Verdacht auf Insolvenzverschleppung: Ermittlungen gegen Utz Claassen

Düsseldorf Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelt gegen Utz Claassen wegen des Verdachts auf Insolvenzverschleppung. Es geht dabei um die Syntellix AG – ein Medizintechnikunternehmen, das Claassen 2008 gründete, lange Zeit als Aufsichtsratschef kontrollierte und seit 2018 als Vorstandsvorsitzender leitet. 

Nun nimmt sich die Justiz das Unternehmen vor. „Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelt seit April 2023 gegen den Vorstandschef, ein Vorstandsmitglied, ein Ex-Vorstandsmitglied sowie eine Prokuristin der Syntellix AG wegen des Anfangsverdachts der Insolvenzverschleppung und des Betruges“, sagt Oliver Eisenhauer, Sprecher der Behörde. „Es liegen Anzeigen mehrerer mutmaßlich Geschädigter vor. Die Beschuldigten erhielten Gelegenheit, zu den Tatvorwürfen Stellung zu nehmen.“

Am 27. Juli verschickte die Kriminalpolizei Hannover ein Schreiben an Claassen. Demnach soll geklärt werden, ob bei Syntellix bereits seit Juli 2022 eine Insolvenz verschleppt wird. Im August 2022 berichtete die Hannoversche Allgemeine Zeitung von Mitarbeitern, die seit Monaten auf ihre Gehälter warteten. Dass einige von ihnen deshalb vor Gericht zogen, nannte Claassen zutiefst enttäuschend.

Zahlungsverzug beim Dienstwagen

Als das Handelsblatt ihn damals fragte, ob ein Insolvenzantrag beabsichtigt sei, verneinte Claassen. „Was für eine absurde Frage“, antwortete der Unternehmenschef. Syntellix habe „die Zusage des mit Abstand höchsten Kapitalzuflusses der Geschichte des Unternehmens durch einen internationalen Investor erhalten.“

Die Auszahlung eines ersten zweistelligen Millionenbetrages solle „voraussichtlich bereits in der kommenden Woche erfolgen“. Außerdem sei „erst vorletzte Woche ein äußerst renommierter chinesischer Investor“ bei Syntellix eingestiegen. Claassen: „Die wirtschaftlichen Perspektiven sind nach Ende der zweijährigen weltweiten Corona-Restriktionen exzellent und besser als je zuvor.“

Das Handelsblatt hat den Weg der Syntellix AG aus der Pandemie in die Gegenwart nachgezeichnet. Anfang Februar 2021 lag das Geschäft am Boden, Deutschland war im Lockdown. Syntellix schaffte einen neuen Dienstwagen für Claassen an: eine blaue Maserati Limousine. Die Leasing-Rate von monatlich 2564,34 Euro sollte künftig auf ein Konto der FCA Bank in Heilbronn gezahlt werden.

Doch es gab Probleme. „Heute war eine Mahnung der FCA Bank in der Post wegen offener Leasing-Zahlungen in Höhe von 7.772,63 Euro, die binnen einer Woche beglichen werden sollen“, schrieb die Vorstandsreferentin in einer Mail am 13. August 2021. „Ich bin mir fast sicher, dass es um den Maserati geht, auch diese Zahlungen sind also noch immer offen.“

Dann wurde gezahlt. Doch am 23. Mai 2022 stockte es wieder. „Hallo Herr Professor, die FCA Bank hat heute den Leasing-Vertrag gekündigt und die Syntellix AG aufgefordert, den Wagen heute […] beim Händler abzustellen“, schrieb Claassens Fahrer. „Eine weitere Nutzung ist untersagt. Was soll ich tun?“

„Bullshit. Nicht reagieren“, antwortete Claassen. Am 22. März 2023 schrieb der Fahrer, er habe einen Anruf von der Bank erhalten, wegen ausstehender Zahlungen von mehr als 20.000 Euro. „Der Wagen ist mittlerweile zur Fahndung ausgeschrieben und soll sichergestellt werden. Jeder, der den Maserati jetzt noch bewegt, macht sich strafbar. Wie soll ich mich verhalten?“
Am 5. April holte ein Inkassodienst den Wagen ab. Fotos von Augenzeugen belegen das.

Dienstmaserati von Utz Claassen (r.)

Im April ließ ein Inkassounternehmen den Dienstwagen des Syntellix-Vorstandschefs in Hannover abschleppen.

Am 9. Mai 2023 schrieb der Obergerichtsvollzieher Thomas Boxhorn aus Hannover an den Chef der Syntellix AG. Eine ehemalige Mitarbeiterin hatte ausstehende Zahlungen eingeklagt und eine Zwangsvollstreckung erwirkt. Nun blieben zwei Wochen Zeit, 32.556,42 Euro zu zahlen.

Sollte dem Unternehmen das nicht möglich sein, sei Claassen als wirtschaftlich Verantwortlicher zur Abgabe einer Vermögensauskunft aufgefordert und solle am 31. Mai beim Amtsgericht erscheinen. Missachte er diese Anordnung, drohe „die Eintragung ins Schuldnerverzeichnis und ggf. die Verhaftung.“

Syntellix mit Sozialversicherungsbeiträgen im Rückstand

Ende Juni verlor die Techniker Krankenkasse aus Hamburg die Geduld. Syntellix sei mit den Sozialversicherungsbeiträgen von November 2022 bis Mai 2023 im Rückstand, hieß es in der „vollstreckbaren Ausfertigung“ eines Bescheids vom 26. Juni. Die Krankenkasse forderte 87.648,75 Euro, außerdem einen Säumniszuschlag von 3557,50 Euro und Mahngebühren von 524 Euro.

Am 18. Juli schrieb ein Anwalt aus der Kanzlei Heuking Kühn Lüer Wojtek an Claassen. „Persönlich/Vertraulich“ stand über dem Adressfeld. Betreff war ein bevorstehender Gerichtstermin am Oberlandesgericht München. Die Verhandlung bedürfe einer intensiven Vorbereitung, so der Anwalt. Es gebe allerdings ein Problem: 17 unbezahlte Rechnungen.

Die Kanzlei sei nun „aufgrund unserer Risikovorgaben“ zu einer Maßnahme verpflichtet: Claassen solle bis zum 1. August die bereits angemahnten Honorare von 118.648,08 Euro bezahlen, außerdem drei neue Rechnungen in Höhe von insgesamt 14.407,35 Euro sowie einen Honorarvorschuss von 36.155,53 Euro.

Weiter schrieb der Anwalt: „Wir möchten Sie bereits vorsorglich darauf hinweisen, dass wir für den Fall, dass bis 1. August 2023 der Betrag von EUR 169.210,96 nicht vollständig auf unserem Honorarkonto eingezahlt ist, die Mandatsniederlegung droht.“

Ein Vergleich mit Wirecard

Am 25. August teilte Heuking Kühn Lüer Wojtek dem Oberlandesgericht München mit, dass ihre Anwälte die Syntellix AG nicht mehr vertreten. Nachfragen zu den nicht bezahlten Rechnungen und Zwangsvollstreckungen beantworteten weder Claassen noch sein Sprecher. Die Vorwürfe seien alle haltlos, so der Sprecher. An das Handelsblatt seien unzutreffende, irreführende und grob wahrheitswidrige Informationen herangetragen worden. Es handele sich um den Versuch einer böswilligen Diffamierung und Verleumdung.

Haben alle Gläubiger Unrecht? Wie das Handelsblatt berichtete, sind inzwischen auch Aufsichtsräte der Syntellix AG nervös. Wilfried Hüser, der 2018 selbst 3,5 Millionen Euro in das Unternehmen investierte, schrieb am 15. August einen Protestbrief an Annette Claassen, die Aufsichtsratsvorsitzende von Syntellix und langjährige Ehefrau von Utz Claassen. Hüser kritisierte die Leistung des Vorstandschefs als katastrophal, warf ihm Verstöße gegen Gesetze sowie Wortbruch vor und verglich Syntellix mit dem untergegangen Skandalkonzern Wirecard.

Utz Claassen verbat sich diesen Vergleich, lobte in einem eigenen Brief an den Aufsichtsrat seine eigene Leistung als untadelig und erhob diverse Vorwürfe gegen Hüser. Claassen kündigte an, seinen Aufsichtsrat womöglich wegen Verleumdung zu verklagen, und zwar vor Gerichten „der Bundesrepublik Deutschland, der Volksrepublik China, der Republik Singapur sowie der Vereinigten Staaten von Amerika.“

Viele Preise, kaum Umsatz

Dabei sollte bei Syntellix doch alles so großartig laufen. Das Start-up aus Hannover stellte medizinische Schrauben aus Magnesium her, die sich nach der Operation und Heilung selbst auflösten. Claassen wollte einen Milliardenmarkt erobern und dominieren. Aus einer Präsentation für Investoren: „Wir sind anders, weil wir besser sind. Und nur wer besser ist, kann den Unterschied machen … und die Welt verändern!“

Ab 2019 sollte Syntellix laut Präsentation profitabel arbeiten, für 2022 war bei 175 Millionen Euro Umsatz ein Betriebsergebnis von 80 Millionen Euro angepeilt. „Irreversibel“ nannte Claassen die Verdrängung herkömmlicher Titanschrauben durch die Magnesiumprodukte von Syntellix. Er sei sich sicher, dass der Unternehmenserfolg „die Erwartungen der meisten Menschen und vielleicht sogar ihre Vorstellungskraft übertreffen wird“.

Claassens Visionen überzeugten. Carsten Maschmeyer steckte ab 2012 Millionen in die Syntellix AG. Der Unternehmer Sigmund Kiener stieg 2015 ein, 2017 gewann Claassen sowohl den bekannten Investor Rolf Elgeti als auch Wintop Capital aus Singapur als Aktionäre.

Syntellix errang einen Innovationspreis nach dem anderen und wuchs, wenn auch auf niedrigem Niveau. Als die Wachstumszahlen 2017 nachgaben, wechselte Claassen aus dem Aufsichtsrat an die Vorstandsspitze. Dann verkündete er einen neuen „Schlüsselinvestor“.

Die Mitarbeiter laufen weg

Jürgen Fitschen sei bei der Syntellix AG eingestiegen und werde den Aufsichtsrat künftig gemeinsam mit Claassens langjähriger Ehefrau Annette führen. Der ehemalige Deutsche Bank-Vorstand könne „maßgeblich dazu beitragen, das Unternehmen auch im globalen Kontext nochmals auf eine ganz neue Ebene zu heben“.

Jürgen Fitschen

Der ehemalige Vorstand der Deutschen Bank ist Vizeaufsichtsratschef bei Syntellix.

(Foto: dpa)

Im ersten Jahr mit Utz Claassen als Vorstandschef sank der Umsatz von Syntellix um rund die Hälfte auf knapp eine Million Euro, die Verluste verdoppelten sich fast auf sechs Millionen Euro. 2019 lag der Umsatz bei 1,4 Millionen Euro. Dann kam Corona.

Während der Pandemie brach Syntellix die Geschäftsgrundlage weg, schließlich durften Krankenhäuser nur die nötigsten Operationen durchführen. 2021 stockten die Gehaltszahlungen, dann blieben sie für viele ganz aus. „Im zweiten Halbjahr 2022 gab es eine Welle von Kündigungen“, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin. „Wer sein Gehalt drei Monate in Folge nicht erhält, kann die Arbeit niederlegen und bekommt Arbeitslosengeld. Das haben die Leute natürlich gemacht.“

Claassen dagegen verkündete weiter gute Nachrichten. Und es gab Menschen, die Claassen glaubten. Der CDU-Mittelstandsexperte Michael Fuchs zeichnete drei Tage nach der Indien-Meldung 8571 neue Syntellix-Aktien für insgesamt 599.970 Euro. Ferdinand Piëch Junior legte mit seiner FAP Beteiligungsgesellschaft 105.000 Euro an. Die Hevella Capital vom bereits mit Millionen beteiligten Investor Rolf Elgeti schoss 4,5 Millionen Euro nach. Der Ausgabepreis pro Aktie war 70 Euro.

37 Verfahren vor Gericht

All das Geld war nicht genug. Dem Handelsblatt liegt umfangreicher Schriftverkehr vor, der die Syntellix AG als besonders säumige Geschäftspartnerin ausweist. Ein Sprecher des Amtsgerichts Hannover schlüsselt auf: „Gegen die Syntellix AG waren/sind seit dem Jahre 2021 hier im Hause insgesamt 37 Verfahren nach §§ 829, 835 der Zivilprozessordnung (Pfändung und Überweisung einer Geldforderung) anhängig. 34 dieser Verfahren gingen demnach ab dem zweiten Halbjahr 2022 ein, 19 davon im laufenden Jahr. Als Gläubiger treten sowohl Unternehmen als auch Einzelpersonen auf.“

Die Betroffenen sehen sich in einer Zwickmühle. Einerseits sind sie extrem verärgert, weil ihnen die von Syntellix vertraglich zugesicherten Zahlungen fehlen, oft auch nach einem Gang vor Gericht. Andererseits zögern sie, das schärfste Schwert zu ziehen: einen Gläubigerantrag auf Insolvenz.

Anwälte raten, Syntellix die Forderungen abstottern zu lassen. Es gelte das Prinzip: Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach. Ein Anwalt schrieb einem ehemaligen Mitarbeiter: „Erfahrungsgemäß wird am Ende eines Insolvenzverfahrens nur eine sehr geringe Quote festgestellt […] Häufig kommt es auch vor, dass dann überhaupt nichts mehr zu verteilen ist.“

Nach Auskunft des Amtsgerichts Hannover gab es 2022 drei Insolvenzanträge gegen die Syntellix AG. Alle drei wurden aber „durch Rücknahme des Antrags oder übereinstimmende Erledigungserklärung beendet“. So schleppte sich das Unternehmen weiter. Ob legal oder illegal, prüfen nun die Staatsanwälte.

Sie ermitteln nicht nur gegen Utz Claassen wegen des Verdachts auf Insolvenzverschleppung, sondern auch gegen den ehemaligen Finanzvorstand, den Vertriebsvorstand und die Prokuristin der Syntellix AG. Die drei Manager äußerten sich nicht zu den Vorwürfen. Claassen nannte sie „vollkommen haltlos“. Syntellix-Sprecher Michael Blum sagte: „Damit es ganz klar gesagt ist: Wo es keine Insolvenz gibt, kann es auch keine Insolvenzverschleppung geben.“

Creditreform warnt vor Syntellix AG

Die Syntellix AG hat zwölf Aufsichtsräte. Mehrere von ihnen sagten dem Handelsblatt, nichts von den Ermittlungen gegen das Management gewusst zu haben. Compliance-Experten stufen den Vorgang als äußerst ungewöhnlich ein. „Bei wichtigen Anlässen hat das betroffene Vorstandsmitglied eine unverzügliche Informationspflicht gegenüber dem Aufsichtsrat“, sagt Andreas Pohlmann, ehemals Chief Compliance Officer der Siemens AG und heute Chef einer der größten Spezialkanzleien in der Compliance-Beratung. „Dazu gehören natürlich einschlägige staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen das Vorstandsmitglied.“

Der Informationsmangel bei den Syntellix-Kontrolleuren reicht noch weiter. Nach Angaben von Aufsichtsrat Wilfried Hüser fehlen zahlreiche Sitzungsprotokolle. Testierte Jahresabschlüsse für 2021 und 2022 hätte man auch nicht gesehen. Ein Aktionärstreffen, auf dem Anleger Kritik üben oder gar über Konsequenzen für den Vorstand hätten abstimmen können, fand 2023 nicht statt.

Nun fehlt ein Weg aus der Krise. Utz Claassen selbst sagt, er habe schon „Millionen und Abermillionen“ in das Unternehmen gesteckt. Auch Aufsichtsrat Hüser schob Geld nach, ist aber nun laut seinem Brief an die Aufsichtsratsvorsitzende „nicht mehr bereit, der Gesellschaft Vorschüsse aus eigenen Mitteln zu gewähren.“

Davor warnt auch die Wirtschaftsauskunftei Creditreform. Eine aktuelle Abfrage zeigt für die Syntellix AG auf dem sogenannten Bonitätsindex einen roten Wert von 500. „Das Unternehmen gilt nach Basel II-Kriterien als ausgefallen“, steht in der Auskunft. Eine Geschäftsverbindung gelte als riskant. „Von Krediten wird abgeraten.“

Mehr: Utz Claassen häuft mit Syntellix Verluste an, will aber trotzdem an die Börse.

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