Systemkritik im Zeitalter des Klimawandels Freiheit oder Pflicht

Düsseldorf Wer will das bestreiten: Der Kapitalismus hat schon bessere Zeiten gesehen. Mit dem Finanzcrash von 2007/2008 oder Skandalen wie „Dieselgate“ hat er sich angreifbar gemacht. Und so ist es wenig verwunderlich, dass Systemkritik schon seit einiger Zeit so aktuell ist wie in den späten 1960er-Jahren.

Erschwerend kommt hinzu, dass Klimagefahren – als Ausdruck eines kapitalistischen Wachstumszwangs – den Systemzweiflern aktuell täglich Argumente frei Haus zu liefern scheinen. In Vergessenheit gerät da schnell, dass die Umweltschäden in kommunistischen „Fail States“ viel größer waren.

Bezeichnenderweise findet die bekannte Freiheit-oder-Sozialismus-Debatte nunmehr vor dem Hintergrund der Proteste von „Last Generation“ statt und von Enthaltsamkeitspredigern, die in weniger Konsum ein Mehr an Leben sehen. 

Prototypisch für den neuen alten Streit stehen zwei Bücher von höchst leidenschaftlichen Autoren, die bekannte Lichtgestalten der ökonomischen Theorie als Kronzeugen ihrer eigenen Thesen neu bewerten und sie sozusagen vom Kopf auf die Füße stellen – alles im Licht des Klimawandels.

Da ist auf der einen Seite der deutsche Journalist Philipp Krohn, 46, der seine Favoriten John Stuart Mill (1806 bis 1873), Friedrich August von Hayek (1899 bis 1992) und Amartya Sen (geboren 1933) für einen „Ökoliberalismus“ werben lässt: Soziale Marktwirtschaft soll mittels adäquater ökologischer Maßnahmen gefestigt und klimaresistent werden.

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Auf der anderen Seite steht Kohei Saito, 36, ein japanischer Philosoph. Mit seinem geliebten Karl Marx (1818 bis 1883) gerüstet, ruft er zum „Systemsturz“ auf, zum langen Marsch in einen „Degrowth-Kapitalismus“. Der alte Kapitalismus mit seinem hohen Kohlendioxid-Ausstoß, das steht hier schon mal fest, ist an allem schuld und nicht zu retten. 

Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus.
dtv Verlagsgesellschaft,
München 2023,
320 Seiten,
25 Euro

In seiner Heimat hat der japanische Neomarxist mit seiner sprachlich ermüdenden Philippika zwar keine Revolution entfacht, wohl aber mehr als eine halbe Million Bücher verkauft. Kohei Saito, der während seines Studiums in Berlin auf Karl Marx gestoßen war, argumentiert mit ganz späten Erkenntnissen des deutschen Philosophen, niedergelegt kurz vor dessen Ableben in Notizen, die unveröffentlicht blieben. Saito hat sie entdeckt.

Marx hat hier räsoniert, ob sich die Produktivkräfte des Kapitals wirklich uneingeschränkt für die Befreiung der Arbeiterklasse nutzen ließen, so wie einst im „Kommunistischen Manifest“ oder im „Kapital“ unterstellt. Nein, befand er nun, die Natur werde dem fortgesetzten Raubbau an den Ressourcen ein Ende setzen. Der alte „Produktivismus“ war obsolet. Eine intensive Beschäftigung mit dem Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur sorgte für diesen letzten Dreh.

Marx habe nun eine nachhaltige „Degrowth-Wirtschaft“ im Sinne gehabt, glaubt Saito: „Das Wirtschaftswachstum der Moderne versprach uns ein Leben im Wohlstand. Jedoch wird durch die Umweltkrise des Anthropozäns klar, dass es ironischerweise gerade das Wirtschaftswachstum ist, das die Grundlagen des menschlichen Wohlstands untergräbt.“

Dinge, die die Begierden unnötig wecken

Die Antwort darauf sei, Besitz und Verwaltung der Produktionsmittel durch alle, durch die Gemeinschaft (Marx: „Assoziation“), anzustreben – nicht aber durch eine Ein-Parteien-Diktatur wie in der Volksrepublik China.

Es komme mit Marx darauf an, die „Commons“ wie Bildung, Natur, Menschenrechte und Gesellschaft wiederherzustellen. Kommunismus bedeute daher Überfluss, Kapitalismus aber schaffe Mangel und Knappheiten, was man schon an der Immobilienfrage sehe.

Da hilft angeblich nur eine Revolution. Weil in der Vision des Verfassers die Arbeitszeit radikal gekürzt werden soll, bräuchte man keine Unternehmensberater oder Investmentbanker mehr oder Supermärkte und Restaurants, die die ganze Nacht offenhalten. Ölkonzerne, Großbanken und digitale Infrastruktur (Internetkonzerne) seien zu vergesellschaften.

„Marketing, Werbung, Verpackungen und andere Sachen, die die Begierden der Menschen nur unnötig wecken“, wären genauso verboten wie „Monopole auf geistiges Eigentum“. Stattdessen werde die Pflege von Alten, Kranken und Bedürftigen wichtig.

Über Formen des „grünen Konsums“ oder des „grünen Wachsens“ kann Marxist Saito nur spötteln. „Was machen Sie eigentlich gegen die Erderwärmung?“, fragt er. Eine eigene Einkaufstasche? Keine Getränke in PET-Flaschen? Elektroauto?

Das neue „Opium des Volkes“

Diese guten Absichten allein seien sinnlos, denn „das Kapital heuchelt uns Sorge um die Umwelt vor, und wir fallen auf dieses Greenwashing auch noch herein“. Saito ist auch gegen die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN – die seien nur eine „Alibihandlung mit dem einzigen Zweck, die Dringlichkeit der Krise zu verschleiern“. Das sei das neue „Opium des Volkes“ (bei Marx war es die Religion).

Den Wütereien des Systemumstürzlers setzt Philipp Krohn ökobewegte Reformideen im real existierenden Kapitalismus entgegen – um explizit die UN-Ziele zur Klimaneutralität zu erreichen. Der Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen“ hat sein flott geschriebenes Konzeptbuch zum Ökoliberalismus aus Zeitungsbeiträgen und intensiver Rezeption diverser Arbeiten von Ökonomen entwickelt.

Philipp Krohn: Ökoliberal. Warum Nachhaltigkeit die Freiheit braucht.
Frankfurter Allgemeine Buch,
Frankfurt 2023,
272 Seiten,
24 Euro

Der Markt als Ordnungsprinzip habe sich als überlegen erwiesen, allerdings sei er „blind“ gewesen gegenüber dem Raubbau an Ressourcen, der uns eine „Ökokrise von lebensbedrohendem Ausmaß“ beschert hat, befindet er. Und prophezeit: „Öl-, Erdgas- und Fracking-Infrastruktur werden in zwei Jahrzehnten zu wertlosen Stranded Assets wie die Zeche Zollverein.“

Wir alle aber müssten uns anders ernähren, anders wohnen, uns anders fortbewegen, andere Energie beziehen, anders konsumieren: „Mal hilft Technik, mal anderes Verhalten.“ Jeder solle seinen ökologischen Fußabdruck ausrechnen und ihn reduzieren.

Die nötigen Innovationen aber würden in freiheitlichen Marktwirtschaften besser als unter gelenkter Politik zu tätigen sein, schreibt Krohn. Ingenieure könnten Folgen von Techniken besser abschätzen als Abgeordnete. Es fehle bisher aber an einer „Synthese aus ökologischem Bewusstsein und Leidenschaft für die Freiheit“ – was er nachholen will.

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Wiederholt betont Krohn, dass die bisherigen fünf großen Massensterben auf der Erde immer mit dem Anstieg von Kohlenwasserstoff zu tun hatten.

In seinem Buch lässt er so viele Umweltmahner früherer Zeiten aufmarschieren, dass man sich permanent fragt, warum eine Gesellschaft eigentlich so vergesslich sein kann. Besonders der Ökonom Kenneth Boulding fällt auf. Er hat den Übergang von einer bedenkenlosen „Cowboy-Ökonomie“ in eine nachhaltige Wirtschaft beschrieben, die auf die Interdependenzen des „Raumschiffs Erde“ achte.

Einen Satz Bouldings könnten sich Politiker und CEOs gerahmt ins Büro hängen: „Die wichtigste Maßeinheit des Erfolgs einer Ökonomie ist nicht die Produktion und der Konsum, sondern Natur, Ausmaß, Qualität und Komplexität des gesamten Kapitalstocks, was den Zustand der Menschen in diesem System und ihren Geist einbezieht.“

Ökomoralismus? Nein danke

Unter Krohns drei „Posterboys des Ökoliberalismus“ hat erkennbar Friedrich August von Hayek die Starrolle, der Streiter für einen „bestmöglichen Gebrauch vom Wettbewerb als Mittel, menschliche Leistungen zu koordinieren, nicht als Argument, Dinge so zu lassen, wie sie sind“.

Erinnert wird daran, dass Hayek nicht nur als Inspirator für Deregulierung, sondern auch für Klima- und Umweltschutz verstanden werden kann: „Die Nutzung bestimmter schädlicher Substanzen zu verbieten oder spezielle Vorkehrungen für ihre Nutzung festzulegen, Arbeitsstunden zu begrenzen oder sanitäre Einrichtungen zu verlangen, ist vollständig vereinbar mit dem Schutz des Wettbewerbs“.

Auch John Stuart Mill bekannte sich zu einer intakten Umwelt. Und Amartya Sen erklärt ohnehin angesichts der von ihm erlebten Klimakatastrophe, die Natur sei kein sicherer Ort mehr, „unsere gesamte Existenz als Menschen ist vollständig abhängig von der Umwelt“.

Emissionen verlangen eine Kontrolle überall auf der Welt: „Wir müssen lernen, an andere und nicht nur an uns selbst zu denken.“ Krohn stützt sich auf Mills Emphase, Hayeks Geist für Wettbewerb und Sens alternatives Verständnis der Entwicklung und resümiert: „Wer Ökologie und Freiheit gegeneinander ausspielt, wird am Ende beides verlieren.“

Und auch Malte Faber spielt eine große Rolle, bei dem Krohn in Heidelberg studiert hat: „Nachhaltigkeit muss durch Freiheit gehen“, formulierte der emeritierte Professor. Nach der Finanzkrise hatte er irgendwann seine Marx-Lektüre aufgefrischt, ohne aber nach eigener Aussage etwas zu finden, was die Lösung heutiger Probleme erleichtert. Da ist der Kollege aus Japan bekanntlich ganz anderer Meinung.

Grundlegende Differenzen im Vergleich

Der Vergleich der beiden Öko-Politik-Bücher birgt natürlich grundlegende Differenzen – und damit in jedem Fall Erkenntnisgewinn. Hier der grundlegende Glaube an eine freiheitliche Gesellschaft und an Reformen, an die Wirkung von Preisen, die Angebot und Nachfrage lenken, dort der fast schon manichäische, im Tribunen-Ton verkündete Utopismus vom Heil eines allwissenden Gesellschaftsapparats, der schon alles richten werde, nach welchem Muster auch immer, auf jeden Fall mit Verbot und Enteignung.

Hier der unbedingte Wille zur Freiheit, dort die irrwitzige Idee, öffentlichen Wohlstand mit „Kommunismus“ gleichzusetzen und private Produktion so sehr einzuschränken, dass es wenig zu verteilen gibt. Der eine will den „lernenden Kapitalismus“, der andere den sterbenden Kapitalismus.

Sustainable Green World

Die beiden Autoren unterscheiden sich grundlegend in ihren beiden Werken, plädieren jedoch beide für das senken von Emissionen.

Gemeinsam ist beiden Autoren, unbedingt Emissionen senken zu wollen und dogmengeschichtliche Revision zu betreiben. Was dem einen Marx, ist dem anderen Hayek. Die Klimafrage wird bei beiden als Katalysator für die politische Idee genutzt, umzusetzen in Kommunen („Fearless Cities“ oder „Transition Towns“). Bloßen Ökomoralismus lehnen beide ab.

Alle angesprochenen Systemfragen erscheinen aber zuweilen akademisch, wo es doch ums Überleben geht. Um konkrete Maßnahmen, um Innovationen. Die Luft muss besser, die Erde darf nicht heißer, die Wassermengen dürfen nicht noch gewaltiger werden. Ob beim nötigen Umbau am Ende Wachstum herauskommt oder nicht, ist da im Zweifel zweitrangig.

Es wird ohnehin schwer, Wähler davon zu überzeugen, den gewohnten Lebensstil zu ändern: Alls sind für Klimaschutz, solange es sie selbst nichts kostet. Es geht um den neuen Rahmen, den eine Regierung um ein System zu ziehen hat, das wieder mehr Marktwirtschaft als Monopolkapitalismus sein muss. Philipp Krohn hat dafür einen schönen ersten und letzten Satz formuliert: „Wir sind zu spät.“ Das heißt, anders gewendet: Fangt endlich an! 

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