Warnstreiks, Klagen – die Tarifrunden waren kämpferisch wie lange nicht

Warnstreik der Bahngewerkschaft EVG Ende März

Noch bis Ende August stimmen die EVG-Mitglieder darüber ab, ob sie das Schlichtungsergebnis annehmen.

(Foto: dpa)

Berlin Die Bahngewerkschaft EVG legte gleich mehrfach den Zugverkehr lahm, bei der Post ließ Verdi die Mitglieder über einen unbefristeten Arbeitskampf abstimmen, in der Süßwarenindustrie verhinderten die Arbeitgeber Warnstreiks vor Gericht: Tarifauseinandersetzungen in Deutschland wurden im ersten Halbjahr so erbittert geführt wie seit 2015 nicht mehr. Ein Grund sind die starken Preissteigerungen, die zu teils harten Verteilungskämpfen führen.

Das geht aus dem tarifpolitischen Halbjahresbericht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor, der dem Handelsblatt vorliegt.

„Nach drei Jahren mit Reallohnverlusten sind die Forderungen der Gewerkschaften ambitionierter, was dazu führt, dass die Tarifverhandlungen konfliktreicher geführt wurden“, sagt IW-Tarifexperte Hagen Lesch, der die Studie zusammen mit Lennart Eckle erstellt hat.

In den 20 vom IW untersuchten Branchen fanden in der ersten Jahreshälfte 13 Tarifverhandlungen statt. Für viele gelang bereits der Abschluss: Post, die kommunalen Kliniken, den öffentlichen Dienst, die Papierindustrie, die Süßwarenindustrie, die Textilindustrie und T-Systems.

Die Runden bei der Deutschen Bahn, im nordrhein-westfälischen Einzel- sowie dem Groß- und Außenhandel und bei Lufthansa und Eurowings waren zum 30. Juni noch nicht beendet.

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Für die Bürger zeigte sich die Konfliktintensität im Alltag ganz direkt an gestrichenen Zügen oder geschlossenen Kitas. Das IW bezieht in seine Analyse Kriterien wie die Verhandlungsdauer und verschiedene Eskalationsstufen ein. Diese reichen von Streikdrohungen über Warnstreiks bis hin zum Scheitern der Verhandlungen und Erzwingungsstreiks nach einer Urabstimmung. Daraus wird ein Punktesystem entwickelt.

Dabei zeigt sich, dass seit dem Jahr 2010 Tarifrunden nur einmal noch konfliktträchtiger verliefen als in der ersten Hälfte dieses Jahres – und zwar im Jahr 2015.

Damals setzten Verdi und die GEW mit mehrwöchigen Streiks eine Aufwertung des Sozial- und Erziehungsdienstes durch. Bei der Post kämpfte Verdi gegen die Gründung von Regionalgesellschaften mit niedrigeren Tarifen. Und die Lokführergewerkschaft GDL rang um eigenständige Tarifverträge bei der Bahn.

In der ersten Hälfte dieses Jahres reicht aber nicht nur die Konfliktintensität an das Jahr 2015 heran. Auch bei der maximalen Eskalationsstufe, die auf einer Skala von 0 bis 7 gemessen wird, ist der seinerzeit ermittelte Rekordwert von 3,5 nun im ersten Halbjahr erneut erreicht worden.

Ohne die von der Bundesregierung eröffnete Möglichkeit, eine steuer- und abgabenfreie Inflationsprämie von bis zu 3000 Euro in die Tarifverhandlungen einzubeziehen, wären die Runden wahrscheinlich noch intensiver verlaufen, vermutet Lesch.

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Zwar eskalierte keine Tarifauseinandersetzung bis zum unbefristeten Erzwingungsstreik. Im öffentlichen Dienst konnte der Konflikt aber erst in der Schlichtung beigelegt werden, ebenso bei der Bahn – auch wenn hier die EVG-Mitglieder dem Schlichtungsergebnis erst noch zustimmen müssen.

Bei der Post gab es eine Lösung erst nach einer Urabstimmung über unbefristete Streiks. Mehrfach verhinderten die Arbeitgeber vor Gericht Warnstreiks, so in der Süßwarenindustrie und bei der Bahn.

Auch wenn das laufende Jahr einen anderen Eindruck erweckt, liegt Deutschland bei Streikaktivitäten im internationalen Vergleich aber nur im unteren Mittelfeld.

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So fielen nach Angaben des Forschungsinstituts WSI der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in den zehn Jahren zwischen 2012 und 2021 hierzulande jährlich pro 1000 Beschäftigte 18 Arbeitstage durch Arbeitskampfmaßnahmen aus. In Belgien und Frankreich waren es mehr als 90 Tage, in Dänemark Finnland und Spanien um die 50.

IW-Forscher Lesch erwartet aber, dass auch die im zweiten Halbjahr anstehenden Tarifrunden brisant verlaufen dürften. Denn obwohl die Inflation ihren Höhepunkt überschritten hat, sind die Teuerungsraten weiter hoch. Und angesichts der dreimal in Folge gesunkenen Reallöhne bei gleichzeitigem Fachkräftemangel stünden die Gewerkschaften unter hohem Erwartungsdruck.

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Erneutes Konfliktpotenzial droht bei der Bahn, wo im Herbst auch die Verhandlungen mit der streitbaren Lokführergewerkschaft GDL beginnen. In der Stahlindustrie will die IG Metall versuchen, die Viertagewoche durchzusetzen. Das dürfte verschärften Widerstand der Arbeitgeber provozieren. Und auch in den Ländern steht eine Tarifrunde an.

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Allerdings muss ein eskalierender Konflikt nicht immer das bessere Ergebnis bringen. Das IW hat sich dazu 175 Lohn-, Arbeitszeit- und Manteltarifkonflikte aus zehn Branchen im Zeitraum 2000 bis 2022 angeschaut. Und hat analysiert, welche Intensität in den Auseinandersetzungen aufgebracht wurde, um eine einprozentige Lohnerhöhung zu erreichen.

Dabei zeigt sich, dass im öffentlichen Dienst in der Regel enormes Konfliktpotenzial aufgebaut wird – mit weitem Abstand gefolgt von der Metall- und Elektroindustrie und dem Einzelhandel. Dagegen kommen die auf Konsens bedachten Chemie-Tarifparteien meist auch ohne Drohungen und Streiks zu vergleichbaren Tarifergebnissen.

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Dass Gewerkschaften wie Verdi oder die IG Metall dennoch oft die harte Auseinandersetzung suchen, führt Lesch auch auf das Ziel der Mitgliederwerbung zurück. „Organisieren am Konflikt“ heißt das bei den Gewerkschaften. Verdi hat im streitlustigen ersten Halbjahr nach eigenen Angaben 100.000 neue Mitglieder gewonnen.

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