Pharmafirmen nehmen Arzneimittel in Deutschland vom Markt

Labor

Vier Fälle von Therapieeinschränkungen habe es bereits gegeben, seit das Gesetz die Erstattungsregeln im vergangenen Jahr verschärft habe oder dies zumindest absehbar war.

(Foto: dpa)

Berlin Die Pharmabranche sieht erste Anzeichen dafür, dass das vor rund einem Jahr beschlossene Krankenkassen-Spargesetz der Versorgung mit innovativen Medikamenten schadet. Deutschland zählt zwar nach wie vor zu den Ländern mit der weltweit besten Versorgung mit Arzneimitteln. Patienten müssten aber mit „Therapieeinschränkungen leben, weil Arzneimittel aus dem Markt gehen oder gar nicht erst in Verkehr gebracht werden“, sagte der Vorsitzende des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), Han Steutel, dem Handelsblatt.  

Vier solcher Fälle habe es bereits gegeben, seit das Gesetz die Erstattungsregeln im vergangenen Jahr verschärft habe oder dies zumindest absehbar war. Dazu zählt das HIV-Medikament Lenacapavir, dessen Hersteller Gilead sich gegen eine Markteinführung in Deutschland entschied – genauso wie BMS mit seinem Hautkrebsmedikament Opdualag. 

Das Unternehmen Janssen wiederum nahm das Medikament Amivantamab gegen Lungenkrebs hierzulande aus dem Sortiment. Erst vor wenigen Tagen entschied sich auch der deutsche Hersteller Boehringer Ingelheim, das Arzneimittel Spevigo gegen die seltene Hauterkrankung Psoriasis vom Markt zu nehmen.

Als Grund führen die Hersteller in vielen Fällen an, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) keinen oder keinen hohen Zusatznutzen eines Medikaments in der Behandlung feststellen kann. Ein hoher Zusatznutzen ist unter den neuen gesetzlichen Regeln aber vereinfacht gesagt die Voraussetzung dafür, dass Pharmaunternehmen einen höheren Preis für ein Medikament in der Erstattung verlangen können als für ein Vergleichspräparat. Ist dies nicht möglich, lohnt sich der Verkauf aus Sicht der Pharmafirmen in der Regel nicht.

Die Deutschlandchefin von Boehringer Ingelheim, Sabine Nikolaus, bemängelte zudem, dass die Anforderungen des GBA an Studien nicht mehr zeitgemäß seien, um einen Zusatznutzen nachzuweisen. Bei Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen wie Psoriasis mit wenigen Hundert Patienten könnten klinische Studien, die alle geforderten Parameter liefern, nur schwerlich erfüllt werden. Ausnahmen gelten für sogenannte Orphan Drugs, also Medikamente für seltene Erkrankungen. Als solches wurde die Boehringer-Ingelheim-Arznei aber nicht eingestuft.

„Das starre Nutzerbewertungssystem in Deutschland ist ein großes Problem, da es den Innovationsstandort in unserem Land sowie den Zugang von Patienten zu wichtigen Arzneimitteln gefährdet“, sagte Nikolaus dem Handelsblatt. Es brauche mehr Flexibilität im Verfahren. VFA-Chef Steutel wiederum forderte, dass „moderne Gen- und Zelltherapien besser in das Gesundheitswesen integriert“ werden müssten. 

Keine weiteren Sparmaßnahmen in Sicht

Ähnlich äußerte sich der Roche-Deutschlandchef Hagen Pfundner. „Ich bin als Unternehmer zutiefst besorgt, dass die einstige ‚Apotheke der Welt‘ jetzt einer schleichenden Deindustrialisierung zum Opfer fällt“, sagte er. Die Politik werde „in zehn, zwanzig Jahren“ alles daransetzen, mit viel Geld solche Wirtschaftszweige wieder ins Land zurückzuholen.

Karl Lauterbach

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte mehrmals mit Blick auf das Defizit im kommenden Jahr betont, Pharmafirmen verschonen zu wollen und einzig die Beitragszahler belasten zu wollen. 

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Die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Heike Baehrens, nannte es gegenüber dem Handelsblatt „bedauerlich, wenn sich ein Unternehmen dafür entscheidet, aus dem Markt zu gehen“. Dies gehe zulasten der Patientenversorgung. Gleichzeitig verteidigte sie das derzeit geltende Verfahren, durch das ein „fairer Ausgleich zwischen Innovation und Bezahlbarkeit“ hergestellt werde. Es sei eine „nachhaltige Finanzierung“ der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nötig.

Der Bundestag hatte Ende Oktober 2022 Sparmaßnahmen für die GKV auf den Weg gebracht, um einem milliardenschweren Defizit entgegenzuwirken. Die Maßnahmen treffen neben der Pharmabranche unter anderem auch Krankenkassen, Versicherte und Ärzte. Ziel im Arzneimittelbereich war es, die hohen Medikamentenausgaben von 50 Milliarden Euro pro Jahr zu senken. 

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Hinweise auf weitere Einschnitte gibt es derzeit keine. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte mehrmals mit Blick auf das Defizit im kommenden Jahr betont, Pharmafirmen verschonen und einzig die Beitragszahler belasten zu wollen. Mit der jüngsten Gesetzgebung hat Lauterbach gar höhere Preise für Generika und bessere Forschungsbedingungen für Pharmaunternehmen auf den Weg gebracht.

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