Psychische Erkrankungen werden für Unternehmen zur Herausforderung

Berlin, Düsseldorf Mitarbeitende der Deutschen Telekom, die psychische Probleme verarbeiten müssen, können sich rund um die Uhr an ihr Unternehmen wenden. Im Employee-Assistance-Programm (EAP) sind ständig Experten erreichbar, sie geben Rat, helfen bei der Suche nach einem Therapieplatz oder überbrücken die Zeit bis zur Aufnahme in einer Klinik.

Die Telekom ist nicht der einzige Dax-Konzern, der sich aktiv auf eine Zunahme der psychischen Erkrankungen seiner Mitarbeiter einstellt. Auch der Autozulieferer Continental und das Energieunternehmen Eon haben in Zusammenarbeit mit externen Experten solche EAPs eingerichtet.

Mit gutem Grund: Laut einer Auswertung der Krankenkasse DAK nimmt die Zahl der psychischen Erkrankungen deutlich zu, sie machen schon 16 Prozent aller Krankschreibungen aus. Die Zahl der Fälle stieg im Vergleich zu 2022 von drei auf 4,8 pro 100 Versicherte an – mit deutlichen Auswirkungen für die Unternehmen.

So warnt Nicolas Ziebarth, Arbeitsmarktexperte am Forschungsinstitut ZEW in Mannheim, der Anstieg der Arbeitsunfähigkeit sei für Unternehmen und deren Belegschaft „eine hohe Belastung mit hohen Kosten, insbesondere für kleine Betriebe“. Im Gegensatz zu nichtpsychischen Erkrankungen könnten Unternehmen nicht abschätzen, wann und ob der Arbeitnehmer zurückkehre. Alle seien daher aufgefordert, stärker über Prävention nachzudenken, sagte er dem Handelsblatt.

Nach Daten der DAK-Auswertung zu den Krankheitsbildern, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegen, zählten Depressionen, Reaktionen auf schwere Belastungen, neurotische Störungen und Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Auch Erhebungen der KKH Kaufmännische Krankenkasse zeigen, dass die psychische Belastung berufstätiger Menschen im ersten Halbjahr 2023 drastisch angestiegen ist. Die Daten der Krankenkassen sind zwar nicht repräsentativ, beinhalten aber einen großen Teil der Bevölkerung.

Katarina Stengler

Die Professorin und Chefärztin sieht die Multikrisenbewältigung als akuten Auslöser für die Zunahme psychischer Erkrankungen.

(Foto: MDR Mitteldeutscher Rundfunk)

Die Gründe für die Zunahme der mentalen Probleme sind vielfältig. In einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der KKH führten die Befragten neben Ausbildung und Beruf auch Krisen wie den Klimawandel und die Inflation an. Die ständige Erreichbarkeit via Smartphone wird aber ebenfalls angeführt. Fast zwei Drittel der Berufstätigen fühlten sich unter Stress, erschöpft und ausgebrannt, jeder sechste Berufstätige leide unter stressbedingten Angstzuständen.

Für Katarina Stengler ist das keine Überraschung. Die Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit und Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Helios-Park-Klinikum in Leipzig beobachtet, dass sich die Menschen seit einigen Jahren in einem permanenten Krisenmodus befänden.

„Sie müssen nicht nur Extreme wie die Pandemie und die damit verbundenen Auswirkungen auf ihr persönliches, soziales und berufliches Umfeld bewältigen, sondern sehen sich in einem seit Jahrzehnten nicht mehr gekannten Ausmaß persönlich und existenziell bedroht“, so Stengler. All das mindere ihre Leistungsfähigkeit.

Zwar seien die Menschen heute eher bereit, sich bei psychischen Erkrankungen Hilfe zu suchen. Das führe aber dazu, dass die ohnehin überlasteten Hilfesysteme noch schneller an ihre Grenzen stoßen und schneller Krankschreibungen erfolgen, weil Menschen nicht rechtzeitig einen Therapieplatz bekommen.

Henkel, Merck und Rheinmetall sensibilisieren Mitarbeiter für mentale Gesundheit

Um die Entstehung psychischer Erkrankungen zu vermeiden, bieten Großkonzerne Seminare und Vorträge an. So gibt es bei der Allianz Webinare gegen Stress oder Meditationsangebote, bei Eon Workshops zum Umgang mit belasteten Kollegen und spezielle Schulungen für Top-Führungskräfte, Merck bietet Achtsamkeitskurse an, Nivea-Hersteller Beiersdorf Resilienz-Trainings oder Yoga-Kurse. Vonovia setzt in jeder Abteilung auf Eins-zu-eins-Gesprächsformate, um gesundheitliche Probleme anzusprechen.

Bei Persil-Produzent Henkel gibt es in verschiedenen Abteilungen „Mental Scouts“. Das sind Mitarbeiter, die ein spezifisches Training absolviert haben und ihre Teams anschließend unterstützen. Eine eigene Gesundheitsapp soll Beschäftigte animieren, sich mit ihrer mentalen Gesundheit auseinanderzusetzen.

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Mit Kampagnen versuchen Firmen, ihre Manager und Mitarbeiter für mentale Gesundheit zu sensibilisieren und das Thema zu entstigmatisieren. So nimmt der Rüstungskonzern Rheinmetall dieses Jahr erstmals an dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) initiierten Welttag für psychische Gesundheit teil.

Bei Merck gibt es aus diesem Anlass eine ganze Aktionswoche. Der Pharmahersteller hat mit seinem „Mental Health Team“ eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe etabliert, die sich mit der mentalen Gesundheit seiner Angestellten beschäftigt.

Damit gesunde Menschen erst gar nicht erkranken, seien solche präventiven Maßnahmen wichtig – auch in Form von regelmäßigen Beratungsangeboten oder niedrigschwelligen Terminangeboten bei Psychologen, betont Psychologin Stengler. In großen Unternehmen gebe es bereits viele Angebote. „Schwierig wird es bei kleinen und mittleren Firmen“, sagt sie.

Betriebsärzte sehen sich als Seismografen für psychische Probleme

Auch Anette Wahl-Wachendorf, Vizepräsidentin des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte, sieht, dass vor allem psychische Erkrankungen stark zunehmen. Um dem entgegenzuwirken, bräuchten Unternehmen eine Kultur, in der Mitarbeiter Probleme ansprechen können, etwa bei Kollegen, dem Betriebsrat, Betriebsärzten oder auch Vorgesetzten. Unternehmen könnten zum Beispiel Plattformen einrichten, wo mentale Gesundheit thematisiert wird.

Neue Technologien, wie zum Beispiel der Einsatz Künstlicher Intelligenz, bedeute Unsicherheit und Angst um den Arbeitsplatz. Die Unternehmensleitung müsse früh und klar der Belegschaft kommunizieren, was auf sie zukommt. „Frühe Seismografen können wir Betriebsärzte sein“, sagt Wahl-Wachendorf, „da wir in den Sprechstunden solche Sorgen erfahren“.

Anette Wahl-Wachendorf

Vizepräsidentin des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte bekommt direkt über die Unternehmen mit, wie die Fallzahlen ansteigen.

(Foto: GUIDO KOLLMEIER/PR)

Für die Unternehmen ist das jedoch nur Teil eines viel größeren Problems. Denn es nehmen nicht nur die psychischen Erkrankungen zu. Die gesetzlichen Krankenkassen melden insgesamt neue Höchststände bei den Fehlzeiten.

Laut der Techniker Krankenkasse mit rund zwölf Millionen Mitgliedern war jeder erwerbstätige Versicherte im ersten Halbjahr 9,5 Tage krankgeschrieben. Im Halbjahr zuvor waren es 9,1 Tage, im Jahr 2021 sogar nur 6,8. Ähnliche Zahlen meldete die DAK. Demnach hatte die Hälfte der Beschäftigten bis Ende Juni bereits mindestens eine Krankschreibung. So eine hohe Quote werde für gewöhnlich erst am Ende eines Jahres erreicht, hieß es.

Das merken nicht nur die Kassen: Der Chemiekonzern Covestro verzeichnete im ersten Halbjahr einen leichten Anstieg der Krankmeldungen auf gut sechs Prozent. Das führe zu Unterbesetzungen insbesondere im Produktionsbereich, heißt es. „Infolgedessen stellen wir einen Anstieg der Arbeitszeit- und Mehrarbeitskonten bei den Kolleginnen und Kollegen fest, die einspringen.“

Fehlzeiten kosten die deutsche Wirtschaft Milliarden

Bei Symrise äußern Mitarbeiter, dass Schichtarbeit nach Jahren eine Belastung darstellt – der Konzern versucht mit zusätzlicher Freizeit für Betroffene gegenzusteuern. Bei der Allianz nennen Mitarbeiter die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie Arbeitsmenge und Arbeitszeit als die größten Druckpunkte.

Die Assekuranz versucht, das individuell im Team zu lösen, etwa durch eine bessere Priorisierung der Aufgaben. Höhere Krankenstände als im Konzernschnitt gibt es bei der Allianz in operativen Einheiten wie der Sachbearbeitung.

Die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Krankschreibungen ließen sich aber nur schwer ermitteln, erklärt Arbeitsmarktexperte Nicolas Ziebarth. Zu bedenken sei, dass eine Fehlzeit unter Umständen Einfluss auf die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen und deren Produktivität hat – „positiv oder negativ“, sagte Ziebarth.

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Zudem könne es sein, dass kranke Mitarbeiter ihre Arbeit nach der Rückkehr ins Büro nachholen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin schätzt den Bruttowertschöpfungsverlust durch Fehlzeiten auf 150 Milliarden Euro pro Jahr. Das Kieler Instituts für Volkswirtschaft spricht hingegen in einer Studie von bis zu 42 Milliarden Euro.

Die Gesamtzahl der Krankheitstage hänge aber auch mit der „Großzügigkeit des Systems“ zusammen, erläutert Ziebarth: „Die deutsche Lohnfortzahlung ist wohl die großzügigste weltweit und auch die durchschnittlichen Fehltage dürften in der weltweiten Spitzengruppe liegen.“ In den USA, wo die soziale Absicherung weit weniger ausgeprägt ist, würden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Durchschnitt drei Krankheitstage pro Jahr nehmen.

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