Ukraine-Krieg wird nicht auf dem Schlachtfeld entschieden

Düsseldorf Der Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb war in den Jahren 2011 bis 2018 Verteidigungsattaché an der Botschaft in Moskau. Im Interview erklärt er, warum Russlands Präsident Wladimir Putin die Kraft seiner Streitkräfte überschätzt hat und wie ein Frieden in der Ukraine möglich werden kann. Er lobt dabei ausdrücklich Bundeskanzler Olaf Scholz, der lediglich davon spreche, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe. „ Diese Position ist breiter gefasst und aus meiner Sicht damit realistischer und geschickter formuliert“, sagte Schwalb, der aufgrund seiner Tätigkeit als einer der besten Kenner des russischen Militärs gilt. Viele der handelnden Akteure kennt er aus seiner Zeit in Moskau.

Auch wenn Schwalb letztlich einen Patt in den Kämpfen erwartet, warnt er vor einem lang anhaltenden Krieg. Um eine Entscheidung zu erzwingen, könnte Russland taktische Nuklearwaffen einsetzen. In der Militärstrategie ist festgeschrieben, dass über deren Einsatz ein Kriegsende beschleunigt werden kann. „Wir müssen das ernst nehmen“, sagte Schwalb.

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Erst ist Russlands Offensive gegen Kiew gescheitert, nun scheint der Vormarsch im Osten der Ukraine festgefahren. Haben wir die Streitkräfte von Russland überschätzt?
Mag sein, dass einige Experten in Deutschland die russischen Landstreitkräfte falsch eingeschätzt hat. Wichtig aus meiner Sicht ist aber, dass der russische Präsident Wladimir Putin offensichtlich die Stärke und Fähigkeiten seiner Streitkräfte überschätzte. Die Reaktion und Widerstandswillen der Ukrainer hingegen hat er unterschätzt. Der Kreml ist so Opfer seiner eigenen Propaganda geworden.

Aber wie kann es zu so einer Fehleinschätzung kommen?
Bei den jährlichen Großübungen der russischen Streitkräfte findet jeweils eine Abschlussvorstellung für den Präsidenten statt. Ziel dieses vorgeübten Gefechtsausschnittes ist es, den Präsidenten von der Leistungsfähigkeit eigener Streitkräfte zu überzeugen. Jede dieser Abschlussübungen, die ich vor Ort beobachten konnte, war eine tolle Show mit „viel Stahl auf die Heide“. Eine Show, die durch ihre Effekte wirkte. Ein beobachtender Soldat schaut allerdings auf die Ausführenden. Wenn zum Beispiel eine Artillerie-Batterie eine Stunde lang aus derselben Feuerstellung schießt, dann trifft sie zwar immer, aber es zeigt auch einen erheblichen Mangel in der Ausbildung. Man traut also dieser Einheit nicht zu, dass sie nach einem unmittelbaren Feuerstellungswechsel wieder treffen würde. Im Zielgebiet wirkt es gut. Das meine ich mit „Show“ und damit, dass der Präsident seiner eigenen Propaganda aufgesessen ist: Wir waren gut im „großen vaterländischen Krieg“ und „wir sind wieder gut“.

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Der Eindruck aus dieser Veranstaltung kann aber doch nicht den Verlauf des Kriegs in der Ukraine erklären.
Dazu kommt sicherlich, dass der Kreml auch Fehlinformationen aufgesessen war hinsichtlich der Ukraine. Offensichtlich ging man davon aus, dass man freudig und als Befreier begrüßt werden würde. Kein militärischer Planer hätte sonst einen Angriff kurz vor Beginn der Tauperiode geplant, der primär durch Sumpfgebiete führt.

Putin passt seine Ziele nun an. Auf seiner Rede am 9. Mai hat er deutlich gemacht, dass der Fokus auf der Einnahme des Donbas zu liegen scheint. Was folgt daraus?
Ich denke, dass Putin sein Kriegsziel in der Tat verändert hat. In seiner Rede hat er nahezu wörtlich gesagt, dass „Russland für seine Landsleute im Donbas“ kämpfe. Damit verändert er das Narrativ, es scheint jetzt nicht mehr die Rede davon zu sein, dass die Ukraine als Nation verschwinden müsste. Putin bereitet damit eine Situation vor, in welcher er von einer günstigen Ausgangsposition heraus verhandeln zu können glaubt.

Reiner Schwalb

Reiner Schwalb (* 23. Februar 1954 in Gießen) ist ein Brigadegeneral der Bundeswehr außer Dienst. In seiner letzten Verwendung war er ab Dezember 2011 Verteidigungsattaché an der Deutschen Botschaft Moskau in Russland.


(Foto: Privat)

Hat Putin damit ein Angebot für Gespräche über einen Frieden gemacht?
Das hat er nicht. Aber indem er sein Narrativ ändert, hat er einen Schritt in diese Richtung gemacht. Es könnte durchaus sein, dass er es dadurch ergänzen will, dass es ihm gelungen sei, „Nazis“ in der Ukraine zu zerschlagen. Propagandistisch könnte dies gelingen durch Kampf gegen das Asow-Regiment in Mariupol. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Vorwürfe gegen dieses Regiment stimmen oder nicht. Er könnte sie auf jeden Fall gegenüber seiner eigenen Bevölkerung nutzen und nach Zerschlagung des Regimentes als diesbezüglichen Erfolg darstellen.

Wäre mit einem solchen Gesprächsangebot ein erstes Ziel des Westens erreicht, nämlich die Existenz der Ukraine als Staat zu sichern?
Putin kann die Ukraine nicht erobern, aber das Land bedrohen kann er weiterhin. Mit seinen Luftstreitkräften und mit Raketen greift er Positionen im Westen des Landes an. Die Ukraine ist aber nicht mehr in Gänze durch Landstreitkräfte bedroht.

Woraus ergibt sich dies?
Um eine Verteidigung zu überwinden, sollte man mindestens ein Kräfteverhältnis von 3:1 haben. Weder dafür verfügt Russland über ausreichende Landstreitkräfte noch dafür, die Ukraine vollständig zu besetzen und den Raum zu halten. Hinzu kommt, dass die Ukraine eine Tradition im Partisanenkampf hat und Partisanen und Guerillataktiken sehr erfolgreich anwendet. Würde der Kreml also das Ziel die Ukraine vollständig zu erobern weiterverfolgen, würde es einen sehr langen, aber aus russischer Sicht, erfolglosen Kampf geben.

Im Raum steht die Drohung, Russland könnte taktische Nuklearwaffen einsetzen. Halten Sie das für möglich?
In seiner Nuklearstrategie beschreibt Russland die möglichen Gründe für einen Atomwaffeneinsatz. Einer dieser Gründe ist, einen Krieg damit schneller zu beenden. Wir müssen das ernst nehmen. Solche Strategiepapiere werden ja um der Transparenz willen veröffentlicht. Man sagt schon im Frieden, was man militärisch unter bestimmten Rahmenbedingungen machen würde. Ich würde den Einsatz von Nuklearwaffen daher nicht ausschließen. Allerdings richtet sich diese Drohung nicht gegen die Nato, sondern ausschließlich gegen die Ukraine.

Ein Nuklearschlag muss die Nato doch gegen sich gerichtet werten.
Nicht nach russischer Lesart. Beide Seiten, Russland und die Nato, halten sich an gewisse Grenzen. Moskau wettert zwar über Waffenlieferungen, unternimmt aber keine erkennbaren Maßnahmen, diese außerhalb der Ukraine zu stoppen. Der Westen hingegen hat Maßnahmen, wie das Einrichten einer Flugverbotszone, unterlassen, um keine direkte Konfrontation mit Russland einzugehen.

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Ist ein Ende der Aggression möglich und wie könnte der Weg zu einem Friedensschluss aussehen?
Russland hat offensichtlich erkannt, dass es die ursprünglichen Kriegsziele nicht wird erreichen können. Im Hintergrund laufen daher sicherlich bereits Gespräche, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Der wäre nötig, um einen Friedensvertrag auszuhandeln. Die Frage ist, was der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski akzeptieren kann. Zwar verfügt die Ukraine über eine absolute Informationsdominanz, die auch suggeriert, man könne die gesamte Ukraine zurückerobern, allerdings verfügt Russland weiterhin über die militärische Eskalationsdominanz.

Zuletzt hat die Ukraine militärisch Boden gut machen können. Kiew steckt daher die Ziele höher. Weiß das Land den Westen hinter sich?
Kürzlich hatte der ukrainische Präsident, wenn ich das richtig verstanden habe, von der Rückeroberung aller besetzten Gebiete gesprochen, also auch des Donbas und der Halbinsel Krim. Dabei sieht er zumindest Teile des Westens hinter sich.
So wollen die USA, ich beziehe mich hier auf die Aussagen von Verteidigungsminister Lloyd Austin, Russland so geschwächt sehen, dass Putin niemanden mehr angreifen kann. Großbritannien, hier die Außenministerin Liz Truss, spricht von einer Rückeroberung aller Gebiete. Das Erreichen dieser Ziele setzte eine vermutlich sehr lange Kriegführung voraus mit weiteren tausenden von Toten. Bundeskanzler Olaf Scholz hingegen hat erklärt, dass Russland nicht gewinnen dürfe. Diese Position ist breiter gefasst und aus meiner Sicht damit realistischer und geschickter formuliert.

Wir werden ohne Frage in einen Kalten Krieg gehen Reiner Schwalb

Warum agiert Scholz aus ihrer Sicht geschickter?
Ein Abnutzungskrieg wie ihn die USA wollen oder eine Rückeroberung aller Gebiete wird lange Zeit brauchen. Es wäre doch ratsam, erst einmal einen Waffenstillstand im Status quo zu schaffen und später über die Zukunft der besetzten Gebiete zu entscheiden. Friedensverhandlungen, welche auch Themen des Umgangs mit den besetzten Gebieten, der Reparation, des Gefangenenaustausches, der zukünftigen Beziehungen beinhalten, werden doch nicht schnell zum Abschluss kommen. Also wäre für mich zunächst das wichtig, was Bundeskanzler Scholz zu verfolgen scheint, nämlich eine schnelle Beendigung der Kämpfe.
Gegenwärtig versuchen aber beide Seiten ihre jeweilige militärische Lage zu verbessern, um später eine bessere Verhandlungsposition zu haben. Ich erwarte militärisch letztlich eine Pattsituation. Weder Russland noch die Ukraine haben konventionell die Mittel, um zu gewinnen. Auf dem Gefechtsfeld wird dieser Krieg nicht entschieden.

Was kann der Westen machen, um den Krieg zu beenden?
Wir sollten eine beratende Rolle einnehmen. Die Gespräche müssen zwischen Russland und der Ukraine laufen. Die Entscheidung über die Annehmbarkeit eines Verhandlungsergebnisses liegt dann bei Präsident Selenski. Was die Positionen angeht, kann der Westen sicherlich über nicht öffentlich geführte Gespräche auch Druck auf Putin ausüben oder ihm Angebote machen, um so Selenski in seiner Zielsetzung zu unterstützen. Und dies, auch wenn Kanzler Scholz gegenwärtig noch keinen Sinneswandel bei Putin erkennt. Ganz wesentlich ist für mich aber auch der Blick auf eine Sicherheitsordnung nach dem Krieg. Diese sollten wir ständig berücksichtigen, wenn es um die Art der Kriegsbeendigung geht.

Warum ist das relevant?
Wir werden ohne Frage in einen Kalten Krieg gehen. Wichtig ist aber doch, ob dieser Regeln hat, die uns ein gewisses Maß an Sicherheit gewährleisten, oder ob es ein Kalter Krieg wird, in dem an den Rändern permanent militärisch gezündelt wird, und der damit ständig Gefahr läuft zu eskalieren.

Kann der Westen denn Putin vertrauen? Er hält sich doch in der Ukraine selbst nicht an Regeln hält.
Mit Putin wird es sicher schwer werden. Für die meisten Beobachter im Westen ist er ein Kriegsverbrecher, mit dem eine Zusammenarbeit nicht möglich sein dürfte. Langfristig kann ich mir aber kein Russland vorstellen, das wie Nordkorea komplett isoliert ist. Dies erscheint weder militärisch noch gesellschaftlich oder wirtschaftlich sinnvoll. Ganz abgesehen davon, dass es wohl kaum realisierbar sein wird. Also werden wir weiter mit Putin oder auch einem Nachfolger reden müssen. Es scheint auch Äußerungen zu geben, die auf einen Zerfall Russlands hoffen.

Wir werden ohne Frage in einen Kalten Krieg gehen Reiner Schwalb

Was wäre die Folge?
Ich mag mir nicht vorstellen, was nach einem Zerfall Russlands geschehen würde. Das Arsenal an Nuklearwaffen würden in die Hände verschiedener Regionalführer fallen. Wir sollen vielmehr an einem Russland, welches sich von innen heraus frei und demokratisch entwickeln kann, Interesse haben. Das mag nach all dem, was wir jetzt sehen, naiv erscheinen. Aber die jetzt an der Macht befindlichen werden auch nicht ewig leben. Sollten wir also bei einem notwendigen und absehbaren kurz- und mittelfristigen Schwerpunk auf Abschreckung nicht den langfristigen Schwerpunkt darauf legen, zukünftige Generationen nicht zu verlieren? Wir können die Selbstisolierung Russlands kaum beeinflussen, aber wir entscheiden, ob es sinnvoll ist wirklich jedweden akademischen, wissenschaftlichen, kulturellen oder sportlichen Austausch zu begrenzen. Hier sollten wir mehr Vertrauen in diese Elemente der Soft Power haben.

>>Lesen Sie hier: Bundeswehr trainiert Ukrainer an der Panzerhaubitze 2000

Angesichts der Kriegsverbrechen ist das doch im Moment undenkbar.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Westmächte aber genau dies mit der Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion mit der DDR gemacht und zwar primär aus Eigeninteresse. Natürlich waren die Rahmenbedingungen vollständig andere. Kriegsverbrechen können doch offensichtlich auch noch Jahrzehnte später geahndet werden, nämlich dann, wenn die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen es erlauben.

Sie selbst waren lange Jahre in Russland. Hat Deutschland Fehler gemacht, waren wir zu naiv im Umgang mit Moskau?
Die frühere Strategie „Wandel durch Handel“, die heute als gescheitert erklärt wird, war nicht schlecht. Sie hat doch Teile der russischen Gesellschaft positiv geprägt. Auch der Kreml war noch Anfang der 2010er Jahre auf Kooperationskurs. Selbst im Rüstungssektor war Russland willens sich teilweise vom Westen abhängig zu machen. Ich erinnere nur an den Deal mit Frankreich zum Kauf von zwei Hubschrauberträgern oder auch Anfragen an Deutschland zur rüstungspolitischen Zusammenarbeit. Letztlich ist Putin aber einen anderen Weg gegangen, primär, weil es sich von der Nato bedroht sah – militärisch von außen, destabilisierend von innen. Das russische Narrativ folgt da einer eigenen Logik. Während wir dachten, wir schaffen mit der Eingliederung etwa der baltischen Staaten in die Nato Stabilität zum Vorteil aller, sah Russland eine neue Bedrohung aufziehen.

Sie waren vor Kriegsausbruch kritisch gegenüber Waffenlieferungen des Westens. Hat sich diese Sicht verändert in Anbetracht der Erfolge des ukrainischen Militärs?
Vor Kriegsausbruch war ich dagegen, weil ich fürchtete, wir könnten damit Russland einen Kriegsgrund liefern. Nach Beginn des Angriffs waren Lieferungen von Waffen, insbesondere leicht zu bedienende Panzerabwehr- oder Flugabwehrwaffen sehr hilfreich. Viele russische Panzer wurden mit den gelieferten Systemen zerstört. Und wir haben damit deutlich gemacht, dass wir es mit der Unterstützung ernst meinen. Russland hat so erkennen müssen, dass der Westen zusammensteht. Die Lieferungen sollten auch nach dem Krieg nicht enden. Falls Ukraine den Weg der Neutralität geht, muss die Ukraine in der Lage sein, sich selbst verteidigen zu können.

Deutschland wird vorgeworfen, zu zögerlich zu sein. Wie beurteilen Sie dies?
Diese Kritik teile ich nicht. Die Bundeswehr ist nicht ausreichend gut ausgerüstet, um viel abzugeben. Deutschland darf sich doch militärisch nicht entblößen, und muss seinen Verpflichtungen gemäß die Nato-Vereinbarungen erfüllen. Der Bundeskanzler ist zunächst einmal für die Sicherheit von Deutschland verantwortlich und nicht für die der Ukraine.
Also bewerte ich das Handeln nicht als zögerlich, sondern als klug abwägend.
Zusammenfassend bleibt für mich für die Ukraine entscheidend, was der ukrainische Präsident will, für uns, was in unserem besten Interesse liegt. Für mich wäre dies ein baldiger Waffenstillstand, damit die Menschen überleben und die Ukraine wieder aufgebaut werden kann, danach ein Verhandlungsfrieden, der auch langfristige Perspektiven für eine zukünftige europäische Sicherheitsordnung mit einbezieht.

Herr Schwalb, wir danken Ihnen für das Interview.

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