Wie die Ukraine sich unabhängig von westlichen Waffen machen will

Wien Munition brauche er, keine Mitfahrgelegenheit. Das soll der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski am 24. Februar 2022 den Amerikanern entgegnet haben, als sie ihm eine Evakuierung anboten.

16 Monate nach Kriegsbeginn ist die Frage, wie Kiew zu mehr Munition kommt, noch immer nicht vollständig gelöst: Der Verteidigungskrieg gegen Russland verbraucht enorme Mengen von Granaten und Raketen, und die Ukraine produziert kaum eigene davon.

Unterstützung erhält das Land von den westlichen Partnern. Sie haben der Ukraine bis Ende Mai Militärgüter im Wert von mehr als 73 Milliarden Euro geliefert. Alleine die Zahl der Artilleriegeschosse geht in die Millionen.

Die riesigen Mengen bringen die Rüstungsindustrien in Europa und sogar den USA an ihre Grenzen. Dazu kommt, dass die modernen Waffen aus Nato-Beständen ein anderes Kaliber nutzen als der Großteil der ukrainischen Geschütze aus sowjetischer Zeit.

Kiew hat es nun zur Priorität erklärt, weniger abhängig von ausländischen Waffenlieferungen zu werden. Die Ukraine werde Waffen und Munition zukünftig komplett selbst produzieren, kündigte Selenski Ende Juni an.

Ukraine produziert nur wenig Munition

Dafür sorgen soll Olexander Kamischin, der im März das Ministerium für strategische Industrien übernommen hatte. Diesem untersteht auch der staatliche Rüstungskonzern Ukroboronprom.

Im Juni, so sagte der 39-jährige Manager gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg, sei mehr Munition hergestellt worden als im gesamten vergangenen Jahr. Eine große Errungenschaft sei das aber nicht. „Wir produzierten 2022 dermaßen wenig.“

Bekannt ist dazu lediglich, dass die im März 2022 auf 34 Prozent des Vorkriegsniveaus gesunkene produzierte Menge ein Jahr später bei 138 Prozent des Vorkriegsniveaus lag.

Kamischin hatte vor dem Krieg 2021 die Leitung der staatlichen Eisenbahngesellschaft übernommen. Deren Netz blieb trotz ständiger russischer Angriffe die zentrale Rettungsleine für Flüchtlinge, Versorgungsgüter und das Militär.

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Im Vergleich zur Eisenbahn gilt die Rüstungsindustrie allerdings als deutlich stärker heruntergewirtschaftet und systematisch von Korruption durchsetzt. Die Gründe verorten Beobachter in der Entstehungsgeschichte des Konglomerats Ukroboronprom.

Der prorussische Präsident Wiktor Janukowitsch gründete den Konzern 2010 nach dem Vorbild des russischen Pendants Rostec. Vor Moskaus Invasion unterstanden dem Konzern 66.000 Mitarbeiter in 137 Unternehmen.

Im Prinzip verfügt die Ukraine als Erbe der Sowjetära über eine riesige Rüstungsindustrie, die das Land 2012 zum weltweit viertgrößten Waffenexporteur machte.

Korruption ist großes Problem bei der Beschaffung

Ein Jahrzehnt später war die Menge auf ein Zehntel eingebrochen. Das liegt zum einen am Eigenbedarf für den Krieg in der Ostukraine, durch den zudem Russland als Kunde wegfiel, und zum anderen an intransparenten Bestimmungen, die dazu führten, dass Firmen abwanderten und viel Know-how verloren ging.

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Ukroboronprom hat eine heikle Doppelrolle als Produzent und Regulator inne, da der staatliche Konzern Exportlizenzen vergibt und selbst Militärgüter aller Art herstellt. Viele Aspekte der Beschaffungen des ukrainischen Verteidigungsministeriums unterliegen der Geheimhaltung; der Krieg hat nach Korruptionsfällen errungene Fortschritte bei Transparenzregeln teilweise sogar wieder zunichtegemacht.

Die militärischen Hilfen aus dem Westen seit Kriegsbeginn bergen ein erhöhtes Korruptionsrisiko. Gleichzeitig gibt es einen größeren Reformdruck, etwa durch die Nachfrage der ukrainischen Streitkräfte und Bedenken der Unterstützer aus dem Ausland.  

Eine deutsche Panzerhaubitze 2000 der ukrainischen Armee

Die Ukraine hat aus dem Ausland Waffenlieferungen in Milliardenhöhe erhalten.

(Foto: dpa)

Zusammen mit Kamischins Amtsantritt wurde Ukroboronprom in eine private Aktiengesellschaft namens Ukrainian Defence Industry umgewandelt.

Kamischin setzte den bisherigen Vorsitzenden, Jurij Husjew, im Juni ab. Dieser hatte Selenski laut Medienberichten durch das langsame Produktionstempo verärgert.

Angehängt wurden Kamischins Vorgänger auch Versäumnisse bei der Entwicklung von Kurzstreckenraketen des Typs Hrim-2. Weder stehen diese in genügender Menge zur Verfügung, noch stimmt die Qualität. Anfang des Jahres kam es wegen der angeblichen Lieferung von minderwertigem Material sogar zu Verhaftungen.

Neuer Vorsitzender von Ukrainian Defence Industry wurde der junge Manager Herman Smetanin. Er gilt als Spezialist für gepanzerte Fahrzeuge. Zuletzt hatte Smetanin die Panzerfabrik Malischew in Charkiw geleitet, welche die Produktion auch während der Belagerung letztes Jahr weiterführte.

Ukraine will verstärkt eigene Kampfpanzer produzieren

Die verstärkte Produktion vor allem des Kampfpanzers Oplot, der ukrainischen Version des sowjetischen T-84, stellt neben der Munition eine weitere Priorität Kiews dar.

Oplot-Panzer bei einer Ausstellung

Die ukrainische Regierung will den Kampfpanzer verstärkt produzieren.

(Foto: dapd)

Dass das Panzerwerk statt Dutzender von Oplots in den vergangenen Monaten jeweils höchstens einzelne Modelle produzieren konnte, zeigt aber, dass auch Smetanin keine Wunder bewirken kann.

Der auf Rüstungsfragen spezialisierte ukrainische Journalist Roman Romanjuk hält den neuen Manager zwar für integer. Gleichzeitig verfüge er wegen seiner mangelnden Verbindungen zu den Machtzirkeln nicht über das institutionelle Gewicht, um die notwendigen Reformen durchzusetzen.

Somit stellt sich bei Smetanin wie Kamischin die Frage, wie viel sie wirklich bewegen können. Die Lage der Rüstungsindustrie wäre auch ohne die systemimmanenten Schwächen prekär genug: Ihre Fabriken sind regelmäßig Ziele russischer Marschflugkörper, die Versorgung mit Vorprodukten für Waffen gestaltet sich schwierig, und viele Spezialisten kämpfen entweder in der Armee oder sind geflohen.

Kiew bemüht sich weiter um Waffen aus dem Ausland

Ähnlich wie bei Selenski liegt Kamischins Stärke in seiner Strahlkraft. Seine Ernennung zum Minister für strategische Industrien dürfte auch mit dem Vertrauen zusammenhängen, das die westlichen Partner ihm als Eisenbahnchef entgegenbrachten.

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Diese Qualität ist nicht zu unterschätzen: Die bestehenden Probleme schließen fast aus, dass das Land in absehbarer Zukunft autark bei der Waffenproduktion wird.

Deshalb braucht es weiterhin diplomatische Offensiven, um die Partnerschaft mit dem Westen zu festigen und zu erweitern. Kamischin begleitete Selenski im Juli nach Tschechien und Ankara, wo entsprechende Abkommen unterzeichnet wurden.

Bereits im Bau ist laut dem Minister eine Fabrik für Kampfdrohnen der türkischen Firma Bayraktar in der Ukraine. Konkrete Pläne für Reparatur- und Produktionsstandorte im Land existieren mit den britischen Unternehmen BAE Systems und dem deutschen Waffenkonzern Rheinmetall.

Kamischin wirbt bei den ausländischen Unternehmen mit niedrigen Produktionskosten, einer gestärkten Luftverteidigung und der Möglichkeit, die Waffen gleich auf dem Schlachtfeld zu testen.

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