Wie dramatisch sich das Land verändert hat

Berlin Als ich vor rund drei Jahren als China-Korrespondentin in Peking anfing, hatte ich eines meiner ersten Gespräche mit Matthias Claussen, Partner bei Melchers, dem ältesten in China tätigen deutschen Unternehmen. Claussen gehörte zu den ersten Geschäftsleuten, die nach der Öffnung Chinas in den 80er-Jahren die wirtschaftlichen Möglichkeiten in dem bis dato weitgehend abgeschotteten Land nutzen wollten. Damals, so erzählte er, gab es so wenige Ausländer in China, dass sie alle in das Beijing-Hotel nahe dem Platz des Himmlischen Friedens passten.

Nur ein paar Jahrzehnte später hatte sich Chinas Handel mit der Welt rasant entwickelt. Das Bruttoinlandsprodukt in US-Dollar stieg um 4000 Prozent innerhalb von nur 20 Jahren, der Außenhandel explodierte um 4800 Prozent. Vor Beginn der Coronapandemie flogen jeden Tag im Durchschnitt rund 382.000 Menschen aus aller Welt von und nach China. So sah die Realität aus, als Claussen und ich sprachen und ich meine Stelle in Peking antrat. 

Heute, zweieinhalb Jahre später, ist das China, das ich in jenen ersten Monaten meiner Zeit als Korrespondentin kennengelernt hatte, verschwunden. Wegen der strengen Ein- und Ausreiseregeln flogen 2021 gerade mal rund 8.400 Menschen pro Tag nach oder aus China. Das Wirtschaftswachstum hat sich – auch wegen der drastischen Corona-Lockdowns – deutlich verlangsamt. Experten wie die Weltbank rechnen mit 4,3 Prozent in diesem Jahr.

Die Stimmung der Unternehmen ist im Keller, der Konsum der Chinesen auch. Hinzu kommt eine von der Regierung gemachte schwere Immobilienkrise, die die Einnahmen der ohnehin überschuldeten öffentlichen Haushalte einbrechen lässt. Schwer lastet auf der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt auch die Aussicht, dass nur ein Bruchteil der zehn Millionen jungen Chinesen, die in diesem Jahr die Uni abschließen, einen Job bekommen wird – und das bei einer gefährlichen Überalterung der Gesellschaft. Schon jetzt liegt die Arbeitslosigkeit in der jungen Bevölkerungsgruppe in Chinas großen Städten auf einem Rekordhoch von 18,4 Prozent.

Top-Jobs des Tages

Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.

Die herrschende Kommunistische Partei ist dabei, so gut wie alles abzuwickeln, was China erfolgreich gemacht hat. Die Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft hat in den vergangenen drei Jahren deutlich zugenommen. Peking schottet sich vom Ausland ab – und wird zu einer immer größeren Gefahr für den Weltfrieden.

1. Totale Kontrolle

Für meinen letzten Ausflug in China will ich mit Freunden an der Großen Mauer nahe Peking zelten – inzwischen aufgrund der Null-Covid-Politik der chinesischen Staatsführung ein risikoreiches Unterfangen. Peking hatte in den vergangenen Monaten den für China schwersten Ausbruch von Corona-Fällen seit Beginn der Pandemie. Schwer, das beutetet rund 50 neue Infektionen pro Tag – bei rund 22 Millionen Einwohnern.

Staats- und Parteichef Xi Jinping hat die rigide Null-Corona-Strategie zur Ideologie gemacht. Ob sie Erfolg hat oder nicht, fällt unmittelbar auf den mächtigsten chinesischen Führer seit Mao Zedong zurück. Aus diesem Grund steht alles andere – die Bedürfnisse der Bürger, die Wirtschaft – dahinter zurück. Wer auch nur in die Nähe eines Infizierten kommt oder Kontakt mit einer Kontaktperson eines Infizierten hat, wird für Tage oder Wochen in seine Wohnung eingesperrt oder muss in ein spezielles Hotel, das er nicht verlassen darf.

Um die strengen Regeln durchzusetzen, hat China in den vergangenen Jahren ein enges Netz an Kontrollen gespannt. Ein Netz, das alles und jeden einfängt, auch mich.

Als wir an dem Ort ankommen, an dem die Wanderung zur Großen Mauer beginnen soll, stehen wir erst einmal vor einer Schranke. Seit Beginn des Jahres haben die Dörfer rund um Peking herum angefangen, solche Barrieren zu installieren, inklusive Wachhäuschen.

>>Lesen Sie hier: Warum Pekings Rückzieher bei der Impfnachweispflicht das Ende der Null-Covid-Politik verzögern könnte

Die Dorfaufpasser erwarten uns schon. „Gesundheitscode scannen!“, fordert uns eine ältere Frau auf Chinesisch auf und schiebt einen QR-Code durch das geöffnete Fenster unseres Autos. Wir zücken routiniert unsere Handys und scannen einer nach dem anderen den Code. Der registriert nun, dass wir an diesem Ort waren. Die App leuchtet Grün, wir können weiterfahren. Doch wir kommen nicht weit. Ein paar Hundert Meter weiter steht schon die nächste Sperre: ein frisch installiertes drei Meter hohes Eisentor, ein Wachmann. Das gleiche Prozedere.

100

Kameras

haben die Autorin auf ihrem 15-minütigen Fahrradweg von der Wohnung ins Pekinger Handelsblatt-Büro beobachtet.

Der Healthcode bestimmt inzwischen den Alltag in China. Wer in ein Restaurant, einen Supermarkt, zum Arzt, Frisör, in die U-Bahn, in den Bus, ins Taxi und selbst in seine Wohnanlage will, muss einen grünen Healthcode vorzeigen und einen Test, der nicht älter als 48 Stunden ist.

Schon vor der Coronapandemie war die Überwachung im Alltag allgegenwärtig. Auf meinem 15-minütigen Fahrradweg von meiner Wohnung ins Büro beobachteten mich täglich mehr als 100 Kameras. Im Namen der Pandemieprävention sammelt die chinesische Regierung nun einen Datenschatz, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Und sie baut mit dem Gesundheitscode ein machtvolles Werkzeug der Unterdrückung immer weiter aus.

Nicht nur bedeuten die ständigen Kontrollen einen bisher nie da gewesenen Eingriff des Staates in die Privatsphäre der chinesischen Bürger. Die dauernde Quarantänegefahr – die für viele mit dem kompletten Wegfall des Einkommens einhergeht – lähmt Wirtschaft und Gesellschaft. Dennoch ist eine baldige Abkehr von der drakonischen Null-Fall-Strategie nicht absehbar.

2. Hongkong – eine Warnung

Gleich zu Beginn meiner Zeit in China im Jahr 2019 kaufte ich mir eine Warnweste, einen Helm und eine Gasmaske und flog nach Hongkong, um über die immer heftiger werdenden Demokratie-Proteste zu berichten. Damals brachten einen die rund vier Stunden Flugzeit noch in eine Welt, die mit Peking nur wenig gemein hatte. Der größte Unterschied: Niemand scheute sich davor, seine ehrliche Meinung über die Hongkonger Regierung oder die chinesische Staatsführung zu sagen.

Proteste in Hongkong

Ein Demonstrant wirft 2019 einen Molotowcocktail auf die Polizei in der Nähe der Polytechnischen Universität in Hongkong.

(Foto: dpa)

Die Demonstranten hatten damals Angst, dass Peking den Druck auf Hongkong weiter erhöht und in der liberalen Metropole bald das gleiche repressive System herrschen könnte wie im Rest Chinas. Weil die von Peking installierte Hongkonger Regierung mit immer heftigerer Gewalt die Proteste zu ersticken versuchte, hatten sich im November 2019 Hunderte Protestierende in der Polytechnischen Universität verschanzt.

Der Campus glich einer Militärbasis. Im Untergeschoss eines der Hörsaalgebäude war die Zentrale eingerichtet. Ein Vorraum diente als Lager für Ersatzbatterien, Ladekabel und Schutzhelme, die Turnhalle als Schlaflager. In der Mensa stapelte sich gespendetes Essen.

>>Lesen Sie auch: Niedergang einer Finanzmetropole – Wie Chinas strenges Regiment Hongkong schwächt

Ich kam mit einem jungen Mann ins Gespräch, der bei der Organisation half, er stellte sich mit seinem Vornamen vor: Maverick. Ein Satz von Maverick brachte die ganze Verzweiflung der Protestierenden zum Ausdruck: „Wenn wir brennen, dann brennen sie mit uns.“ Mit „sie“ meinte Maverick die chinesische Staatsführung und die Hongkonger Regierung.

Wenn wir brennen, dann brennen sie mit uns. „Maverick“, ein Pro-Demokratie-Demonstrant 2019 in Hongkong über die Strategie seiner Gruppe gegenüber dem Regime in Peking.

Mavericks Hoffnung: Wenn Hongkong schon nicht vor dem harten Griff Pekings gerettet werden kann, soll zumindest durch die Proteste dem Finanzstandort Hongkong Schaden zugefügt werden, damit chinesische Firmen ihn nicht mehr als Kapitalquelle nutzen können und die internationale Reputation Pekings Schaden nimmt. Immerhin hatte China bei der Rückgabe der ehemaligen britischen Kronkolonie im Jahr 1997 versprochen, der Metropole für 50 Jahre „weitgehende Autonomie“ zu gewähren.

Heute ist Hongkong nur noch ein Schatten dessen, was es bei meinem Besuch vor gut zwei Jahren war. Das von Peking im Jahr 2020 erlassene Nationale Sicherheitsgesetz hat praktisch alles in Hongkong unter Strafe gestellt, was das Regime auch nur ansatzweise infrage stellt. Mehr als 180 Menschen sind inhaftiert, weil sie die Hongkonger Regierung oder Peking kritisiert haben.

Doch brennt Hongkong? Brennt Peking? Nein. Es gab ein kurzes Auflodern der Proteste, aber im Grunde muss man feststellen: Für Peking hatte es kaum Konsequenzen, das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ entgegen seinen internationalen Zusagen de facto ausgehebelt zu haben.

3. China als Gefahr für den Weltfrieden

Mit ihrem Vorgehen in Hongkong hat die chinesische Staatsführung gezeigt, dass sie sich nicht an Absprachen hält, wenn diese nicht mehr in ihrem Interesse sind.

Der Verlust Hongkongs mag für die internationale Gemeinschaft noch verkraftbar sein. Ganz anders sieht es jedoch mit Blick auf Taiwan aus. In den vergangenen drei Jahren ist Peking immer aggressiver gegenüber dem Inselstaat aufgetreten. Die chinesische Staatsführung betrachtet das Land als Teil ihres Territoriums, obwohl Taiwan eigene Gesetze und eine eigene Regierung hat und auch nie zur Volksrepublik gehört hat. Xi Jinping strebt eine „Wiedervereinigung“ an. Notfalls, so glauben Experten, auch mit Gewalt.

Wie eine Erhebung des Sicherheitsexperten Gerald Brown zeigt, stieg die Anzahl von Einsätzen der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Taiwans Luftverteidigungs-Identifikationszone (ADIZ) von etwa 20 im Jahr 2019 auf rund 972 im Jahr 2021. Falls China irgendwann tatsächlich Taiwan angreift, würden die weltweiten Folgen deutlich über die des Ukrainekriegs hinausgehen. Denn die USA haben bereits signalisiert, dass sie, anders als im Ukrainekrieg, in diesem Fall auch militärisch eingreifen würden.

Skyline der taiwanischen Hauptstadt Taipei

Die chinesische Staatsführung betrachtet Taiwan als Teil ihres Territoriums, obwohl das Land nie zur Volksrepublik gehört hat.


(Foto: Bloomberg)

Für die heftigste Irritation in jüngster Zeit sorgte in Europa die Haltung Pekings im Ukrainekrieg. Kurz vor der Invasion Russlands hatten sich Xi und Russlands Präsident Wladimir Putin eine Freundschaft geschworen, bei der es „keine Grenze“ geben soll. Seit Beginn des russischen Angriffs gibt China der Nato und den USA die Schuld an der Eskalation. Selbst gegenüber engsten Handelspartnern tritt die chinesische Staatsführung immer konfrontativer auf.

4. China schottet sich ab

„Wir müssen Handelsschranken abbauen, die Stabilität der globalen Industrie- und Lieferketten aufrechterhalten und zusammenarbeiten, um die immer schwerwiegenderen Lebensmittel- und Energiekrisen zu bewältigen“, sagte Xi Jinping im Juni per Videoschalte beim russischen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg. Klingt wie etwas, das auch die deutsche Bundesregierung und internationale Wirtschaftsvertreter sofort unterschreiben würden. Doch in der Realität handelt China anders.

Das Land koppelt sich bereits seit Jahren ab, das zeigte sich bereits im Jahr 2015 bei der „Made in China 2025“-Strategie, mit der die Staatsführung in bestimmten Technologien autarker werden wollte. 2020 kam der Nachfolger: Die „Dual Circulation“-Strategie oder auch „Doppelter Kreislauf“. Das Ziel: Wichtige Produkte sollen im besten Fall nur noch von chinesischen Unternehmen hergestellt werden. China verringere seine Abhängigkeit von der EU und Deutschland, heißt es in einer aktuellen Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). „Vor allem, weil Chinas Handelsoffenheit seit rund 15 Jahren sinkt.“

Auch politisch schottet sich die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ab. Xi Jinping hat seit zweieinhalb Jahren China nicht mehr verlassen. In die Volksrepublik kommt aufgrund der strengen Einreisebeschränkungen kaum ein internationaler Regierungsvertreter von hohem Rang mehr, auf der Arbeitsebene gibt es ohnehin nur noch selten internationalen Austausch. Auch die Chefs der Dax-Konzerne bleiben dem Land seit Beginn der Pandemie fern.

Noch im September 2019 reiste Bundeskanzlerin Angela Merkel mit großer Wirtschaftsdelegation nach Peking. Ich war dabei, als in der großen Halle des Volkes in Peking die Vorstandsvorsitzenden von Konzernen wie Siemens und Allianz einer nach dem anderen Verträge und Absichtserklärungen unterschrieben.

Angela Merkel und Xi Jinping

Noch im September 2019 reiste die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit großer Wirtschaftsdelegation nach Peking. 


(Foto: imago images / Xinhua)

Heute ist eine solche Reise schlicht nicht mehr vorstellbar. Allein schon deshalb nicht, weil Berlin entschlossen scheint, die schweren Menschenrechtsvergehen etwa an der muslimischen Minderheit der Uiguren in der westchinesischen Provinz Xinjiang nicht mehr weitestgehend zur ignorieren. Dabei war es genau der Austausch mit dem Ausland, der China in den vergangenen Jahrzehnten groß gemacht hat.

Wer sich Zeit nimmt für China, der trifft trotz staatlicher Repression und schwieriger werdender Bedingungen interessante Persönlichkeiten und unermüdliche Unternehmer. So wie William Li, den Chef des Autoherstellers Nio, der es mit staatlicher Unterstützung mit Tesla aufnehmen will. Oder Samuel Fu, ein ehemaliger VW-Manager, der sich mit seinem Unternehmen Aiways anschickt, den Markt für Elektroautos in Deutschland aufzumischen.
Chinas Potenzial bleibt riesig. Aber dass es das auch ausschöpfen kann, wird immer zweifelhafter.

Die Autorin war von 2019 bis 2022 Korrespondentin des Handelsblatts in Peking.

Mehr: Peking hat ein Image-Problem: Wie die Welt jetzt auf China blickt.

source site-11