Werden Medikamente im Winter wieder knapp?

Berlin, Frankfurt Knappe Fiebersäfte, nicht ausreichend Kinderantibiotika – davor warnen Apotheken, der Pharmagroßhandel und Mediziner seit Monaten mit Blick auf Herbst und Winter. 

Erst Anfang der Woche meldete der Pharmagroßhandel, dass die Vorräte für wichtige Medikamente „keine zwei Wochen“ reichen. Doch wie akut wird die Lage wirklich? 

Im vergangenen Winter hatte es in einer großen Infektionswelle eklatante Lieferprobleme etwa bei Fieber- und Hustensäften für Kinder gegeben.

Das Bundesgesundheitsministerium hat nun eine Dringlichkeitsliste für rund 30 Kinderpräparate aufgestellt, die vom Pharmagroßhandel bevorratet werden sollen. Darunter sind Nasentropfen, fiebersenkende und schmerzlindernde Säfte und Zäpfchen, aber auch zahlreiche Antibiotika, die zum Teil seit Monaten schwer zu bekommen sind.

Bei welchen Mitteln konkret Lieferengpässe auftreten können und wie gravierend diese dann sind, hängt aber entscheidend davon ab, wie stark die kommende Erkältungssaison ausfällt. „Wir gehen von einer ähnlich starken Saison aus wie im letzten Jahr“, heißt es von der Ratiopharm-Mutter Teva aus Ulm. 

Karl Lauterbach

Der Bundesgesundheitsminister will Deutschland mit verschiedenen Maßnahmen auf kommende Lieferengpässe bei Medikamenten vorbereiten.

(Foto: ddp images/Chris Emil Janßen)

Auch der Berliner Infektiologe Timo Ulrichs warnt: Erkältungsviren und das Grippevirus würden in diesem Winter wieder „vermehrt Infektionen auslösen“, sagte er dem Handelsblatt. 

Was sind die Gründe für die Lieferengpässe bei Medikamenten?

Die Lieferengpässe sind zum einen Nachwirkungen der Coronapandemie. Während Maskenpflicht und Hygienemaßnahmen für deutlich weniger Atemwegsinfektionen und Erkältungskrankheiten jenseits von Covid-19 gesorgt hatten, stiegen sie mit dem Ende der Schutzmaßnahmen wieder an. 

Damit erhöhte sich auch der Bedarf an entsprechenden Arzneimitteln, den die Produktion der Hersteller nicht decken konnte. Bestimmte Antibiotika wie Amoxicillin und Penicillin V sind nach Angaben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nicht nur in Deutschland, sondern international nur eingeschränkt verfügbar.

Grundsätzlich begünstigen aber strukturelle Gründe im Markt solche Lieferengpässe. Der größte Teil der benötigten Kinderarzneimittel sind Nachahmerprodukte (Generika), die seit Jahren durch Festbetragsregeln und Rabattverträge unter hohem Preisdruck stehen. Das hat dazu geführt, dass einzelne Produkte nur noch von wenigen Herstellern produziert werden. 

Ein Kind nimmt Fiebersaft ein

Viele der knappen Medikamente sind auch international kaum verfügbar.

(Foto: IMAGO/Fotostand)

Bei den paracetamolhaltigen Fiebersäften für Kinder etwa deckt Ratiopharm mittlerweile 90 Prozent des Marktes in Deutschland ab, nachdem sich vergangenes Jahr die Novartis-Tochter Sandoz aus der Produktion zurückgezogen hat. Vor dreizehn Jahren haben noch elf Unternehmen flüssige Paracetamol-Zubereitungen angeboten.

Was unternimmt die Politik angesichts knapper Medikamente?

Mit der Dringlichkeitsliste hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den Pharmagroßhandel vor wenigen Tagen in einem Brief dazu aufgefordert, „wichtige Medikamente für Kinder bereits jetzt“ zu bevorraten, um kurzfristigen Engpässen vorzubeugen.

Um die Verfügbarkeit von Medikamenten vor allem für Kinder zuverlässiger abzusichern, hatte Lauterbach im Juli zudem ein Gesetz gegen Lieferengpässe auf den Weg gebracht. Dies braucht nach Ansicht des Gesundheitsministers aber „Zeit, um zu wirken“.

Als Sicherheitspuffer verpflichtet das Gesetz Großhändler, Vorräte von mehreren Monatsmengen für viel genutzte Mittel anzulegen. Die Bundesregierung will zudem Preisregeln lockern, um Lieferungen nach Deutschland für Hersteller lohnender zu machen. Aus Sicht des Branchenverbands Pro Generika kommt ein solches Gesetz aber viel zu spät.

>> Lesen Sie mehr: Wie Lauterbach gegen die Medikamenten-Engpässe vorgehen will

Lauterbach kündigte zudem an, dass sein Ministerium auch formell einen Versorgungsmangel für die Medikamente der Dringlichkeitsliste feststellen wolle. Dies ermöglicht flexiblere Vorgaben und etwa einen vereinfachten Import knapper Medikamente.

Was tun die Hersteller von Ibuprofen- und Paracetamol-Fiebersaft?

Die Hersteller arbeiten laut Branchenverband Pro Generika auf Hochtouren. „Aber wir blicken dennoch mit Sorge auf Herbst und Winter, weil sich nicht einschätzen lässt, wie sich die Infektionssaison entwickelt und welche Medikamente benötigt werden“, sagte Geschäftsführer Borg Bretthauer.

Die Ratiopharm-Mutter Teva beispielsweise stellt den Ibuprofen- und Paracetamol-Fiebersaft für den deutschen und österreichischen Markt her. „Wir produzieren unter Auslastung aller verfügbaren Kapazitäten und am technischen Limit“, sagt Andreas Burkhardt, General Manager Teva Deutschland und Österreich. 

Pharmafabrik in Indien

Nur wenige Hersteller produzieren noch in Europa.

(Foto: Bloomberg)

„Weitere Kapazitätserweiterungen sind nur durch Investitionen in neue Anlagen möglich“, erklärt Burkhardt. Dies sei aufgrund der aktuellen Rahmenbedingungen und fehlender Planungssicherheit in Deutschland wirtschaftlich aber nicht machbar.

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Das Schweizer Unternehmen Sandoz betreibt in Kundl, Tirol, die letzte vollständig integrierte Penicillin-Produktion in Europa, von der Fermentation bis zur fertigen Arznei.

Das Werk liefert derzeit etwa 200 Millionen Packungen Antibiotika pro Jahr in die ganze Welt, unter anderem mit dem wichtigen Wirkstoff Amoxicillin. „Wir haben die Produktion bereits 2022 im zweistelligen Prozentbereich erhöht, und eine ähnliche Steigerung werden wir auch 2023 erreichen“, sagte ein Sprecher.

Das Unternehmen habe mehr Personal eingestellt, insgesamt rund 250 Millionen Euro investiert und die Effizienz deutlich gesteigert. Ob das allerdings reicht, ist nicht vorhersehbar. Eine Prognose möglicher Engpässe kann auch Sandoz nicht vornehmen.

Wie bereiten sich die Apotheken auf drohende Engpässe bei Fiebersäften vor?

Die Apotheken klagen seit Monaten darüber, dass die Lieferengpässe für sie mehr Aufwand bedeuten. Apotheker stellten beispielsweise Fiebersäfte selbst her oder mussten Ersatzmedikamente abgeben. 

„Die Apotheken handeln seit Monaten mit großem persönlichen Engagement, um die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln zu jeder Tages- und Nachtzeit aufrechtzuerhalten“, sagte der Vorsitzende des Deutschen Apothekerverbands (DAV), Hans-Peter Hubmann.

Die Idee aber, dass der Pharmagroßhandel bereits jetzt schwer zu beschaffende Medikamente bevorraten solle, sei „realitätsfern und kann sogar kontraproduktiv wirken“. Das sei etwa der Fall, wenn Eltern in Norddeutschland ein Medikament für ihr Kind nicht in der Apotheke bekommen, weil der Großhandel in Süddeutschland es für die Erkältungssaison bevorratet. 

Apothekerin

Der Deutsche Apothekerverband zweifelt an der Wirksamkeit des Lieferengpassgesetzes.

(Foto: dpa)

Er erwartet deswegen keine „spürbare Entspannung der Liefersituation“ – auch nicht durch das kürzlich beschlossene Lieferengpassgesetz. Der Verband fordert für die Apotheken unter anderem weiter gehende Abgabeerleichterungen und eine „adäquate Honorierung“.

Wie kann noch gegengesteuert werden?

Unter anderem können in einer Mangellage Importe aus anderen Ländern die Engpasssituation mildern. So hat Bayern gerade ein Kontingent von rund 53.000 Antibiotika-Säften für Kinder vom Hersteller Puren aus den USA importiert. Die Ware kommt vom indischen Mutterkonzern Aurobindo. Allerdings sind die importierten Säfte deutlich teurer als etwa die vom Hersteller Sandoz vertriebenen, weil für sie kein Festbetrag gilt.

Der Verband Pro Generika fordert nachhaltigere Lösungen. Anderen Ländern die Medikamente wegzukaufen sei erneut Krisenmodus und keine Strategie zur Verbesserung der Lage.

Für Geschäftsführer Bretthauer ist die Dringlichkeitsliste für Kinderarzneimittel ein Eingeständnis, dass das Engpassgesetz nicht reiche und nachgebessert werden müsse: „Es setzt keinerlei Anreize, damit wieder mehr Unternehmen auch Kinderarzneimittel produzieren. Und nur das kann unsere Versorgung sicherer machen.“

Mehr: Pharmagroßhandel warnt: „Die Vorräte reichen keine zwei Wochen“

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