeitsmarkt öffnen. Es kommt jetzt darauf an, dass wir schnell Möglichkeiten bieten, die deutsche Sprache zu lernen.“ Denn diese sei ein wichtiger Schlüssel für die Integration in Arbeit und Gesellschaft. „Wir werden deshalb den Zugang zu Integrationskursen ermöglichen und unser Informations- und Beratungsangebot öffnen.“

Auch DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel fordert, Geflüchtete „möglichst unkompliziert und schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren“. Es sollten vor allem Frauen gefördert werden. Auch das war 2015 noch anders, als viele – vor allem männliche – Geflüchtete lange auf eine Arbeitserlaubnis warten mussten. „Wichtig ist, dass die überwiegend gut qualifizierten Geflüchteten nicht in prekärer Beschäftigung landen, um dort Lücken zu füllen, wo wegen schlechter Arbeitsbedingungen keine inländischen Arbeitnehmerinnen mehr gefunden werden“, sagt Piel dem Handelsblatt.

Nichts zu tun kommt für Elena nicht infrage. Sie ist Lehrerin, unterrichtet Deutsch, Englisch und Italienisch. Weil sie online auch internationale Studenten lehrt, kann sie ihren Job von Fürstenberg in Brandenburg teilweise weiterführen. „Wenn ich nicht arbeite, weiß ich nicht, was ich meiner Tochter nächste Woche zu essen geben soll“, sagt sie unter Tränen.

Mitflüchtling Ljudmilla ist Angestellte bei der Stadtverwaltung in Kiew. Sie will nicht über ihre berufliche Zukunft in Deutschland sprechen. Für sie steht bereits fest, dass sie nicht in Deutschland bleiben will. Vita spielt schon jetzt mit dem Gedanken, zurück in die Ukraine zu gehen. Sie sorgt sich um die Menschen, die in der Ukraine in Gefahr sind. Sie sagt: „Ich will helfen, und von hier aus geht das nicht.“

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