Wie junge Abgeordnete mit ihrer neuen Macht umgehen

Am Wahlabend, um kurz nach Mitternacht, sitzt Ria Schröder, 29, alleine auf dem Sofa in ihrer Wohnung und aktualisiert die Hochrechnungen auf einer Nachrichten-App. Sie wartet auf das vorläufige amtliche Wahlergebnis, will wissen, ob sie es geschafft hat und wirklich Mitglied der FDP-Fraktion im 20. Deutschen Bundestag werden wird. Aber auf ihrem Smartphone tut sich nichts mehr. Die Auszähler scheinen zu schlafen und irgendwann entscheidet sie, das Gleiche zu tun.

Ungefähr zur selben Zeit verlässt CDU-Bundestagskandidat Maximilian Mörseburg, 29, das Café Felix in der Stuttgarter Innenstadt. „Der Abend war ambivalent“, wird er später sagen. Erst das „katastrophale“ Wahlergebnis der CDU, dann der kurze Nervenkitzel, weil es zunächst ganz gut für ihn aussah und plötzlich sehr knapp.

Neben ihm saß Stefan Kaufmann, 52, Unionsspitzenkandidat für den Nachbarwahlkreis. Bei ihm war ziemlich schnell absehbar, dass er gegen seinen Konkurrenten, den Grünen-Politiker Cem Özdemir, keine Chance haben würde. Vor zwölf Jahren hatte Mörseburg ihm noch im Wahlkampf beim Plakateaufhängen geholfen. Nun muss er dem 23 Jahre älteren Parteikollegen beim Scheitern zuschauen.

Mittlerweile sind vier Wochen seit dem Wahlabend verstrichen. Was Ria Schröder und Max Mörseburg verbindet, ist nicht nur das junge Alter und die wirtschaftsfreundliche Einstellung – sondern auch die Verantwortung, die sie von nun an tragen.

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Ab der konstituierenden Sitzung an diesem Dienstag sind sie offiziell Mitglieder des 20. Deutschen Bundestags. Dann werden sie über Gesetze abstimmen, Reden halten, Empfänge besuchen, Lobbyisten treffen, mit Journalisten sprechen, Macht haben.

Neue Mandatsträger zwischen Wahl und Konstituierung

Für diesen Text wurden insgesamt vier neu gewählte Mandatsträger in den Wochen zwischen Wahl und Konstituierung begleitet. Alle sind in ihren 20ern. Allen werden künftig mehr als 10.000 Euro pro Monat zur Verfügung stehen.

Sie können mehrere Mitarbeiter anstellen, den Fahrservice nutzen, haben Anspruch auf eine Bürofläche von 54 Quadratmetern und einen speziellen Schutzstatus im Ausland. Wie gehen sie mit diesen Privilegien um? Und wie mit der Verantwortung?

In den Tagen nach der Wahl ist es im Bundestag sehr voll. Die gewählten Bewerber sind für die ersten Fraktionssitzungen aus ihren Wahlkreisen in die Hauptstadt gereist. Jakob Blankenburg, 24 Jahre alt und jüngstes Mitglied der neuen SPD-Fraktion, hat einen Raum abseits vom Trubel reserviert.

Jakob Blankenburg (SPD)

Der 24-Jährige absolvierte in den Herbstferien ein Praktikum im Büro von Lars Klingbeil.

Seine neue Büroleiterin ist auch dabei: Lina Tiburtius, 33 Jahre. Sie war vorher Mitarbeiterin bei Blankenburgs Vorgängerin Hiltrud Lotze, 62 Jahre. Wie das für sie sei, nun einen viel jüngeren Chef zu haben? „Ich habe mir da schon Gedanken drüber gemacht“, sagt Tiburtius. „Aber wir hatten dann mehrere Gespräche, in denen ich gemerkt habe, dass wir gut auskommen.“

Blankenburg erzählt, dass er schon im August zahlreiche Initiativbewerbungen erhalten habe, auch am Wahlabend seien einige SMS mit Interessensbekundungen bei ihm eingetrudelt. Unter den Bewerbungen seien sowohl welche von Berufseinsteigern als auch von Referenten, die seit Jahren im Bundestag arbeiteten.

„Mich ehrt beides“, sagt er und kramt dann in der Mappe mit den Infomaterialien, die er am Vormittag bekommen hat. Ihm steht, ebenso wie den anderen 734 Abgeordneten, ein Budget von 22.795 Euro für Mitarbeitende zur Verfügung. Außerdem kann er eine steuerfreie Pauschale in Höhe von knapp 4600 Euro verwalten, die für die Einrichtung und Unterhaltung seines Wahlkreisbüros vorgesehen ist. „Und dann habe ich heute Morgen noch gelernt, dass wir fünf Drucker und sieben PCs haben können und ich mir drei weitere kaufen kann“, sagt er.

Jakob Blankenburg war zuletzt Landesvorsitzender der Jusos in Niedersachsen. In der Oberstufe hatte er in den Herbstferien ein Praktikum im Abgeordnetenbüro von Lars Klingbeil gemacht. Jetzt, sechs Jahre später, hält er seinen eigenen Bundestagsausweis über den Tisch. Im Etui befindet sich auch ein Freifahrtschein der Deutschen Bahn. Für die erste Klasse. Aber mit der sei er noch nie gefahren und habe das auch künftig nicht vor.

Lucks will sich nicht an Luxus gewöhnen

Zwei Stockwerke weiter oben, auf der Fraktionsebene, sitzt Max Lucks, 24, ehemals Bundessprecher der Grünen Jugend, nun: Fraktionsmitglied. Er ist in den Tagen nach der Wahl noch ohne Mitarbeiter im Bundestag unterwegs. Ohnehin wirkt bei ihm alles relativ spontan.

Max Lucks (Grüne)

Der 24-Jährige hat im Wahlkampf seine Bachelorarbeit fertig geschrieben, war bis 2019 Bundessprecher der Grünen Jugend.

Die Zugfahrkarte nach Berlin hatte er erst Montagmorgen am Bochumer Hauptbahnhof gekauft, eine Minute bevor die Bahn einfuhr, leicht verkatert von der Wahlparty. Sein Dispo hatte dafür herhalten müssen. Aber er weiß ja jetzt, dass er bald ziemlich viel Geld verdienen wird.

Trotzdem will Lucks sich nicht zu sehr an Luxus gewöhnen. Für die Sitzungswochen sucht er gerade nach einem WG-Zimmer in Berlin. Ihm gefällt die Vorstellung, nach langen Arbeitstagen an einen Ort zu kommen, der mit seinem Alltag im Parlament nichts zu tun hat. Einen Ort, an dem sich das vermeintlich „echte“ Leben abspielt.

Auch Ria Schröder sagt, dass sie sich trotz der neuen Aufgaben vorgenommen habe, weiterhin Dinge zu tun, die man in ihrem Alter so tut: in Bars gehen, tanzen, Freunde treffen. Sie will möglichst oft mit dem Berlkönig oder der Bahn ins Büro fahren und möglichst selten mit dem Fahrdienst. „Natürlich wird sich mein Leben verändern, aber wenn ich gar nicht mehr lebe wie ein junger Mensch, dann fällt es auch immer schwerer, die Perspektive im Blick zu behalten.“

Im neuen Parlament werden 48 Mitglieder, also 6,5 Prozent, unter 30 Jahre alt sein. Das gab es noch nie. In den vorherigen Wahlperioden lag der Anteil der unter 30-Jährigen zu keiner Zeit über vier Prozent. Allerdings sind die jungen Neuen sehr ungleich verteilt: In der SPD-Fraktion gibt es 20 Mitglieder unter 30, in der Unionsfraktion drei.

Mörseburg fehlen die Altersgenossen

Bei der konstituierenden Unionsfraktionssitzung, am Dienstag nach der Wahl fehlen dem 29-jährigen Maximilian Mörseburg die Altersgenossen besonders. Es ist das erste Zusammenkommen nach dem Wahldesaster. Auch die Kanzlerin ist mit im Plenarsaal.

Maximilian Mörseburg (CDU)

Der 29-Jährige ist Jurist und stellvertretender CDU-Fraktionsvorsitzender im Stuttgarter Stadtrat.

Mörseburg sitzt zum zweiten Mal auf dem blauen Sessel vor dem metallenen Adler. Beim ersten Mal war er 16 Jahre alt und hatte bei „Jugend und Parlament“ mitgemacht, einem Angebot vom Bundestag für politisch interessierte Jugendliche, bei dem Gesetzesinitiativen simuliert werden.

Nun steht CDU-Chef Armin Laschet vor ihm am Rednerpult und räumt zaghaft Fehler im Wahlkampf ein. Ob Mörseburg überlegt habe, während der Sitzung etwas zu sagen? „Ich hätte Dinge zu sagen gehabt, aber ich hätte mich da auf jeden Fall nicht zu Wort gemeldet.“

Warum? „Da hätte ich schon einen sehr, sehr guten Grund gebraucht.“ Was er denn hätte sagen wollen? „Ich hätte gerne darauf hingewiesen, dass wir uns jetzt wirklich neu aufstellen müssen. Das wurde teilweise angedeutet, aber manchen habe ich das nicht ganz abgekauft.“ Allerdings, sagt Mörseburg, sei er nie der Typ gewesen, der schnipsend in der ersten Reihe gestanden habe.

Zwei Tage später will er zurück in seinen Wahlkreis nach Stuttgart fliegen. Am Morgen macht er einen prophylaktischen Corona-Schnelltest. Der ist positiv. Wird jetzt eine Rundmail verschickt, die alle Fraktionsmitglieder über den infizierten Neuling informiert? Er muss einen PCR-Test machen, auf das Ergebnis warten, eine ungeplante Pause einlegen.

Er fährt zu seiner Schwester, bei der er, wenn er in Berlin ist, unterkommt. Sie unterhalten sich durch die geschlossene Tür. Mörseburg hat endlich mal Zeit, über die vergangenen Wochen nachzudenken und seinen neuen Dienstlaptop einzurichten. Dann ist der Test negativ. Er kann wieder los.

Stressiger Alltag

Alle vier haben sich mit der Kandidatur auch für einen stressigen Alltag entschieden. In den Wochen nach der Wahl verschicken sie Nachrichten zu merkwürdigen Uhrzeiten, morgens um 5.47 Uhr und abends um 22.12 Uhr. Nur irgendwann am Sonntagnachmittag scheinen einige ihre Handys für ein paar Stunden ausgeschaltet zu haben. Whatsapp-Nachrichten werden nicht mehr übermittelt. Nur noch ein Haken. Pause.

Es gibt eine 3sat-Doku, die vor einigen Jahren das Leben von fünf Bundestagsabgeordneten über einen längeren Zeitraum begleitet hat. Ein glanzloser Alltag wird da präsentiert und der Eindruck erweckt, dass die Leidtragenden der repräsentativen Demokratie vor allem die Repräsentanten selbst sind.

Zwei Wochen nach der Wahl: Blankenburg ist in Berlin mit seinem Team verabredet. Er hat mittlerweile neben seiner Büroleiterin noch einen Social-Media-Manager und eine Mitarbeiterin, die sich um Organisatorisches kümmert.

Blankenburg ist zuerst da und wartet vor dem Raum auf die anderen. Er ist jetzt doch in der ersten Klasse aus Lüneburg angereist. Allerdings ist er auch gesundheitlich angeschlagen, hatte das Wochenende im Bett verbracht. Es ist das erste Treffen in der neuen Konstellation. Tiburtius verteilt einen Ausdruck von Blankenburgs Terminen im Oktober. Ob das Pensum für ihn in der vergangenen Woche okay gewesen sei, fragt sie. „Ja, voll. Wenn ich eine Mittagspause brauche, nehme ich mir die schon.“

Dann fragt Blankenburg sein Team, wie es das mit der Arbeitszeiterfassung regeln wolle. Er googelt nach Programmen. „Kennt ihr eine fancy App oder so was?“ Das Team schüttelt den Kopf. Ob Blankenburg sich auch die Stunden aufschreiben wird? „Nein, es gibt keine Arbeitszeit für Mandatsträger.“ Er rechne aber in den Sitzungswochen mit einem wöchentlichen Arbeitsaufwand von 70 bis 90 Stunden. Die sitzungsfreien Wochen könne er dann vielleicht etwas flexibler einteilen. „Aber wenn ich da dann nur zehn Stunden arbeite, werde ich meinem Anspruch nicht gerecht.“

Mandatsträger wollen sich sachpolitisch etablieren

Bei allen vier merkt man, dass sie ihr Mandat in den kommenden vier Jahren sehr gewissenhaft ausführen wollen. Und sie wollen sich sachpolitisch etablieren. Schröder will am liebsten in den Bildungsausschuss. Blankenburg mag sich noch nicht festlegen. Mörseburg will in den Wirtschafts- und Lucks in den Menschenrechtsausschuss.

Max Lucks hat mittlerweile ebenfalls ein Team um sich versammelt. Zwei Mitarbeiter sind aus Nordrhein-Westfalen per Zoom zugeschaltet, zwei weitere sitzen mit ihm in einem großen Konferenzraum im Jakob-Kaiser-Haus.

Lucks eröffnet seinem Team, dass er gerne in der kommenden Woche in die Türkei reisen würde, um den Prozess des Bochumers Mahmut Günes zu beobachten. Der ist wegen Terrorpropaganda angeklagt, die er auf Twitter verbreitet haben soll, und wurde festgenommen, als er im August seine Familie besuchen wollte.

New Bundestag Holds Constituting Session Following September Federal Elections


(Foto: Getty Images)

Lucks’ Büroleiterin schaut skeptisch. „Das könnte schwierig werden, weil du gerade noch nicht den Status eines richtigen Abgeordneten hast.“ Wie haben das denn Menschen vor mir in meiner Lage gemacht, fragt Lucks. „Ich glaube, das hat es noch nicht oft gegeben“, sagt die Büroleiterin.

Eine Woche später: Max Lucks läuft mit seinem neuen Mitarbeiter Marcel Schröder durch das Bundestagsgebäude. Das mit der Prozessbeobachtung in der Türkei hat nicht geklappt, war zu kurzfristig.

Günes wurde zu fast drei Jahren Haft verurteilt. Am Vormittag hat Lucks die Schlüssel für sein neues Übergangsbüro bekommen. In den kommenden Tagen folgen die für seine neue Wohnung. Gute Lage, leider Neubau, aber dafür: alleine. Doch keine WG. Die vergangenen Wochen hätten ihm gezeigt, wie stressig das Leben als Abgeordneter werden würde, sagt Lucks. Da könne er sich gut vorstellen, abends mal ein bisschen Ruhe zu brauchen.

Macht sich der Altersunterschied bemerkbar?

Acht Tage vor der konstituierenden Sitzung: Ria Schröder versucht sich in ihrem Übergangsbüro von Katja Suding in das W-Lan einzuloggen, aber es funktioniert nicht. Sie muss anrufen. Schröder war, ebenso wie die anderen drei, noch ein Kind, als Angela Merkel Kanzlerin wurde.

Ria Schröder (FDP)

Die 29-Jährige versuchte bereits 2017 für die FDP den Sprung in den Bundestag – damals noch erfolglos.


(Foto: FDP)

Sie kennt das Leben ohne Smartphone nur noch gerade so und den Altkanzler Gerhard Schröder vermutlich am besten über den Instagram-Account seiner Frau @soyeonschroederkim. Einige ihrer Fraktionskollegen sind 40 Jahre älter als sie.

Schröder kann aus ihrer Erfahrung, aus zwei Jahren JuLi-Vorsitz berichten, dass sich die Jungen parteiübergreifend „herrlich“ streiten könnten, aber dabei auch „unheimlich“ produktiv seien. Ob sie sich manchmal besser mit jungen Grünen als mit alten Liberalen verstünde? Schröder überlegt. „Das würde ich so nicht sagen.“

Doch natürlich bekämen die Jungen manchmal andere Debatten mit als die Älteren, einfach weil sie sich mehr in sozialen Medien rumtreiben würden. „Die sehen die gleichen Videos wie ich auf Instagram oder die gleiche Netflix-Serie und kennen die Kontroversen, die die hervorgerufen haben. Deshalb hat man dann manchmal leichter Anknüpfungspunkte.“

Insgesamt herrsche da so ein Grundrespekt unter den Youngsters. „Junge Menschen, die sich politisch engagieren und zwar so sehr, dass sie sich in ihren Jugendverbänden die Wochenenden um die Ohren schlagen, das verbindet einen, unabhängig davon, in welcher politischen Couleur man jetzt unterwegs ist.“ An diesem Dienstag werden die Fraktionen erstmals aufeinandertreffen. Auch die vier.

Dieser Text ist zuerst im Tagesspiegel erschienen

Mehr: Ein bunteres Parlament für eine neue Zeit schadet der Demokratie nicht. Ein Kommentar.

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