Ukrainekrieg: Die Lage am Abend

Düsseldorf Das russische Militär greift weiter die ukrainische Hauptstadt an. Im Laufe des Tages sind nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums die ersten russische Einheiten nach Kiew vorgedrungen. Russische „Saboteure“ hielten sich im Bezirk Obolon im Norden der Stadt auf, teilte die Behörde am Freitag über Facebook mit. Solche Angaben lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen.

Medienberichten zufolge waren bereits Schüsse in der Nähe des Regierungsviertels in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zu hören. Das russische Militär blockiert Kiew zudem im Westen, berichtet die Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf das Moskauer Verteidigungsministerium.

Wie mehrere Agenturen berichten, hat Russland darüber hinaus die Kontrolle über einen Flugplatz in der Nähe von Kiew erlangt. Dort seien Fallschirmjäger gelandet.

Das Ministerium rief die Bevölkerung auf, sogenannte Molotow-Cocktails zum Kampf vorzubereiten und Sichtungen über russische Militärtechnik zu melden. Einwohner sollten ihre Wohnungen nicht verlassen. Das ukrainische Heer warnte, russische Einheiten nutzten teilweise eroberte ukrainische Technik.

Die Bewohner Kiews versuchen in Massen, die Stadt zu verlassen. Die Menschen sollen nun mit dem Zug in Sicherheit gebracht werden, Busse und Straßenbahnen fahren in der Hauptstadt nicht mehr.

Der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba hatte bereits am Morgen von einem heftigen Beschuss der Hauptstadt gesprochen. „Schreckliche russische Raketenangriffe auf Kiew“, twitterte Kuleba. „Das letzte Mal, dass unsere Hauptstadt so etwas erlebt hat, war 1941, als sie von Nazi-Deutschland angegriffen wurde.“ Der Minister zeigte sich trotz der massiven Angriffe demonstrativ optimistisch: „Die Ukraine hat dieses Übel besiegt und wird dieses besiegen.“

Für den Freitagabend rechnet ein Berater des ukrainischen Innenministeriums mit Panzerangriffen auf die Hauptstadt Kiew. „Heute wird der härteste Tag“, sagte Anton Heraschtschenko auf dem Messenger-Dienst Telegram. Die Verteidiger von Kiew stünden mit Panzerabwehrraketen bereit, die von Verbündeten stammten.

Auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zeigte sich am Freitagabend kämpferisch. In einem Video zeigte er sich mit engen Verbündeten im Regierungsbezirk in Kiew. „Wir sind alle hier“, sagte er. Zudem kündigte er an, die Unabhängigkeit der Ukraine und das Land zu verteidigen.

Kämpfe in weiteren Landesteilen

Bei Angriffen auf die südukrainische Stadt Mariupol sind nach offiziellen Angaben 35 Zivilisten verletzt worden. Es gebe neun schwer und 26 mittelschwer Verletzte, sagte Bürgermeister Wadim Bojtschenko am Freitag der Agentur Unian zufolge.

Er warf Kämpfern der prorussischen Separatisten vor, zivile Gebäude zu beschießen. Die Situation in der Hafenstadt sei unter Kontrolle, es gebe Wasser und Strom. Mariupol liegt nahe der sogenannten Kontaktlinie zwischen Separatisten und ukrainischer Armee im Verwaltungsbezirk Donezk. Die Stadt hat strategisch enorme Bedeutung. Die Regierung in Kiew hatte mitgeteilt, dass ukrainische Truppen einen Vormarsch auf die Stadt verhinderten.

Auch aus anderen Landesteilen wurden Gefechte gemeldet. Intensive Kämpfe gab es demnach in der Stadt Sumy im Nordosten des Landes. Luftalarm wurde auch in Lwiw im Westen der Ukraine ausgelöst. In Saporischschja im Südosten des Landes wurde ein Grenzposten von einer Rakete getroffen.

Nach Schätzungen vom frühen Freitag sind rund 100.000 Menschen auf der Flucht, mittlerweile dürfte sich die Zahl erhöht haben. Viele versuchen in Nachbarländer wie Polen zu gelangen. Auch Deutschland stellt sich auf die Ankunft von Flüchtlingen ein. Bis zum Abend sind allein in Rumänien nach offiziellen Angaben 19.000 Flüchtlinge eingetroffen.

Geflüchtete in Polen

Zahlreiche Ukrainer verlassen nach Militäraktionen Russlands auf ukrainischem Staatsgebiet das Land.

(Foto: dpa)

Das ukrainische Verteidigungsministerium meldete, dass bis Mittag mehr als Tausend russische Soldaten in den Kämpfen getötet worden seien. Von russischer Seite gibt es keine Zahlen.

Russland verkündete, insgesamt 211 ukrainische Militärobjekte „außer Gefecht“ gesetzt zu haben. Dies teilte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, mit. Unabhängig überprüfen lassen sich solche Aussagen nicht. 

Nach Konaschenkows Darstellung wurden zudem sechs ukrainische Kampfflugzeuge, ein Hubschrauber sowie fünf Drohnen abgeschossen. Auch 67 Panzer seien zerstört worden.

Konaschenkow sagte außerdem, dass Separatistenkämpfer aus der ostukrainischen Region Donezk mittlerweile 25 Kilometer in bislang von ukrainischen Regierungstruppen kontrolliertes Gebiet weit vorgerückt seien. Luhansker Kämpfer seien mit russischer Unterstützung 21 Kilometer weiter vorgedrungen.

Nach schweren Kämpfen überschritten russische Truppen am Freitag den Fluss Dnipro in der Südukraine. Damit hätten sie nun Zugang zur strategisch wichtigen Stadt Cherson, teilte die Gebietsverwaltung mit. Der Gegner habe mit schweren Kräften angegriffen und heftige Verluste erlitten.

Kernkraftwerk Tschernobyl unter russischer Kontrolle

Das stillgelegte Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der belarussischen Grenze haben russische Truppen bereits unter ihre Kontrolle gebracht, wie die ukrainische Regierung mitteilte. Das dortige Personal werde festgehalten, schrieb eine Beraterin des Kommandeurs der ukrainischen Bodentruppen, Aljona Schewtsowa, auf Facebook und sprach von einer „Geiselnahme“.

Die ukrainische Atomenergiebehörde erklärte, sie habe eine erhöhte Gammastrahlung in der Nähe des Kraftwerks festgestellt. Durch den Einsatz schwerer Militärtechnik sei kontaminierter Staub von der Erdoberfläche aufgewirbelt worden.

Reaktor

Russland hat nach ukrainischen Angaben das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl erobert.

(Foto: dpa)

Das russische Verteidigungsministerium bezeichnete die Strahlungswerte in Tschernobyl dagegen als normal. Russische Luftlandetruppen schützten die Anlage vor möglichen Provokationen, sagte Sprecher Igor Konaschenkow.

Auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) stufte die Werte als nicht gefährlich ein. Die Werte lägen innerhalb der Spannweite der bisherigen Messungen in der Sperrzone um Tschernobyl, hieß es.

EU-Staaten frieren Vermögenswerte ein

Die Sanktionspläne der EU richten sich auch gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Außenminister Sergej Lawrow. Entsprechende Meldungen wurden dem Handelsblatt von Diplomaten in Brüssel bestätigt. Konkret werden Vermögenssperren vorbereitet. Ein Einreiseverbot ist dem Vernehmen nach nicht vorgesehen. Dieser Schritt soll dazu dienen, letzte diplomatische Kanäle offenzuhalten.

Putin scheint mit Sanktionen der EU gerechnet zu haben. Die Jacht „Graceful“, die dem Kremlchef gehören soll, befand sich noch vor wenigen Wochen für Wartungsarbeiten auf dem Werftgelände von Blohm+Voss in Hamburg. Ehe die Wartung abgeschlossen war, verließ die Graceful den Hamburger Hafen und nahm Kurs auf Kaliningrad.

„Graceful”

Putin scheint Vermögenswerte wie seine Yacht vor den EU-Sanktionen in Sicherheit bringen zu wollen.

(Foto: Reuters)

Am Donnerstagabend hatte die EU scharfe Sanktionen gegen Russland verhängt. Die Finanzsanktionen zielten auf 70 Prozent des russischen Bankenmarkts und auf wichtige Staatsunternehmen ab, twitterte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach einem Krisengipfel der EU-Staats- und Regierungschefs. „Diese Ereignisse markieren den Beginn einer neuen Ära. Putin versucht, ein befreundetes europäisches Land zu unterjochen. Er versucht, die Landkarte Europas mit Gewalt neu zu zeichnen. Er muss und wird scheitern.“

Nicht enthalten ist jedoch der Ausschluss Russlands aus dem Zahlungssystem Swift. Vor allem Deutschland hatte sich zuletzt dagegen ausgesprochen. Zuvor hatten auch die USA mit Rücksicht auf die EU darauf verzichtet, Russland aus dem Zahlungssystem Swift zu drängen. „Europa will das derzeit nicht“, erklärte US-Präsident Joe Biden, der selbst Sanktionen der USA gegen Russland angekündigt hat.

Am Abend verhängte auch Großbritannien Sanktionen gegen Putin und Lawrow. Das sagte der britische Premier Boris Johnson einer Regierungsmitteilung zufolge. Grund für den Schritt sei die „revanchistische Mission“ Putins und Lawrows, mit der sie die Weltordnung nach dem Kalten Krieg durch den Angriff auf die Ukraine beseitigen wollten.

Johnson warnte zudem davor, dass Putins Absichten möglicherweise über die Invasion in die Ukraine hinausgehen könnten. Er forderte, Russland umgehend aus dem Zahlungsverkehrssystem Swift auszuschließen, „um Präsident Putin und seinem Regime maximal wehzutun“.

Die russische Regierung räumt ein, dass die Sanktionen Probleme bereiten werden. Diese Probleme würden aber gelöst, erklärt Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Russland habe seine Abhängigkeit von ausländischen Importen bewusst reduziert, um sich gegen Sanktionsdrohungen zu wappnen.

Russland selbst hat einem Agenturbericht zufolge Vergeltungssanktionen vorbereitet. Die Regierung in Moskau sei sich der Schwächen des Westens bewusst, zitiert die Nachrichtenagentur Tass die Präsidentin des Oberhauses des russischen Parlaments, Walentina Matwienko, die auch Mitglied im Sicherheitsrat ist.

Gefahren für die Eurozone

Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, warnte vor den Folgen der russischen Invasion in die Ukraine für die Wirtschaft der Eurozone. Der Konflikt werde sich vor allem über die Energiepreise und durch größere Unsicherheit an den Märkten auswirken, sagte Lagarde bei einem Treffen der EU-Wirtschafts- und Finanzminister. Handel werde eine weniger große Rolle spielen, da Russland nur begrenzt mit den Euro-Ländern handle.

„Gas- und Ölpreise sind seit Russlands Invasion in die Ukraine stark gestiegen“, sagte Lagarde. Gas sei sechs Mal teurer als vor einem Jahr und Öl etwa 54 Prozent teurer. „Unsicherheit ist bereits an den Finanzmärkten spürbar, wo sich die Stimmung verschlechtert hat“, sagte Lagarde. Die genauen wirtschaftlichen Auswirkungen seien noch nicht absehbar, da sich die Lage in der Ukraine stündlich verändere.

Christine Lagarde

Die EZB-Präsidentin fürchtet schwere wirtschaftliche Folgen des Ukrainekonflikts für die Länder der Euro-Zone.


(Foto: AP)

Daher konnte Lagarde auch noch keine Angaben dazu machen, ob sich die EZB-Pläne zur Zinspolitik verändert hätten. Bei der nächsten geldpolitischen Sitzung am 10. März werde die EZB die wirtschaftlichen Aussichten umfassend bewerten. „Die EZB ist bereit, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Preisstabilität und Finanzstabilität im Euroraum zu gewährleisten.“

Lagarde unterstützte die EU-Sanktionen gegen Russland. „Die EZB und alle nationalen Zentralbanken im Euro-System werden die Sanktionen, die von der EU und den europäischen Regierungen beschlossen wurden, entschlossen und gewissenhaft umsetzen“, sagte sie. Dazu gehöre etwa, den sanktionierten Banken den Zugang zu Finanzierung zu verweigern, um ihre Vermögen einzufrieren.

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Die Nato in Alarmbereitschaft

Nach einer Sondersitzung der Staats- und Regierungschefs der 30 Bündnisstaaten am Freitagabend kündigte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg eine verstärkte Präsenz des Bündnisses in Osteuropa an. Zur Abschreckung Russlands würden Einheiten der schnellen Einsatztruppe NRF verlegt werden.

Wohin die Einheiten verlegt werden, sagte Stoltenberg zunächst nicht. Er sprach lediglich von mehreren Tausend Soldaten, die auf dem Land, auf der See und in der Luft im Einsatz sein sollten.

Die Sitzungs-Teilnehmer brachten zudem ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, ihre Alliierten kollektiv zu verteidigen. „Unser Bekenntnis zu Artikel 5 des Vertrags von Washington ist unerschütterlich. Wir stehen zum Schutz und zur Verteidigung aller Verbündeten zusammen“, hieß in der gemeinsamen Abschlusserklärung.

Zuvor hatten die Vereinigten Staaten angekündigt, 7000 weitere Soldaten nach Europa zu legen, die zunächst in Deutschland stationiert werden sollen. „Unsere Streitkräfte gehen nicht nach Europa, um in der Ukraine zu kämpfen, sondern um unsere Nato-Verbündeten zu verteidigen und die Verbündeten im Osten zu beruhigen“, sagte Präsident Biden.

In Estland trafen die ersten britischen Soldaten und Lastwagen mit zusätzlicher Ausrüstung zur Verstärkung des Nato-Bataillons in dem baltischen EU- und Nato-Land ein. Insgesamt will London gut 850 zusätzliche Soldaten nach Estland entsenden und somit das britische Truppenkontigent in etwa verdoppeln.

Die Nato kann nach den Worten von Ministerpräsident Mario Draghi auf 3400 zusätzliche Soldaten aus Italien zählen. Draghi sagt vor dem Parlament in Rom, die Truppen sollten das Verteidigungsbündnis dabei unterstützen, die Krise unter Kontrolle zu halten.

In der Frage von Sanktionen sei sich Italien vollständig mit Deutschland und Frankreich einig. „Unsere Priorität sollte heute sein, die Sicherheit unseres Kontinents zu stärken und maximalen Druck auf Russland auszuüben, damit es seine Truppen abzieht und an den Verhandlungstisch zurückkehrt“, sagt Draghi.

Mit Agenturmaterial.

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