Kiew kann den Krieg nur schlecht verbergen

Trügerische Normalität

Auf den ersten Blick scheint das Leben in der Hauptstadt Kiew normal zu sein. Aber die Wirklichkeit erzählt eine andere Geschichte.

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Kiew Oberflächlich betrachtet scheint im Kiewer Alltag Normalität eingekehrt zu sein. Morgens eilen die Menschen zur Arbeit, viele mit Kaffeebecher in der Hand. Die Straßen sind voller Autos, Restaurants am Abend oft gut besucht.

Doch wer auf Einzelheiten achtet, sieht eine andere Geschichte. Viele Gebäude tragen die Spuren russischer Geschosse. Denkmäler sind mit Sandsäcken verbarrikadiert und nach Beginn der mitternächtlichen Ausgangssperre sind die Straßen leergefegt.

In Restaurants plaudern die Gäste über das Leben, Freunde und die Arbeit und diskutieren, ob ihnen im Kino „Barbie“ oder „Oppenheimer“ besser gefallen hat oder welches Konzertangebot ihnen mehr zusagt.

Aber solche Gespräche können sich plötzlich in Geschichten über die Beerdigung eines geliebten Menschen oder Berichte darüber verwandeln, wo jemand während des letzten Raketenangriffs Schutz gesucht hat oder wie er seinen Tagesablauf geändert hat, um trotz schlafloser Nächte noch vernünftig arbeiten zu können.

„Der Tod ist zu einem sehr alltäglichen Teil unseres Lebens geworden“, sagt die 29 Jahre alte Projektmanagerin Aiona Wyschnyzka, die im Zentrum Kiews lebt. Sie versucht, es sich in ihrer Mietwohnung bequem zu machen, kauft Kleinigkeiten und züchtet Zimmerpflanzen.

Kindheit in Kriegszeiten

Der als Soldat verkleidete Artem Mihaylenko (7) steht mit seiner Mutter auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew.

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Kunst im Zeichen des Krieges

Selfie mit einem Banksy-Kunstwerk: Das Gebäude in Borodjanka wurde bei einem russischen Angriff zerstört.

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Wyschnyzka hat sich daran gewöhnt, dass wegen der Detonationswellen immer wieder Sachen vom Fensterbrett fallen. Wenn nachts zu viele Explosionen dröhnen, bekommt sie Migräne. Doch wie Millionen anderer Menschen in der Hauptstadt arbeitet sie weiter und „feiert das Leben in den Pausen vom Krieg“.

Angst vor der ewigen Aggression

Wyschnyzka fürchtet, dass die russische Aggression gegen die Ukraine ewig weitergeht oder doch so lange, dass es mit dem menschlichen Leben nicht vereinbar ist. Sie spüre so ein Gefühl im Hintergrund, „dass einem das Leben einfach fortgenommen wird, ein Leben das ganz anders aussehen sollte“, sagt sie.

Familienfoto

Eine Familie posiert für ein Porträt an der Heiligen Kathedrale in Kiew.

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Blick auf den Dnepr

Ein Mann spiegelt sich in einer Glaswand, während er den Dnepr in Kiew fotografiert.

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Im zweiten Jahr der russischen Invasion hat Kiew weniger physische Zerstörungen erlitten als in den ersten Kriegsmonaten. Die verstärkte Luftabwehr fängt inzwischen russische Drohnen und Raketen ab, die meist nachts oder in den frühen Morgenstunden auf die Hauptstadt abgefeuert werden.

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Wer in diesem Sommer durch die Straßen Kiews geht, bekommt überall Anzeichen von Normalität zu sehen: Ein kuschelndes Paar auf einer Bank. Spielende Kinder in Parks, Bungee-Springer, die über dem Dnipro baumeln. Ein frisch verheiratetes Paar tanzt zu Musik von Straßenmusikanten.

Sportlicher Ausgleich

Ein Mann trainiert an Geräten, die aus Metallschrott gebaut wurden. Das „Outdoor-Fitnessstudio“ mit dem Namen „Kachalka“ öffnete im Jahr 1966.

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Doch in den Gesichtern der Menschen ist zu lesen, dass sie wegen der Angriffe zu wenig schlafen, erschöpft sind von lauter schlechten Nachrichten und vor allem trauern.

Der Krieg lässt sich nicht verdrängen

Olessia Kotubei erzählt, ihr Partner diene an der Front, auch ihre beste Freundin habe sich den Streitkräften angeschlossen. Deswegen könne sie den Krieg nicht verdrängen. Als sie Anfang Juni 26 wurde, sei sie mit einer Freundin in ein Café im Stadtzentrum gegangen, habe zwischen Blumen und üppigem Grün in einem Innenhof ihren Kaffee und den Blick auf die Sophienkathedrale genossen. Doch selbst in diesem malerischen Umfeld sei ihr unbehaglich gewesen.

An einem Kiosk

Menschen warten an einer Bude in Kiew auf ihr Essen.

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Bruch mit der Vergangenheit

Ein sowjetisches Emblem liegt auf dem Boden, nachdem es von der Mutter-Heimat-Statue entfernt wurde.

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Damals sei die ukrainische Gegenoffensive gerade losgegangen und ihr Liebster diene doch in einer der angreifenden Einheiten. „In so einem Augenblick kann man keinen Einfluss nehmen. Man muss abwarten und seine Seele gesund halten, um nicht den Verstand zu verlieren“, sagt Kotubei. Auf der Rückseite ihres Mobiltelefons klebt ein Foto ihres Freundes. Er habe auch eines von ihr am Handy, sagt sie.

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Während sie redet, jaulen die Sirenen auf. Kotubei nimmt es müde zur Kenntnis. Kurz darauf erschüttern Explosionen die Hauptstadt. „Diese Raketenangriffe, die kommen, während ich versuche, ein normales Leben zu leben, erschüttern mich besonders“, sagt sie.

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