Kann die CDU die AfD mit der Methode Kretschmer kleinhalten?

Der ältere Herr mit der Jeansjacke ist aufgebracht. „Die Grünen führen uns in den Krieg und zerstören unsere Wirtschaft!“, schimpft er. „Warum regieren Sie mit diesen Kriegstreibern weiter?“

Die Frage geht an Michael Kretschmer. Der sächsische Ministerpräsident ist Anfang Mai in die Stadthalle von Limbach-Oberfrohna gekommen. Draußen ist er eben von wütenden Demonstranten beschimpft worden, die mit „Kretschmer in den Knast“-Plakaten angerückt waren. Drinnen sitzen etwa 200 Bürger und wollen ihre Anliegen loswerden.

Der Mann mit der Jeansjacke findet, bei der letzten Landtagswahl hätten die Wähler in Sachsen eine Regierung aus CDU und AfD gewählt. „Sie haben ohne Not eine Regierung mit Grünen und SPD zusammengeschustert, um den Wählerwillen zu hintergehen! Der Wählerwille war CDU und AfD!“

Kretschmer hört sich das alles an und sagt dann ruhig: „Das kann ja gar nicht sein. Und zwar deswegen, weil ich vor der Wahl schon gesagt habe, dass eine Koalition mit der AfD nicht zustande kommt.“ Die Partei agiere so „unfassbar böse“, dass es ihm Angst mache.

Der sächsische Ministerpräsident hat in den vergangenen Monaten oft Schlagzeilen gemacht. Kretschmer hat für eine grundlegende Änderung des Asylrechts in Deutschland plädiert. Er hat gefordert, die kaputte Pipeline Nord Stream 1 zu reparieren, durch die lange russisches Gas floss. Er hat vorgeschlagen, den Ukraine-Konflikt durch Verhandlungen „einzufrieren“. Parteikollegen empfinden seine Äußerungen, speziell die zu Russland, oft als Zumutung. Politische Gegner werfen ihm mitunter vor, Positionen der AfD zu übernehmen und so deren Geschäft zu betreiben.

Er hält dagegen, er belehrt nicht

Selbst die, die ihn heftig kritisieren, wissen aber: Wenn einer verhindern kann, dass die AfD bei der Landtagswahl in Sachsen im nächsten Jahr stärkste Kraft wird, dann er. Anders als in Thüringen, wo die extrem Rechten mit weitem Abstand vorne liegen, zeichnet sich in Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. Mal liegt die AfD vorn, mal die CDU. Kretschmer ist ein Getriebener dieser Umfragewerte.

Seine Strategie ist die des exzessiven Zuhörens, seit Jahren schon. Er geht überall hin, lässt sich anschreien, beantwortet stundenlang Fragen. Redet, erklärt, macht sich Notizen. Manche witzeln, er habe bereits alle vier Millionen Sachsen persönlich getroffen.
Er hält dagegen, er belehrt nicht

Kretschmer, der auch Vizechef der CDU ist, hat sich zu einer Art Sprecher des Ostens gemacht. Er sagt, was viele hier denken – und läuft damit in den Abendnachrichten. Das kommt gut an, sogar bei manchem AfD-Sympathisanten. Nur: Verhindert man so einen Wahlsieg der AfD?

Die letzte Landtagswahl in Sachsen ist nur seinetwegen nicht gegen die Wand gefahren. Dirk Neubauer, Ex-SPD-Politiker und Landrat in Sachsen, über Michael Kretschmer

Wer die Methode Kretschmer verstehen will, muss sich einen seiner Bürgerdialoge anhören – wie in Limbach-Oberfrohna. An solchen Abenden werden die kleinen Themen verhandelt, aber auch die ganz großen: Blitzer an einer Schnellstraße, mangelnde Anerkennung von Handwerksberufen, die mögliche Ansiedlung einer Pulverfabrik von Rheinmetall in der Region, Angst vor einem Atomkrieg.

Kretschmer hört zu. Wenn sich Leute aufregen, entgegnet er ruhig: „Ich sage Ihnen jetzt meine Meinung.“ Er hält dagegen. Er belehrt nicht.

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Knapp zwei Stunden sind vergangen, da meldet sich eine Frau mit blonder Hochsteckfrisur. Sie fragt nach Zahlen von „Ausländern“. Fragt: „Wie lange wollen wir das noch mitmachen, dass in unsere Sozialsysteme eingewandert wird und wir nichts dagegen tun?“ Die Frau betont, sie sei nicht rechtsradikal „oder sonstwas“. Es gibt Applaus.

Kretschmer holt aus. Es gebe eine Reihe von „Ausländern in diesem Land, die echt dazu beitragen, dass wir hier so gut leben können“. Weil Deutschland aber durch die vielen Geflüchteten aus der Ukraine gerade so gefordert sei, müsse man beim Thema Asyl jetzt „noch stringenter“ sein: Rückführungsabkommen durchsetzen, effektiven Grenzschutz ermöglichen.

Deutschland müsse auch in Zukunft ein Land sein, in dem Menschen Asyl beantragen können, sagt Kretschmer. „Aber wir müssen es stärker selber in der Hand haben, wem wir Asyl geben.“ Dass die Rückführung abgelehnter Asylbewerber nicht gut genug funktioniere, sei die Mehrheitsmeinung in der deutschen Bevölkerung.

Am Ende bekommt auch Kretschmer Applaus. Wenig später wird er bundesweit Schlagzeilen machen, weil er eine Änderung des Grundgesetzes ins Spiel bringt. Dort ist das Asylrecht für politisch Verfolgte festgeschrieben. Der Ministerpräsident verweist auf den Frust im Land.

Niederlage gegen AfD-Mann Chrupalla als Motivation

Kretschmers Bürgerdialoge sind eigentlich aus der Not geboren worden. 2017 verliert Kretschmer bei der Bundestagswahl sein Direktmandat an den heutigen AfD-Chef Tino Chrupalla. Der liegt bei den Erststimmen im Landkreis Görlitz einen Prozentpunkt vorn. Die Niederlage ist schmerzhaft für Kretschmer – 15 Jahre lang war das sein Wahlkreis. Hier ist er geboren, hier kennt er viele persönlich.

Landesweit liegt die CDU damals bei den Zweitstimmen knapp hinter der AfD. Es ist ein Debakel. Kurz darauf wird Kretschmer nach dem überraschenden Rückzug des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich von ihm als Nachfolger vorgeschlagen.

Kretschmer während der Corona-Pandemie

Von rechts wird Kretschmer für seine Coronapolitik teils extrem angegangen.

(Foto: dpa)

Kretschmers neue Mission: Bürgernähe. „2017 war die Stimmung wirklich am Boden. Niemand wollte mehr etwas von der CDU, auch wegen der Flüchtlingspolitik“, sagt Michael Kretschmer. Er sitzt am Besprechungstisch in seinem Büro in der sächsischen Staatskanzlei. Durch die hohen Fenster flutet das Licht herein. Er habe damals neues Vertrauen schaffen wollen. Habe verstehen wollen, was die Leute umtreibt.

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Kretschmer erfindet das „Sachsengespräch“, bei dem er mit seinen Ministern vor Ort im Land ist. Er stellt sich der Wut, dem Protest.

2019 stehen Landtagswahlen in Sachsen an. Es geht damals nicht nur darum, einen Wahlsieg der AfD zu verhindern. Für Kretschmer geht es auch um sein eigenes politisches Überleben. Er setzt auf maximale Bürgernähe. Gespräche vor dem Bäcker, Grillabende mit Bürgern, Veranstaltungen. „Es hat in der Bundesrepublik selten einen Politiker gegeben, der derart viel Kraft in den Versuch gesteckt hat, jeden Bürger einzeln zu erreichen“, schreibt damals „Die Zeit“. Ein neues Rezept gegen den Populismus?

„Wir wurden mit Hass überschwemmt“

Doch in der Coronazeit kommt Kretschmers Methode an ihre Grenzen. Die Stimmung im Freistaat droht zu kippen. Es gelten strenge Regeln, die Inzidenzen schießen trotzdem in die Höhe, die Impfbereitschaft ist niedrig. Coronaleugner treten aggressiv auf, die rechtsextremen „Freien Sachsen“ mobilisieren zu Protesten. Kretschmer trifft Krankenschwestern, die vor Erschöpfung weinen, während draußen die Maßnahmengegner demonstrieren.

Kretschmer versucht weiterhin, zu reden. Er geht in den Großen Garten in Dresden, spricht mit den Corona-Demonstranten dort. Er spricht sogar mit jenen, die 2021 vor sein Haus in der Lausitz ziehen. Etwa 30 Menschen kommen an seinen Gartenzaun, um ihre Wut bei ihm abzuladen, darunter Rechtsextremisten und Coronaleugner.

Ein Video zeigt Kretschmer mit Maske, der gerade Schnee geschippt hat. Die rote Schaufel lehnt hinter ihm an der Wand. „Die Intensivstation ist schon überausgelastet“, sagt er.

Es ist eine Zeit, die auch Kretschmer persönlich zu schaffen macht. „Wir wurden mit Hass überschwemmt“, sagt einer aus seinem näheren Umfeld.

Wir haben besondere Sichtweisen. Weil wir uns durchgekämpft haben. Weil wir eine gewisse Prägung haben. Weil wir besonders nah an Polen und an Russland dran sind.

Die Wut aus der Coronazeit ist auch heute nicht verschwunden. Noch immer trifft Kretschmer Menschen, die ihm die Schuld für die Härten geben, die sie in der Coronazeit erlebt haben. Rechtsextreme enthüllten vor einigen Wochen im in einem einstigen Corona-Hotspot in der sächsischen Schweiz eine Art Denkmal, das an die „Opfer des Corona-Impfexperiments“ und der „Zwangsmaßnahmen des Kretschmer-Regimes“ erinnern soll.

Kretschmer macht sich keine Illusionen. „Wenn ich mit Demonstranten oder wütenden Menschen auf Diskussionsveranstaltungen rede, überzeuge ich die nicht unbedingt“, sagt er in seinem Büro. „Aber Leute merken: Das ist ein Mensch, der hört mir zu, ich muss nicht schreien. Vielleicht wird so dieser individuelle Radikalisierungsprozess aufgehalten.“

Dem Osten Aufmerksamkeit verschaffen

An einem Freitagabend im Juni sitzt Kretschmer in Dresden in einem Gewölbekeller auf einer Bühne mit dem Autor Dirk Oschmann. Der Leipziger Professor hat ein polemisches Buch darüber geschrieben, dass der Westen die Ostdeutschen zu Fremden im eigenen Land mache. Er liest eine Passage, in der er aufzählt, was im Westen über den Osten gedacht wird: „Alle waren bei der Stasi. Alle waren gedopt. Alle sprechen Sächsisch. Alle sind Nazis.“

Im Publikum sitzen Leute, bei denen Oschmanns Buch einen Nerv getroffen hat. Eine erfolgreiche Unternehmerin, die das Gefühl hatte, sich als ostdeutsche Frau immer erklären zu müssen. Der Mann, der nach der Wende erstmal einen Sprachkurs gemacht hat, um seinen Dialekt loszuwerden. Eine Eheberaterin, die sagt, Oschmanns Buch spreche ihr „aus dem Herzen“.

Kretschmer dagegen, das merkt man, kann mit Oschmanns Polemik weniger anfangen. Doch er gibt ihm in einem Punkt recht: Der Osten, das glaubt auch Kretschmer, werde als Abweichung von der Norm gesehen. „Wenn wir unsere Haltung haben zur Frage, wie wir mit dem furchtbaren Krieg in der Ukraine umgehen, dann findet das nicht als gleichberechtigter Debattenbeitrag statt.“

Demonstration in Sachsen

Viele Sachsen kritisieren die Russland-Politik der Bundesregierung. Die AfD profitiert davon.

(Foto: IMAGO/HärtelPRESS)

Er sagt: „Wir haben besondere Sichtweisen. Weil wir uns durchgekämpft haben. Weil wir eine gewisse Prägung haben. Weil wir besonders nah an Polen und an Russland dran sind.“ Man könne beklagen, dass der Osten in der Debatte nicht gleichberechtigt vorkomme. „Oder wir schaffen uns diese Aufmerksamkeit.“

Kretschmer verschafft dem Osten diese Aufmerksamkeit – oder besser gesagt den Positionen, von denen er sich sicher ist, dass sie hier mehrheitsfähig sind. Dafür erntet er zum Teil scharfe Kritik. In der Asyldebatte warf ihm eine Linke vor, seine Worte seien „rhetorische Brandbeschleuniger“.

Kretschmer sieht das anders. Beim Gespräch in seinem Büro sagt er, die Bürger reagierten empfindlich, wenn am „gesunden Menschenverstand“ vorbeigearbeitet werde. „Die Menschen sehen die Waffenlieferungen an die Ukraine und sagen: Damit wird doch kein Krieg beendet. Sie fragen sich: Wo ist denn die deutsche oder europäische Friedensinitiative?“ Oder beim Klimaschutz: Die allermeisten seien dafür, CO2 einzusparen – aber doch bitte „mit Maß und Mitte“. Die Menschen wollten Flüchtlingen helfen, aber sie wüssten auch, Deutschlands Kapazitäten sind begrenzt.

Kretschmer sieht „Ohnmachtserfahrungen“ in Sachsen

Kretschmer glaubt, die Politik sollte bei all diesen Themen sagen: „Wir haben verstanden. Wir hören eure Argumente und beziehen sie in unsere Politik mit ein. Aber das Gegenteil findet statt.“

Im Gespräch wird Kretschmer auch zum Soziologen seines eigenen Bundeslandes. Die eigentliche Ohnmachtserfahrung im Osten, sagt er, sei nicht der Zusammenbruch der DDR gewesen, sondern Hartz IV. Es habe nach der Wende Massenarbeitslosigkeit gegeben, aber man habe den Leuten vermittelt, dass sie für ihre Arbeitslosigkeit nichts könnten. „Sie wussten: Ich bekomme Arbeitslosengeld, damit komme ich klar. Und dann wurde dieser Konsens aufgekündigt. Diese Ohnmachtserfahrung verlangte danach nach einer Selbstermächtigung.“

Heute, sagt Kretschmer, gebe es wieder ein Ohnmachtsgefühl. In seinen Gesprächen erlebe er, dass viele glaubten, die Bundesregierung würde die CO₂-Einsparung über alles stellen – auch über soziale Fragen und die Ökonomie. Sie hätten den Verdacht, dass die Grünen für den Klimaschutz die Wirtschaft schrumpfen wollten. „Aus der Ohnmacht, die die Menschen spüren, wird Wut werden.“

Manchmal verschwimmt im Gespräch die Grenze: Wo gibt er die Meinung der Bürger wieder – und was ist seine eigene Überzeugung? Wie stark lässt er sich von dem leiten, was er in seinen Gesprächen hört?

Nicht alle kann er von der AfD zurückgewinnen

Einer, der einen ambivalenten Blick auf Michael Kretschmer hat, ist Dirk Neubauer. Er war lange Bürgermeister der sächsischen Stadt Augustusburg, mehrere Jahre in der SPD, jetzt ist er Landrat in Mittelsachsen und parteilos. Wenn es darum geht, wie man die AfD kleinhält, wird er oft gefragt.

Neubauer sagt, er zolle Kretschmer größten Respekt dafür, wie er in Bürgerdialoge gehe und sich dort allen möglichen Fragen stelle. „Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Die letzte Landtagswahl in Sachsen ist nur seinetwegen nicht gegen die Wand gefahren.“ Aber er vermisse bei ihm eine klare Linie. Er würde sich wünschen, dass sich Kretschmer nicht dem Druck der Straße beuge, um vom rechten Rand Wähler abzuwerben.

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Aus Kretschmers Umfeld heißt es dagegen: Migration, Krieg in der Ukraine – das seien Kretschmers Überzeugungen. Aber gerade beim Thema Flüchtlinge habe er die Nöte der Bürgermeister und Landräte natürlich im Hinterkopf.

Kretschmer weiß auch, dass er viele Menschen nicht mehr von der AfD zurückgewinnen wird. Es geht jetzt vor allem darum, zu verhindern, dass noch mehr von der CDU abwandern – und jene zu motivieren, die vielleicht sonst gar nicht zur Wahl gehen würden.

In der Stadthalle von Limbach-Oberfrohna sitzen in der vorletzten Reihe zwei Damen, die zusammen hergekommen sind. Die eine arbeitet in der Baubranche in einer Firma, die auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist. „Es wäre der Gau, wenn die AfD stärkste Kraft wird“, sagt sie. Die Jüngere erzählt von ihrem Sohn, der in einer westdeutschen Großstadt lebe. „Dort denkt man, man ist im Ausland.“

Michael Kretschmer finden beide gut. Der rede „sehr klar“, sagt die Jüngere. Er zeige auch Emotionen, das mag sie. Nur: Leider höre in Berlin niemand auf ihn.

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Dieser Text ist zuerst im Tagesspiegel erschienen.

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