Wie Präsident Erdogan in der Türkei einen Solarboom entfacht

Istanbul Deregulierungen bei den Vorgaben für private Solaranlagen haben in der Türkei einen massiven Investitionsboom entfacht. Mehr als zehn Milliarden US-Dollar flossen innerhalb von zwölf Monaten in den Bau kleiner Sonnenkraftwerke, zehnmal so viel wie in den Jahren davor. „Die Welle der Investitionen hat unsere Erwartungen weit übertroffen“, sagte der Leiter der Energie-Regulierungsbehörde EPDK, Mustafa Yilmaz, im Gespräch mit Journalisten.

In der Türkei können private Haushalte und Unternehmen schon jetzt ohne großen bürokratischen Aufwand Solaranlagen installieren. Seit vergangenem Jahr müssen sie sich dafür nicht mehr im Rahmen einer staatlichen Ausschreibung bewerben. Dabei kann es sich um Balkonkraftwerke handeln, um Solarzellen auf dem Fabrikdach oder um eine Photovoltaikanlage auf dem Acker.

Die in den Solaranlagen gewonnene Energie wird durch sogenannte Wechselrichter in Haushaltsstrom verwandelt und kann so umgehend lokal genutzt werden. Die neue Regulierung in der Türkei ist simpel und gibt vor, dass praktisch jeder eine solche Anlage betreiben kann, ohne dafür eine Genehmigung vom Staat oder Netzbetreiber einholen zu müssen. Erst ab einer gewissen Größe der Solaranlage ist eine solche Prozedur notwendig.

Das vor einem Jahr verabschiedete Gesetz erhöht die Schwelle, ab der eine solche Genehmigung nötig ist, von einem Megawatt auf fünf Megawatt. Damit können auch Supermärkte, Hotels, Firmen mit kleinen oder mittelgroßen Fabrikgebäuden oder Landwirtschaftsbetriebe ohne bürokratische Hürden Solarenergie produzieren. Behördenchef Yilmaz betont, dass dies den Aufwand für Verbraucher deutlich vereinfacht habe, Solarenergie für den Eigenverbrauch zu nutzen.

Solarenergie: Eine kleine Änderung sorgt für einen Boom

Das Ergebnis ist ein Investitionsboom, der mitten in einer Währungskrise zunächst einmal ungewöhnlich erscheint. Die türkische Inflation erreichte im Herbst vergangenen Jahres 85,5 Prozent und liegt immer noch bei rund 50 Prozent. Viele Türkinnen und Türken beklagen hohe Preise für Lebensmittel, Energie und andere Konsumgüter. 

Vor allem Hotels klagen über hohe Energiepreise für Warmwasser oder Klimaanlagen. Offenbar führen genau diese Preissteigerungen dazu, dass viele Firmen und Verbraucher investieren, vermuten Experten. Ziel sei es, durch die Modernisierung langfristig zu sparen.

Seit Beginn der neuen Regulierung mit dem Namen „Produzieren Sie Strom, wo Sie wollen, und verbrauchen Sie ihn, wo sie wollen“ sind so rund 14.000 kleinere Solaranlagen in Betrieb genommen worden und haben die Gesamtkapazität im Land um 2000 auf 13.500 Megawatt erhöht.

Wer mehr Energie erzeugt, kann mit dem überschüssigen Strom sogar noch Geld verdienen. Die Anpassung ermöglicht es den Verbrauchern, überschüssige Energie ins allgemeine Netz einzuspeisen und so zusätzliche Einnahmen zu erzielen, betont auch Behördenchef Yilmaz.

Neue Verordnung könnte auch die türkische Lira stützen

Experten sehen beim Ausbau der Sonnenenergie in der Türkei großes Potenzial. Obwohl in dem Mittelmeerland so häufig die Sonne scheint wie etwa in Spanien, finden sich in der Türkei noch deutlich weniger Solaranlagen. Selbst das wesentlich sonnenärmere Deutschland gewinnt fünfmal mehr Sonnenstrom als die Türkei. Derzeit erzeugen die vorhandenen Solarmodule in der Türkei etwa vier Prozent der Elektrizität in dem Land.

Das soll sich jetzt ändern. Bis zum Jahr 2035 will die Regierung die Solarkapazität vervierfachen. Ab diesem Jahr müssen Neubauten, deren Grundfläche 5000 Quadratmeter überschreitet, mindestens fünf Prozent ihres Energiebedarfs durch Eigenerzeugung selbst decken.

Der Solarboom hilft nicht nur der heimischen Wirtschaft, sondern könnte langfristig auch die türkische Lira stützen. Die Landeswährung leidet unter einem notorischen Leistungsbilanzdefizit – es wird mehr importiert als exportiert. Das Defizit kommt vor allem dadurch zustande, weil die Türkei jedes Jahr Milliarden für importierte Energie ausgeben muss. Wenn der Solarboom dieses Defizit auch nur verringert, indem er einen Teil der Energieimporte ersetzt, wäre der Lira bereits geholfen.

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Der große Plan des türkischen Staatschefs Erdogan könnte auch deutschen Firmen Aufträge bescheren. „Um das ambitionierte Ziel zu erreichen, benötigt die Türkei Investitionen und investitionsfördernde Mechanismen sowie Rahmenbedingungen“, erklärt Thilo Pahl, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer (AHK Türkei). „Aufgrund der steigenden Energiepreise im vergangenen Jahr haben unter anderem Unternehmen in der Türkei in eigene Solaranlagen investiert, um so von Preisentwicklungen unabhängig zu werden und Energiekosten nachhaltig zu senken.“

Sonnenkraftwerk in Kayseri

Die Türkei ist so sonnenreich wie Spanien. Dieses Potenzial will Erdogan nun verstärkt nutzen.

(Foto: Anadolu Agency/Getty Images)

Seit zwei Jahren produziert und verkauft etwa die deutsche Firma AE Solar im türkischen Kayseri Solarmodule. Die türkische Solarfirma Prime Enerji und das deutsche Unternehmen Intec Energy Solutions betreiben seit sechs Jahren gemeinsame Solarkraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 4,4 Megawatt.

Etwa 55 Prozent der installierten Kapazität der Türkei bestünden heute aus erneuerbaren Energiequellen, betonte Energieminister Alparslan Bayraktar im Juli. Damit liegt das Land weltweit auf Platz zwölf und in Europa auf Platz fünf. Beim Strommix, also dem Anteil an der Stromerzeugung, lagen die erneuerbaren Energien (Solar, Wind, Wasser, Geothermie) in der Türkei 2022 bei 42,5 Prozent.

Der im vergangenen Februar angekündigte Nationale Energieplan sieht vor, dass dieser Anteil bis 2035 auf 65 Prozent erhöht wird. Dazu plant die Regierung in Ankara laut Bayraktar, bis 2035 jedes Jahr Anlagen mit Kapazitäten von 3000 Megawatt für Solarenergie, 1500 Megawatt für Windenergie und insgesamt 5000 Megawatt aus Offshore-Windenergie in Betrieb zu nehmen.

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