Mit schrägen Ideen in den „Winter des Missvergnügens“

London Wenn selbst die um reißerische Überschriften selten verlegenen britischen Zeitungen sprachlos sind, muss die Lage im Vereinigten Königreich ernst sein. Ende August kapitulierte das Morgenblatt „City A.M.“, beliebte U-Bahn-Lektüre der Londoner Finanzprofis, vor der Flut schlechter Nachrichten. Die Zeitung betitelte die Seiten zwei bis elf schlicht mit „Bad News“.

Großbritannien erwacht in diesen Tagen mit immer neuen Katastrophenmeldungen. Die Energiekosten haben sich innerhalb eines Jahres mehr als verdreifacht. Die Inflationsrate könnte bald auf 18 Prozent steigen. Es droht eine Rezession.

Die Wartezeiten beim staatlichen Gesundheitssystem NHS erscheinen endlos. Eisenbahner, Hafenarbeiter und Strafverteidiger streiken gegen Reallohnverluste. An den Flughäfen herrscht Chaos. Die Hitzewelle hat eine Jahrhundertdürre hinterlassen.

Im Zentrum des Krisen-Tsunamis stehen die dramatisch steigenden Lebenshaltungskosten und das Siechtum des NHS. An diesen beiden Fronten entscheidet sich auch das politische Schicksal der nächsten Premierministerin – die aller Voraussicht nach Liz Truss heißen wird. Die neue „Eiserne Lady“ könnte einen Wendepunkt für das Land bedeuten, denn ihre politischen Pläne sind umstritten, will Truss doch wie einst Margaret Thatcher Härte zeigen, wo Mitgefühl gefragt ist.

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„Großbritannien ist kaputt“ („Britain is broken“) klagt inzwischen sogar der konservative „Daily Telegraph“. Und die meisten Briten sehen das ähnlich. In den 1970er-Jahren galt das Vereinigte Königreich schon einmal als der „kranke Mann Europas“, zog sich dann aber mithilfe der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher und ihrer marktliberalen Revolution aus dem Sumpf. Es folgte die Periode von „Cool Britannia“ unter Labour-Premier Tony Blair, in der London kurzzeitig zur angesagtesten Metropole des Planeten aufstieg.

Erneut der kranke Mann Europas

Heute ist Großbritannien wieder in den depressiven Zustand der 1970er-Jahre zurückgefallen. „In vielerlei Hinsicht ist es ein perfekter Sturm“, sagt Peter Mandelson, der Architekt der „New Labour Revolution“ von 1997 und ehemalige EU-Handelskommissar. Die britische Wirtschaft sei nach einem Jahrzehnt aufeinanderfolgender Krisen schwer erschüttert worden – von der Finanzkrise über den Brexit bis zur Pandemie. „Meine Befürchtung ist nun, dass wir in eine Ära des Niedergangs eintreten, wie wir sie schon einmal in den 1970er-Jahren erlebt haben, mit Schulden, Inflation und Streiks.

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Von allen sieben großen Industrienationen (G7) weist das Inselreich das geringste Wirtschaftswachstum und die höchste Inflationsrate aus. Das Verbrauchervertrauen ist auf den tiefsten Stand seit 50 Jahren gefallen. „Die Lage ist schrecklich“, konstatiert der konservative Lord Stuart Rose, langjähriger Chef des Handelskonzerns Marks & Spencer, „niemand fühlt sich verantwortlich.“

Rose prangert damit das aktuelle politische Vakuum an. Es herrscht, seit Noch-Premierminister Boris Johnson Anfang Juli unter dem Druck zahlreicher Skandale seinen Rücktritt ankündigen musste und seither nur noch als Statthalter fungiert.

Seitdem touren die britische Außenministerin Liz Truss und Ex-Finanzminister Rishi Sunak durchs Land und ringen um den Vorsitz der Konservativen Partei und damit um die Nachfolge Johnsons als Premierminister – wobei Truss in den Umfragen deutlich vorne liegt.

Liz Truss

Die Nachfolge des britischen Premierministers Johnson wird sich zwischen Ex-Finanzminister Sunak und Außenministerin Truss entscheiden.

(Foto: dpa)

„Das Land steckt in einem riesigen Schlamassel“, sagt auch Alastair Campbell, der als legendärer „Spin Doctor“ einst Tony Blair an die Macht führte. Johnson habe dem Ansehen des Landes und seinen Institutionen mit seinen Lügen schwer geschadet. Campbell: „Umso deprimierender ist es, dass sowohl Truss als auch Sunak populistisch agieren und der konservativen Parteibasis nach dem Mund reden.“

Das letzte Wort über den künftigen Regierungschef haben etwa 170.000 Mitglieder der Tories, der konservativen Partei. Am Montag wird verkündet, wer Großbritannien aus der größten Wirtschaftskrise seit 50 Jahren führen soll. Truss, Liebling der Parteirechten und Brexit-Anhängerin, scheint den Job so gut wie sicher zu haben. Die Ernennung zur Premierministerin durch die Queen wäre nach dem Mitgliedervotum nur noch eine Formsache – die Tories haben im Unterhaus eine absolute Mehrheit.

Fest steht: Wird Truss Premierministerin, übernimmt sie ein Land im ökonomischen Ausnahmezustand. Wie stehen die Chancen, dass sie der Krise Herr wird?

Ein Land im Energienotstand

Eine Hauptursache der Misere: Die jährlichen Kosten für Strom und Gas werden ab Oktober für 24 Millionen Haushalte in Großbritannien im Durchschnitt mehr als dreimal so hoch sein wie vor einem Jahr. Selbst Energiebosse wie Keith Anderson von Scottish Power halten diesen Preissprung für „unbezahlbar“ für die meisten Verbraucher.

Die steigenden Energiepreise sind zusammen mit hohen Lebensmittelkosten der größte Treiber für die Inflation, die im Juli bei gut zehn Prozent lag und nach einer Vorausage der Citibank bis Anfang kommenden Jahres auf mehr als 18 Prozent steigen könnte. Dass die Briten deutlich höhere Preissteigerungen verkraften müssen als andere Nationen, liegt an einem doppelten Dilemma: Während in den USA vor allem der heimische Lohndruck und Lieferengpässe die Preise nach oben treiben, sind es in der EU die hohen Kosten für Energie und Nahrungsmittel. Großbritannien hat beide Probleme am Hals.

Hinzu kommt, dass die britischen Währungshüter den Inflationsschub verschlafen haben und bislang zögerlicher auf den Inflationsschub reagiert haben als etwa die US-Notenbank. Mit großen Zinsschritten versucht die Bank of England nun Versäumtes nachzuholen.

Das treibt die Hypothekenzahlungen vieler Hausbesitzer auf der Insel nach oben und verschärft so die Krise bei den Lebenshaltungskosten. „Eine ganze Generation junger Menschen wird mit der Realität konfrontiert, dass sie sich weder eine Mietwohnung leisten, geschweige denn Wohneigentum besitzen können“, sagt Jonathan Rolande, Sprecher der National Association of Property Buyers.

Arbeitnehmer streiken gegen Reallohnverluste

Am stärksten leiden die Arbeitnehmer unter den steigenden Lebenshaltungskosten. Ihre Reallöhne sind im zweiten Quartal gegenüber dem Vorjahr um drei Prozent gesunken. Das ist der stärkste Einkommensverlust seit 20 Jahren. Kein Wunder, dass die Gewerkschaften versuchen, die Reallohnverluste durch höhere Gehaltsforderungen und Streiks zumindest teilweise auszugleichen.

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Gerade haben die Hafenarbeiter in Felixstowe, dem größte Containerhafen des Landes, ihren achttägigen Ausstand vorläufig beendet. Die Eisenbahner befinden sich seit Juli in einem Dauerarbeitskampf und legen immer wieder das Transportsystem lahm. Und die vom Staat bezahlten Strafverteidiger in England und Wales sind wegen „Hungerlöhnen“ in einen unbefristeten Streik getreten. Lehrer und Krankenschwestern wollen ebenfalls die Arbeit niederlegen.

„Die Menschen werden jeden Tag ärmer und können ihre Rechnungen nicht bezahlen“, sagt Mick Lynch, Chef der Eisenbahnergewerkschaft RMT. Er hält abgestimmte Arbeitskämpfe im Herbst für möglich, was quasi einen Generalstreik bedeuten würde.

Premier Johnson gibt Wladimir Putin und seinem Angriffskrieg auf die Ukraine die Schuld an der wirtschaftlichen Misere: „Es ist Putins Krieg, der die britischen Verbraucher kostet.“ Großbritannien bezieht zwar nur etwa drei Prozent seines Gases aus Russland, ist aber trotz des Brexits über Pipelines mit dem europäischen Gasmarkt verbunden. Hinzu kommt, dass Großbritannien kaum über Gasspeicher verfügt, die britischen Häuser vorwiegend mit Gas beheizt werden und zudem meist miserabel isoliert sind.

Lkw-Fahrer in Großbritannien

Der Brexit hat den Personalmangel in vielen Branchen verstärkt.

(Foto: dpa)

Truss weigert sich bislang beharrlich, dem Energienotstand mit direkten Finanzhilfen für die Haushalte zu begegnen. Sie will mit Steuersenkungen für Entlastung sorgen und die von Sunak durchgesetzte Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge sowie die geplante Anhebung der Körperschaftsteuer zurücknehmen.

„Man kann den Menschen nicht erst das Geld über Steuern abnehmen und es ihnen dann in Form von Staatshilfen wieder zurückgeben“, argumentiert Truss ganz im Geiste Thatchers. Ihre Steuervorschläge helfen den einkommensschwachen Familien jedoch wenig, da sie kaum Steuern zahlen und meist von der Beitragspflicht befreit sind.

Auch die von Truss ins Spiel gebrachte Idee, die Mehrwertsteuer um fünf Prozent zu kürzen, ist nach Meinung von Ökonomen ein Rohrkrepierer. Die ärmeren Haushalte müssen ihr Geld außer für Energie vor allem für Lebensmittel ausgeben. Auf die meisten Nahrungsmittel wird aber ohnehin keine Mehrwertsteuer erhoben. Paul Johnson, Chef des renommierten Institute for Fiscal Studies (IFS), befürchtet, dass Truss’ Pläne die Staatsfinanzen „völlig ruinieren“ würden.

Liz Truss will mit Reagonomics aus der Krise

Die Möchtegern-Premierministerin will ihre Steuersenkungen nämlich zum Großteil auf Pump finanzieren. Die Kosten liegen bei mehr als 30 Milliarden Pfund (etwa 35 Milliarden Euro). Das ist riskant, weil die Zinsen für etwa ein Viertel der britischen Staatsschulden derzeit durch inflationsindizierte Anleihen in die Höhe getrieben werden. Die Zinslast könnte sich nach Berechnungen des parteiunabhängigen Office for Budget Responsibility (OBR) auf mehr als 80 Milliarden Pfund verdoppeln und damit den Spielraum für Steuersenkungen zunichtemachen.

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Truss kokettiert zwar gern mit der Rolle einer „neuen Eisernen Lady“. Ihr Wirtschaftsprogramm, das der Citibank-Ökonom Ben Nabarro die „größte Gefahr für die britische Wirtschaft“ nennt, ähnelt jedoch eher den umstrittenen Ideen des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan. „Dass Truss sich als neue Thatcher präsentiert, ist absurd“, sagt Politstratege Campbell. Die Eiserne Lady habe fest zu ihren Prinzipien gestanden, Truss sei hingegen wie Johnson eine Gefangene der Parteirechten.

Wie einst Reagan scheint die Favoritin der Tories darauf zu setzen, dass ihre Steuergeschenke das Wirtschaftswachstum antreiben und sich so quasi selbst finanzieren. Für Thatcher hingegen hatte der Kampf gegen die Inflation stets Priorität. Sie schreckte während der Rezession 1981 auch vor Steuererhöhungen nicht zurück, um die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen.

Truss verspricht zwar ständig, sie werde das Wachstum wieder ankurbeln. Bis auf die genannten Steuersenkungen ist ihr dazu jedoch noch nicht viel eingefallen. Dabei leidet Großbritannien seit Jahrzehnten unter einer chronischen Wachstums- und Produktivitätsschwäche. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum liegt seit der Finanzkrise 2008 unter zwei Prozent. Die Produktivität stagnierte nach Angaben der Bank of England im gleichen Zeitraum mit einem mageren Plus von 0,4 Prozent.

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Die Hauptursache für die britische Krankheit sind zu wenig Investitionen, öffentliche und private. Die Investitionsquote (Anteil der Bruttoanlageinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt) lag in Großbritannien in den vergangenen zehn Jahren deutlich unter 20 Prozent – dem Durchschnittswert in der EU. Noch verstärkt wurde die Investitionsschwäche durch den Brexit, der die privaten Investitionen nach einer Berechnung von Forschern der London School of Economics (LSE) um elf Prozent und die Produktivität um bis zu fünf Prozent gedrückt hat.

Das chronisch kranke Gesundheitssystem NHS verschärft die Wirtschaftskrise

Die Investitionsschwäche zeigt sich eindrücklich auch im nationalen Gesundheitssystem NHS. Das Siechtum des Gesundheitssystem bremst wiederum das wirtschaftliche Wachstum, weil rund 200.000 Briten mit chronischen Krankheiten auf ihre Behandlung warten und nicht arbeiten können.

Ende Juli warnte die Notaufnahme des Royal Bolton Hospital in Manchester ihre Patienten, dass sie mehr als 40 Stunden auf ein Bett warten müssten. Wer in England einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt hat, muss im Durchschnitt fast eine Stunde auf den Notarzt warten.

„Wir müssen uns die Frage stellen, warum wir im Großen und Ganzen genauso viel Geld für unser Gesundheitswesen ausgeben wie Frankreich und Deutschland, obwohl diese beiden Länder viel mehr Ärzte pro Kopf haben als wir“, sagt der frühere Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Nach einem Bericht des Gesundheitsausschusses des britischen Parlaments fehlen in Großbritannien rund 12.000 Krankenhausärzte und mehr als 50.000 Krankenschwestern und Hebammen.

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Nachdem die konservative Regierung mit dem Brexit erst viele Ärzte und Krankenschwestern aus der EU verscheucht hat, sucht sie jetzt im außereuropäischen Ausland nach Ersatz. Angesichts hoher Inflationsraten und Reallohnverluste ist das nicht einfach.

Wer immer also nach dem 5. September in 10 Downing Street einzieht, hat keine Zeit zu verlieren. Der englische Patient braucht sowohl Nothilfe als auch eine Langfrist-Therapie. Der letzte Premierminister, der sein Amt in einer ähnlich düsteren Lage übernahm, war der Labour-Politiker James Callaghan 1976. Der „Winter der Unzufriedenheit“ 1978/79 besiegelte damals sein Schicksal. Den Briten steht erneut ein ökonomisch eiskalter, aber politisch heißer Winter bevor.

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