Frankfurt Pläne zu drastischen Preissenkungen bei Medikamenten in den USA rütteln die Pharmabranche auf. Die US-Regierung will hohe Rabatte auf häufig verschriebene Produkte bei der staatlichen Krankenversicherung Medicare durchsetzen und dadurch Milliarden einsparen. In einer ersten Runde wurden Ende August zehn Mittel identifiziert, für die laut Regierungsangaben ab 2026 Abschläge von durchschnittlich etwa 50 Prozent des derzeitigen Nettopreises geplant sind.
Betroffen davon ist auch das deutsche Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim. Dessen Topprodukt Jardiance wird gemeinsam mit dem US-Konzern Eli Lilly vermarktet und erzielte im vergangenen Jahr einen weltweiten Umsatz von rund acht Milliarden Dollar. Jardiance wird bei Diabetes und verschiedenen Herzerkrankungen eingesetzt.
„Die geplanten Preissenkungen werden unser Geschäftsmodell in den USA grundsätzlich verändern“, sagte Hubertus von Baumbach, Vorstandsvorsitzender von Boehringer Ingelheim, dem Handelsblatt. „Wir werden weniger Geld zur Verfügung haben, um in Innovationen zu investieren. Und wir werden vermutlich auch unsere Kostenstrukturen anpassen müssen.“ Das Ausmaß lasse sich aber erst bestimmen, wenn man die genauen Preisvorgaben kenne.
Klar ist: Es geht um viel Geld. Medicare hat nach eigenen Angaben im Zeitraum Juni 2022 bis Mai 2023 rund 7,1 Milliarden Dollar für die Versorgung von Patienten mit dem Medikament Jardiance ausgegeben. Die Zahl ist ein Anhaltspunkt, weil bei diesem Bruttowert die Provisionen für Arzneimitteleinkaufsorganisationen (sogenannte Pharmacy Benefit Manager) einbezogen sind, während bereits gewährte Rabatte nicht berücksichtigt wurden.
Boehringer muss einen Preisabschlag auf seinen Nettopreis ab 2026 gewähren. Wie hoch der Abschlag genau ausfällt, wird Medicare erst in den nächsten Monaten festsetzen – und zwar einseitig, klagen Branchenvertreter. Im offiziellen Sprachgebrauch ist allerdings von „Verhandlungen“ die Rede.
Gewinneinbußen von etwa fünf Prozent drohen
Das Gesetz zu den Preissenkungen ist Teil des Inflation Reduction Acts (IRA), das im vergangenen Jahr zur Neuausrichtung der US-amerikanischen Wirtschaft aufgesetzt wurde. Im Bereich der staatlichen Gesundheitsversorgung sieht der IRA einen verbesserten Zugang der Bevölkerung zu Medikamenten vor, was etwa mit Preissenkungen bei verschreibungspflichtigen Produkten erreicht werden soll.
Insgesamt gibt Medicare pro Jahr mehr als 200 Milliarden Dollar für ambulant verschriebene Medikamente aus. Nach Schätzungen der Investmentbank Wells Fargo Securities könnten mit den geplanten Preissenkungen von 2026 bis 2028 rund 36,5 Milliarden Dollar eingespart werden.
Für die Pharmabranche sind die Folgen groß: Laut Marktanalysen müssen die betroffenen europäischen Pharmaunternehmen bei Preiszugeständnissen von 35 bis 50 Prozent im Jahr 2030 Gewinneinbußen von etwa fünf Prozent hinnehmen. „Inwieweit sich die Pharmahersteller mit den Regelungen arrangieren können, wird entscheidend von den Preisfestsetzungen in den nächsten Monaten abhängen“, sagt Markus Manns, Senior Portfoliomanager bei Union Investment.
Der negative Effekt durch den IRA werde sich in den nächsten Jahren zudem verstärken, unter anderem weil die Zahl der jährlich ausgewählten Produkte auf bis zu 20 steige. Dabei greifen die Preisabschläge für chemische Medikamente wie Tabletten sieben Jahre nach Marktzulassung, für Biotech-Medikamente beträgt die Zeitspanne elf Jahre.
Konzerne klagen gegen das Gesetz
Gegen das Gesetz zu den Preisabschlägen hat Boehringer Ingelheim, wie verschiedene andere betroffene Konzerne auch, Klage eingereicht. Dies könnte kurzfristig zu einer einstweiligen Verfügung führen. Grundsätzlich dürfte der Klageweg aber bis zum obersten Gericht Supreme Court führen, was Jahre dauern würde.
„Bei der Klage geht es darum, dass das Gesetz uns in unseren Freiheitsrechten beschränkt“, sagt von Baumbach, der Mitglied der Eigentümerfamilie von Boehringer ist. „Die USA verhängen ein klares Preisdiktat und sehen existenzielle Strafen vor, wenn sich die Unternehmen nicht beugen. Mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun.“
Die Regelungen sehen vor, dass Unternehmen, die der Preisvorgabe nicht folgen, hohe Verbrauchsteuern zahlen müssen. Diese können auf eine Höhe von bis zu 95 Prozent des Produktumsatzes steigen. Hinzu kommen zivilrechtliche Geldstrafen, wenn Patienten und Kliniken nicht mit einem entsprechend den Vorgaben bepreisten Medikament versorgt werden. Wenn Hersteller die Verbrauchsteuern nicht zahlen wollen, bleibt nur die Möglichkeit, dass all ihre Medikamente aus der Erstattung der staatlichen Krankenversicherung herausgenommen werden.
Bei börsennotierten Konzernen hatte die Liste der ersten zehn betroffenen Medikamente zunächst für keine großen Ausschläge gesorgt. Die meisten davon waren von den Analysten bereits erwartet worden. In Europa sind neben Boehringer Ingelheim und Novartis auch Novo Nordisk sowie Astra-Zeneca direkt betroffen.
Indirekte Folgen wird es bei Bayer geben: Dessen Topprodukt Xarelto, ein Blutverdünner, ist auch auf der Medicare-Liste, wird in den USA aber von Johnson & Johnson vermarktet. Niedrigere Umsätze bei J&J werden zu geringeren Lizenzeinnahmen bei Bayer führen.
Chance für Europa
Boehringer-Chef von Baumbach erwartet als Folge der Gesetzgebung negative Effekte für die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen. Pharmaunternehmen hätten durch die Neuregelungen keinen Anreiz mehr, in kleine Indikationen zu gehen oder zu seltenen Erkrankungen zu forschen.
„Denn wenn sie hier ein Medikament auf den Markt bringen, haben sie nach der ersten Zulassung laut dem IRA-Gesetz noch sieben oder elf Jahre, bis die drastischen Preisreduzierungen von Medicare greifen“, sagt er. Häufig laufe Pharmaforschung aber so, dass man in kleinen erfolgversprechenden Indikationen starte und dann in größere Therapiefelder gehe.
Gerade in der Onkologie wird vielfach so verfahren. Kein Unternehmen werde in kleinere Indikationen investieren, wenn dann nach der Zulassung die Zeit laufe und für größere Indikationen verkürzt werde. „Das macht ökonomisch keinen Sinn“, so von Baumbach.
Insgesamt werde der US-Markt zwar weiterhin der größte Pharmamarkt sein, „aber er wird in bestimmten Bereichen für uns und unsere Branche klar Attraktivität verlieren“, so der Boehringer-Ingelheim-Chef. Europa und Deutschland hätten seiner Ansicht nach jetzt die Chance, sich als erstarkender Standort für die Branche zu positionieren.
„Europa könnte seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern und den Rückstand zu den USA verringern“, sagt von Baumbach. Stattdessen lege die Politik auch hier den Fokus auf Preis- und Kostensenkungen und weniger auf die Frage, wie das Gesundheitssystem funktionsfähiger und effizienter werde, kritisiert er.
„Wir diskutieren über Lieferengpässe und Versorgungssicherheit und unsere Abhängigkeiten von Asien. Aber es gibt kein industriepolitisches Konzept, wie man Europa bei der Medikamentenversorgung widerstandsfähiger und unabhängiger macht und die Innovation vorantreibt.“
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