Wie Deutschland das Tech-Potenzial von Migrantenkindern vergeudet

Berlin Wenn Iskender Dirik sich bei seiner Arbeit als Tech-Manager und Investor über eine E-Mail ärgert oder ihn ein Meeting stresst, wandert sein Blick oft hinüber zu der Chipstüte auf seinem Schreibtisch. Die Packung der Marke Funny-frisch liegt ausgestellt in einem Glaskasten in seinem Büro. Sie ist für den 40-Jährigen mehr als nur ein eingeschweißter Snack.

Es handelt sich um jene Sorte Chips, die sich Dirik als Junge nach dem Schwimmunterricht nie leisten konnte – seine Klassenkameraden aber schon. „Das hilft mir wertzuschätzen, wo ich jetzt bin, und nicht zu vergessen, wo ich herkomme“, sagt Dirik. Er ist heute Hauptgeschäftsführer des Websitebauers Wix für Deutschland und Österreich.

Diriks Kindheit in den 1980er-Jahren als Sohn türkischer Gastarbeiter im Hamburger Arbeiterviertel Wilhelmsburg war seiner Erinnerung nach geprägt von Geldsorgen, aber auch einem tiefgehenden Gemeinschaftsgefühl. Um es von dem Jungen, der sich keine Chips leisten konnte, zu einem erfolgreichen Tech-Manager zu schaffen, musste Dirik viele Um- und auch Irrwege in Kauf nehmen. Jemanden, der ihn dabei hätte leiten können, hatte er lange Zeit nicht.

Iskender Diriks Vater kam 1971 „nur mit einem Mantel und einem Aktenkoffer“, wie sein Sohn heute berichtet, aus der Türkei nach Deutschland. Angezogen wie etwa 14 Millionen andere Gastarbeiter durch das Versprechen von Arbeit und bescheidenem Wohlstand. Deutschland versprach sich im Gegenzug Arbeitskräfte für die damals boomende Wirtschaft.

Top-Jobs des Tages

Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.

Etwa drei Millionen der herbeigerufenen Arbeitskräfte sind dauerhaft geblieben. Mittlerweile mischen viele ihrer Kinder und Enkel die deutsche Tech-Szene auf. Berühmte Beispiele sind Ugur Sahin und seine Frau Özlem Türeci, Mitgründer von Biontech, sowie Hakan Koc, dessen Unternehmen Auto1 im April an die Börse ging. Gründerinnen und Gründer mit Migrationsgeschichte machen bei den Start-ups mittlerweile knapp 20 Prozent aus. Davon sind 43 Prozent Migranten der zweiten Generation – also in Deutschland aufgewachsen.

Welches Potenzial in Zuwanderung für den Tech-Sektor steckt, zeigt der Blick in die USA: Mehr als die Hälfte der Start-ups, die 2018 dort mit über einer Milliarde Dollar bewertet wurden, sind von Menschen mit Migrationsgeschichte gegründet worden. Auch Migranten der zweiten Generation zählen dazu: Die Eltern der berühmten Gründer Jeff Bezos (Amazon) und Steve Jobs (Apple) etwa sind in die USA eingewandert.

„Viele Gründer mit Migrationshintergrund zeichnen sich durch ein ausgeprägtes Start-up-Mindset aus“, sagt Christian Miele, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Deutsche Startups. Studien bestätigen außerdem, dass Gründer mit einem Zuwanderungshintergrund eine höhere Risikobereitschaft mitbringen – und deshalb auch wirtschaftlich häufig neue Wege gehen.

Häufigster Erklärungsansatz für das disruptive unternehmerische Potenzial von Einwandererkindern: Sie werden von einem besonderen Aufstiegshunger getriebenen. Für sie gibt es keine bequemen, von den Eltern vorgegebenen Lebenswege, denen sie einfach nur zu folgen brauchen.

Doch hierzulande stoßen Kinder von Migrantinnen und Migranten immer noch auf große Karrierehindernisse. Fehlender Zugang zu Netzwerken, Bildung und Kapital macht den Aufstieg schwierig. Dadurch verspielt Deutschland seine Chance, das besondere Potenzial von Einwandererkindern besser zu nutzen. Eine ganze Reihe von Initiativen will das ändern.

Buchhalter als Teenager

Iskender Diriks Vater arbeitete ursprünglich bei MAN, bis er sich dazu entschloss, Maschinenbau zu studieren. Nach dem Studienabschluss heuerte er aber nicht bei einem deutschen Konzern an, sondern eröffnete seinen eigenen Laden. Der offerierte nicht nur Prepaidkarten und gebrauchte Elektrogeräte, sondern diente auch als Reisebüro, Versicherungsmakler und Übersetzungsagentur für die türkische Community.

Iskender Dirik

Dirik ist Hauptgeschäftsführer des Websitebauers Wix für Deutschland und Österreich.

Mit 13 Jahren führte Iskender dort die Kassenbücher, während seine Klassenkameraden Fußball spielten. „Das hat mir früh ein wirtschaftliches Bewusstsein verschafft“, sagt er rückblickend. Auch der Zugang zu Technologie kam über seinen Vater, der ihm einen gebrauchten C64-Computer schenkte. „Der hat mich in den Bann gezogen, und ich habe sehr viel daran programmiert“, erzählt Dirik.

Mit seinen frühen Kenntnissen in Betriebswirtschaftslehre und Technologie hätte er eigentlich die idealen Grundlagen mitgebracht, um ein erfolgreiches Unternehmen zu gründen. Doch Dirik fehlten für eine solche Karriere zunächst die richtigen Netzwerke. Die allermeisten seiner Freunde und Bekannten hatten ebenfalls eine türkische Migrationsgeschichte.

„Ich habe alles mit mir selbst ausgemacht und dabei sehr viel ausprobiert“, erinnert er sich. Lernen funktionierte für ihn nach dem Trial-and-Error-Prinzip. „Ich habe so unendlich viele Fehler gemacht, die hätten vermieden werden können, wenn ich einen erfahrenen Menschen an meiner Seite gehabt hätte“, sagt er. Vor allem bei mehreren eigenen Unternehmensgründungen sei dieses Problem aufgetaucht.

Und trotzdem schaffte er es, nach und nach die Tech-Welt kennenzulernen: von Start-ups über Wagniskapitalgeber bis hin zu Konzernen wie Samsung und Microsoft.

Türkische und deutsche Persönlichkeit

Dabei sei er auf Menschen getroffen, die seinen Horizont erweitert hätten und an ihn und seine Fähigkeiten glaubten. „Einer davon hat mir mal gesagt, dass es tief in mir zwei Persönlichkeiten gibt, die zu innerer Reibung führen“, sagt Dirik – die des erfolgreichen Businessmenschen und die des türkischen Migrantenkindes, das nach Feierabend wieder zurück in seine „Hood“ geht.

„Ich habe erst sehr viel später verstanden, was er damit meinte und wie lange ich mich unbewusst im inneren Spannungsfeld zweier Kulturen befand“, sagt Dirik. Erst relativ spät habe er es geschafft, beide Persönlichkeiten bewusst zu vereinen, zu schätzen und als Bereicherung zu betrachten. Er habe „zwei Herzen“, sagt er heute – ein deutsches und ein türkisches.

Aus dieser Erfahrung heraus hat er sich entschlossen, gemeinsam mit drei anderen Mitgründerinnen und Mitgründern eine Initiative ins Leben zu rufen, die „2hearts“ heißt. Das Ziel: ein Netzwerk für junge Menschen mit Migrationsgeschichte zu schaffen, die in der Tech-Welt Karriere machen wollen. Das Motto: Sei der Mensch, den du gebraucht hättest, als du jünger warst. Mittlerweile hat die Initiative knapp 650 Mitglieder aus 115 Ländern. 85 erfahrene Mentorinnen und Mentoren aus der Tech-Szene betreuen knapp 200 Mentees.

Oktay Erciyaz

Erciyaz ist Mitgründer von “2hearts”.

Oktay Erciyaz, der ebenfalls aus einer türkischen Gastarbeiterfamilie stammt und „2hearts“ mitgegründet hat, bezeichnet sich selbst als „anatolischen Rheinländer“. Aus einer türkischen Familie stammend ist er in Düsseldorf aufgewachsen und will, so sagt er selbst, „das Rheinland nicht mehr verlassen“. Auch er hat in verschiedenen Unternehmen mit Technologiebezug gearbeitet, die häufig eine Verbindung in die Türkei hatten.

Erciyaz ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, dass ein multikultureller Hintergrund kein Hindernis sein muss, im Gegenteil. „Ich sage den Mentees bei ‚2hearts‘ immer: Ihr startet mit plus eins“, erklärt er. „Ihr habt eine Sprache und eine Kultur mehr als alle anderen.“ So will er das vermeintliche Stigma „Migrationshintergrund“ auch in den Köpfen der Betroffenen selbst überwinden.

Wie häufig dieses Stigma noch eine Rolle spielt, zeigt sich vor allem im Bildungsbereich. Laut der letzten Pisa-Erhebung von 2018 bekommen Kinder mit Migrationsgeschichte in nur 30 Prozent der Fälle eine Gymnasialempfehlung – im Vergleich zu 43 Prozent der Schüler ohne Migrationshintergrund. „Bildungsverläufe orientieren sich in Deutschland stark am sozialen Hintergrund“, sagt Kristina Reiss, Professorin an der TU München.

Sie war als Vorstandsvorsitzende des Zentrums für internationale Bildungsvergleichsstudien bis April 2021 für die Pisa-Studien in Deutschland zuständig. Dass Bildung in Deutschland de facto oft vererbt wird, ist für die Kinder von Gastarbeitern keine gute Nachricht. Denn ihre Eltern sind meist keine Akademiker.

Prädikatsabitur trotz Hauptschulempfehlung

Beinahe wäre auch Gülsah Wilke am Bildungssystem gescheitert. Die Enkelin türkischer Gastarbeiter ist heute als Chief Operating Officer beim jungen Wachstumsunternehmen Ada Health tätig, war vorher beim Wagniskapitalgeber Axel Springer Ventures. Ihr Abitur schloss sie als eine der Jahrgangsbesten in ganz NRW ab und übersprang auf dem Weg dorthin eine Klasse.

Und doch: „Von meiner Grundschullehrerin habe ich damals eine Empfehlung für die Hauptschule bekommen“, erinnert sich Wilke. Nur durch die Initiative ihrer Mutter habe sie es noch auf das Gymnasium geschafft. Dass ihr ein Stigma anhing, dessen wurde sie sich schon früh bewusst. „Meine Lehrerin hat den anderen Schülern damals gesagt: Guckt mal, das weiß sogar die Türkin“, erinnert sich Wilke.

Die Hürden in der Schullaufbahn sind nicht nur für die Betroffenen selbst ein Problem. „Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Fachkräftemangels müssen wir die Förderung dieser Jugendlichen als gesellschaftliche Aufgabe begreifen“, sagt Bildungsexpertin Reiss.

Gülsah Wilke

Wilke ist als Chief Operating Officer beim jungen Wachstumsunternehmen Ada Health tätig.

Während der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, im August davon gesprochen hatte, dass Deutschland 400.000 Zuwanderer pro Jahr brauche, um den Fachkräftemangel in den Griff zu bekommen, entgegnet Investor Oktay Erciyaz: „Bevor wir über Migration aus dem Ausland reden, sollten wir erst mal die Integration des hiesigen Potenzials stärken.“

Gerade in disruptiven Bereichen, in denen Kreativität gefragt ist, seien unterschiedliche soziale und kulturelle Hintergründe außerdem ein Vorteil – da sind sich die Experten einig. „Wer in einem diversen Team zusammenarbeitet, kommt auf ganz andere Lösungsansätze“, erklärt Johann Daniel Harnoss, Migrationsexperte bei der Boston Consulting Group. „So können Innovationen entstehen.“

Fehlende Finanzierung

Und trotzdem gibt es für Gründerinnen und Gründer, deren Familie nicht aus Deutschland stammt, derzeit noch eine weitere Hürde: Ihnen fehlt der Zugang zu Kapital. Laut der aktuellen Erhebung des Bundesverbands Deutscher Startups haben die befragten Gründer mit Migrationsgeschichte im Schnitt nur rund 1,1 Millionen Euro an Investitionen erhalten – im Vergleich zu 2,6 Millionen Euro für Gründer ohne Migrationshintergrund.

Bei Gründerinnen und Gründern, deren Familie nicht aus dem EU-Ausland komme, sei die Finanzierungslücke am größten. Ein Hauptproblem auch hier: fehlende Netzwerke.

„Unser Eindruck ist, dass die Start-up-Welt so sehr von Netzwerken getrieben ist, dass es Leuten von außerhalb schwerfällt, die richtigen Tipps und Intros zu bekommen“, sagt Nina Rinke vom Wagniskapitalgeber Earlybird. Rinke ist dort Teil des Teams rund um das Unterstützungsprogramm „Vision Lab“ für Gründer mit Migrationshintergrund.

Von einer gezielten Förderung schon in der ersten Phase der Start-ups erhoffen sich Rinke und das Team, die „Vitamin-B-Lücke“ zwischen deutsch-deutschen Gründerinnen und Gründern mit Migrationsgeschichte zu schließen: „Ziel soll sein, dass erfolgreiche Start-ups auch Gründer aus ihren Netzwerken mit einem ähnlichen Hintergrund fördern – so soll eine Kettenreaktion entstehen.“

Momentan richtet sich das „Vision Lab“ ausschließlich an Gründer, die selbst zugewandert sind – doch eine Öffnung für Zuwanderer der zweiten Generation kann sich Rinke durchaus vorstellen.

Grafik

„Wir sollten deutlich intensiver untersuchen, inwiefern tradierte Stereotype einen Einfluss auf Investitionsentscheidungen haben“, fordert auch Florian Nöll, bis 2019 Vorsitzender des Start-up-Verbands. Vor allem bei der Finanzierung durch sogenannte „Business-Angels“, also Privatinvestoren, wird die Finanzierunglücke zwischen Gründern mit und ohne Zuwanderungsgeschichte sichtbar.

Während über 30 Prozent der Gründer ohne Migrationshintergrund diese Investitionsmöglichkeit in Anspruch nahmen, lag der Wert bei Gründern mit Migrationsgeschichte um zehn Prozentpunkte niedriger.

Neue Lebensrealitäten

Gleichzeitig berichten einige Gründer mit Migrationshintergrund, dass auch vonseiten des Elternhauses eine gewisse Skepsis gegenüber ihrer Arbeit vorgeherrscht habe. So beschreibt es Robert Tomoski, Gründer des Tech-Start-ups Impulse AI, in einem Positionspapier von BJDW (Beirat Junge Digitale Wirtschaft), Start-up-Verband und „2hearts“-Initiative.

Bei ihm zu Hause habe es geheißen, er solle sich nicht mit Investoren einlassen, führt der Gründer aus. „Man solle lieber einen normalen Job ausüben nach dem Prinzip ‚Schuster, bleib bei deinem Leisten‘”, schreibt Tomoski weiter.

Min-Sung Sean Kim

Kim ist Managing Partner beim Wagniskapitalgeber Digital Health Ventures.

Auch Min-Sung Sean Kim merkte rasch, dass sich seine Lebensrealitäten stark von denen seiner Eltern unterscheiden. Er ist Managing Partner beim Wagniskapitalgeber Digital Health Ventures, seine Mutter kam in den 1970er-Jahren im Rahmen eines Gastarbeiterabkommens aus Südkorea nach Deutschland und arbeitete hier jahrzehntelang als Krankenschwester.

„Dass ich mich bei meiner Arbeit den ganzen Tag lang nur mit Leuten treffe und rede, das kommt ihr komisch vor“, so Kim. Seine Mutter sei stolz auf das, was er erreicht habe – sie selbst aber sei es immer gewohnt gewesen, vor allem mit den Händen tätig zu sein. Er sagt auch: „Unsere Eltern haben uns vorgelebt, was es heißt, hart zu arbeiten.“ Eine Eigenschaft, die bei der Arbeit als Krankenschwester oder Ladenbesitzer ebenso gefragt ist wie bei einer Start-up-Karriere.

Mehr: Unternehmer wollen die Welt verändern – ihre Chancen sind so gut wie nie

.
source site-18