Wie Kreml-Gegner über die Jahre angegriffen oder getötet wurden

Tallinn Während der knapp 25 Jahre, die der russische Staatschef Wladimir Putin an der Macht ist, hat es immer wieder Attentate auf seine Gegner gegeben. Bei den Anschlägen wurde unter anderem verseuchter Tee oder ein Nervengift eingesetzt.

Bislang war nichts darüber bekannt, dass ein Kreml-Kritiker, Spion oder investigativer Journalist mit einem Flugzeug getötet wurde. Doch am Mittwoch stürzte eine Privatmaschine in die Tiefe, nachdem sie zerbrochen war – an Bord soll sich der Chef der Söldnertruppe Wagner Jewgeni Prigoshin befunden haben.

Im August 2020 wird der Oppositionelle Alexej Nawalny auf einem Flug von Sibirien nach Moskau krank. Die Maschine landet in der Stadt Omsk, wo Nawalny im Koma im Krankenhaus behandelt wird. Zwei Tage später wird er nach Berlin geflogen, wo er sich erholt.

Aus seinem Umfeld heißt es beinahe sofort, dass er vergiftet worden sei. Die russischen Behörden bestreiten das. Labore in Deutschland, Frankreich und Schweden bestätigen eine Vergiftung mit einem Nervenkampfstoff aus der Sowjetzeit, Nowitschok.

Nawalny ist nach seiner Rückkehr nach Russland unter anderem wegen des Vorwurfs des Extremismus zu 19 Jahren Haft verurteilt worden. Nawalny bezeichnet die Vorwürfe gegen ihn als politisch motiviert.

2018 wird ein Gründer der Protestgruppe Pussy Riot, Pjotr Wersilow schwer krank. Auch er wird nach Berlin geflogen. Dort vermuten Ärzte eine Vergiftung. Wersilow erholt sich.

Vor seiner Erkrankung hatte er für eine Blamage des Kremls gesorgt, indem er während des Finales der Fußball-Weltmeisterschaft in Moskau gemeinsam mit drei weiteren Aktivisten auf das Spielfeld gerannt war. Damit protestierte er gegen Polizeibrutalität. Seine Verbündeten glauben, dass er wegen seiner Aktionen als Aktivist ins Visier genommen worden sein könnte.

Der prominente Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa hat nach eigenen Angaben 2015 und 2017 eine versuchte Vergiftung überlebt. Er stirbt zunächst beinahe an Nierenversagen.

Eine Ursache dafür wird nicht ermittelt. 2017 kommt er mit einer ähnlichen Erkrankung ins Krankenhaus, wo er in ein künstliches Koma versetzt wird. Seine Frau berichtet, die Ärzte hätten eine Vergiftung bestätigt.

Kara-Musa wurde in diesem Jahr wegen Hochverrats zu 25 Jahren Haft verurteilt.

Boris Nemzow

Der Oppositionspolitiker Boris Nemzow wird im Februar 2015 nahe der Kremlmauern aus einem Auto heraus erschossen.

(Foto: dpa)

Das aufsehenerregendste tödliche Attentat auf einen politischen Gegner in Russland war in den vergangenen Jahren der Fall Boris Nemzow. Der einstige stellvertretende Ministerpräsident unter Boris Jelzin war ein deutlicher Kritiker von Putin.

Er wurde im Februar 2015 von Angreifern auf einer Brücke nahe dem Kreml erschossen, als er mit seiner Freundin unterwegs war. Fünf Männer aus der russischen Region Tschetschenien wurden in dem Fall verurteilt, der mutmaßliche Schütze bekam bis zu 20 Jahre Haft. Nemzows Umfeld spricht aber von einem Versuch, die Verantwortung von der Regierung abzulenken.

Geheimdienstmitarbeiter

2006 wird der frühere KGB- und FSB-Agent Alexander Litwinenko in London schwer krank, nachdem er radioaktiv verseuchten Tee getrunken hat. Er stirbt drei Wochen später. Er hatte zur Ermordung der russischen Journalistin Anna Politkowskaja und mutmaßlichen Verbindungen des russischen Geheimdiensts zum organisierten Verbrechen ermittelt.

Einer britischen Untersuchung zufolge töteten russische Agenten Litwinenko, wahrscheinlich mit Zustimmung Putins. Der Kreml bestreitet eine Verwicklung.

Der frühere Geheimdienstoffizier Sergej Skripal überlebt eine Vergiftung 2018 in Großbritannien. Der Zustand von ihm und seiner erwachsenen Tochter Julia ist über mehrere Wochen kritisch. Der Angriff auf sie kostet eine Britin das Leben.

So berichtet das Handelsblatt über den Ukraine-Krieg:

Den Behörden zufolge wurde bei den Skripals Nowitschok eingesetzt. Großbritannien macht für die Vergiftung den russischen Geheimdienst verantwortlich, Moskau bestreitet eine Beteiligung. Putin nennt Skripal, der als Doppelagent für Großbritannien spionierte, einen „Drecksack“ ohne Bedeutung für den Kreml, weil er in Russland vor Gericht gestellt und 2010 Teil eines Agentenaustauschs gewesen sei.

Journalisten

Anna Politkowskaja von der Zeitung „Nowaja Gaseta“ wird an Putins Geburtstag im Oktober 2006 im Aufzug ihres Wohngebäudes in Moskau erschossen. Politkowskaja hatte internationale Aufmerksamkeit für ihre Berichterstattung zu Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bekommen. Ein Mann aus Tschetschenien wird wegen des Mordes zu 20 Jahren Haft verurteilt.

2003 stirbt der Reporter Juri Schtschekotschichin von „Nowaja Gaseta“ an einer plötzlichen und heftigen Erkrankung. Er hatte zu korrupten Geschäften und einer möglichen Verwicklung des russischen Sicherheitsdiensts in Bombenanschläge 1999 ermittelt, für die Aufständische aus Tschetschenien verantwortlich gemacht wurden. Seine Kollegen sagen, er sei vergiftet worden. Sie werfen den Behörden vor, die Ermittlungen bewusst zu behindern.

Jewgeni Prigoschin und ranghohe Offiziere

Bei dem Flugzeugabsturz am Mittwoch sollen Prigoschin und ranghohe Offiziere seiner privaten Söldnertruppe Wagner ums Leben gekommen sein – genau zwei Monate nach seinem bewaffneten Aufstand, den Putin als Verrat bezeichnet hat.

Jewgeni Prigoschin

Am Mittwoch soll der Wagner-Chef gestorben sein. Mutmaßlich durch ein Attentat.

(Foto: dpa)

Prigoschin war zwar kein Kritiker Putins, hatte aber die russische Militärführung scharf kritisiert und die Motive für den russischen Krieg in der Ukraine in Frage gezogen.

Eine vorläufige Einschätzung des US-Geheimdiensts kommt zu dem Ergebnis, dass der Absturz absichtlich mit einer Explosion herbeigeführt worden sei, wie aus westlichen Kreisen verlautete. Dabei sollen alle zehn Insassen getötet worden sein. Eine der Gewährspersonen sagte, die Explosion passe zu Putins langjährigen Bemühungen, „seine Kritiker zum Schweigen zu bringen“.

In seinen ersten öffentlichen Äußerungen zum Flugzeugabsturz schien Putin anzudeuten, dass er und Prigoschin kein schlechtes Verhältnis zueinander gehabt hätten. Der frühere Kreml-Redenschreiber Abbas Galljamow sagte aber: „Putin hat gezeigt, dass, wenn du ihm nicht ohne Frage Gehorsam leistest, er sich deiner ohne Gnade entledigen wird, wie eines Feindes, selbst wenn du offiziell ein Patriot bist.“

Mehr: Prigoschins Tod und Putins Schwäche – Wie die Macht des Kremlchefs erodiert

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