Geht das Jobwunder zu Ende?

Berlin Corona-Lockdown, Lieferkettenprobleme, Ukrainekrieg und hohe Inflation – bislang konnte die Abfolge von Krisen dem deutschen Arbeitsmarkt wenig anhaben. Die Beschäftigung ist auf einem Rekordstand, die Arbeitslosenquote hat sich von dem Pandemie-Ausreißer nach oben erholt.

In saisonbereinigter Rechnung nahmen sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die Unterbeschäftigung zwar etwas ab. Ohne die Berücksichtigung ukrainischer Staatsangehöriger hätten sich allerdings Anstiege gezeigt. Schon im Juni war die Arbeitslosigkeit entgegen dem saisonal üblichen Muster gestiegen.

„Die schwache Konjunktur hinterlässt auf dem Arbeitsmarkt weiter Spuren“, sagte die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Andrea Nahles, bei der Präsentation der aktuellen Arbeitsmarktdaten. „Zu einem starken Einbruch ist es allerdings bisher zum Glück nicht gekommen.“ Angesichts der Tatsache, dass die deutsche Wirtschaft seit drei Quartalen nicht mehr wachse, halte sich der Arbeitsmarkt im Vergleich zu anderen Indikatoren aber immer noch gut.

So nehme auch die Beschäftigung weiter zu, aber „das Wachstum verliert spürbar an Schwung“, sagte Nahles. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ist im Mai gegenüber dem Vorjahr um 253.000 auf 34,7 Millionen gestiegen. Die Erwerbstätigkeit insgesamt, für die Zahlen bis Juni vorliegen, hat sich gegenüber dem Vormonat saisonbereinigt nicht verändert.

Auch Ökonomen sehen in den Daten Anzeichen für eine Abschwächung der bisherigen Beschäftigungsdynamik, warnen aber vor einer Dramatisierung der Lage. „Eine grundlegende Trendwende am Arbeitsmarkt würde ich noch nicht ausrufen“, sagt Klaus Wohlrabe vom Münchener Ifo-Institut. Bei den Unternehmen nehme die Vorsicht bei Neueinstellungen jedoch zu.

„Es wird abgewartet, wie lange sich die Schwächephase der deutschen Wirtschaft hinzieht“, erklärt Wohlrabe. Der Beschäftigungsaufbau dürfte sich somit verlangsamen.

Dominik Groll vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), sagte: „Wir stehen weniger konjunkturell, sondern vor allem demografisch vor einem Wendepunkt auf dem Arbeitsmarkt. Die Beschäftigung in Deutschland erreicht langsam ihren Zenit.“ Verschiedene Indikatoren deuten auf ein vorläufiges Ende des Booms auf dem Arbeitsmarkt hin.

Beschäftigungsdynamik lässt nach

Bis zum Corona-Schock kannte die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland lange nur eine Richtung – nach oben. Inzwischen ist zwar die pandemiebedingte Delle überwunden, und die Beschäftigung übertrifft das Vorkrisenniveau.

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Doch steigt sie inzwischen längst nicht mehr so rapide wie in der Vergangenheit. So hat sich im ersten Quartal der Zuwachs an neuen sozialversicherungspflichtigen Jobs gegenüber dem Vorjahreszeitraum halbiert. Die BA beobachtet schon seit mehr als einem Jahr einen fast kontinuierlichen Rückgang der Arbeitskräftenachfrage.

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Auch die Zahl der offenen Stellen hat sich mittlerweile deutlich von ihrem Höchststand entfernt. Sie lag laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im ersten Quartal dieses Jahres bei gut 1,7 Millionen – nach fast zwei Millionen im Schlussquartal 2022.

Andrea Nahles

„Mit Beginn der Sommerpause sind Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im Juli gestiegen“, sagte Bundesagentur-Chefin Andrea Nahles.

(Foto: dpa)

Arbeitsmarktexperten gehen davon aus, dass die Beschäftigung weiter wächst – wenn auch langsamer als in der Vergangenheit. Ein Grund dafür ist schon allein die von IfW-Forscher Groll angesprochene demografische Bremse.

Der Renteneintritt der geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge lässt sich nur schwer durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren oder durch Zuwanderung kompensieren, sodass auf längere Sicht die Zahl der Erwerbstätigen sinken dürfte.

Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich

Trotz der insgesamt nachlassenden Beschäftigungsdynamik klagen viele Branchen weiter über Fachkräftemangel. Dieser kann zur Wachstumsbremse werden, wenn Unternehmen wegen Personalmangels Aufträge nicht annehmen können, sagt Ifo-Ökonom Wohlrabe.

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Viele Unternehmen versuchen deshalb, Mitarbeiter zu halten. Beschäftigte zu entlassen und später neu einzustellen sei gegenwärtig keine gute Strategie, weil es immer schwieriger werde, gutes und passendes Personal zu bekommen. „Ich erwarte deshalb nicht, dass die Arbeitslosigkeit infolge der Schwäche der Wirtschaft signifikant steigen wird“, betont Wohlrabe.

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Auch BA-Chefin Nahles erklärte, dass viele Unternehmen augenblicklich noch versuchten, angesichts der absehbaren demografischen Entwicklung ihre Beschäftigten zu halten, Konjunktur und Arbeitsmarkt hätten sich ein Stück weit entkoppelt. Wenn aber die Schwächephase anhalte, könne sich das ändern.

Wie sich die Arbeitslosenzahl bis zum Ende des Jahres entwickeln wird, wollte die BA-Chefin nicht prognostizieren: „Ich bin nicht das Orakel von Delphi“, sagte sie.

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Das Ifo-Institut geht in seiner Konjunkturprognose vom Juni davon aus, dass die Zahl der Arbeitslosen in diesem Jahr leicht von 2,42 Millionen auf 2,55 Millionen steigen wird und 2024 wieder sinkt. Allerdings: Wer schon länger arbeitslos und aus gesundheitlichen Gründen oder wegen fehlender Qualifikationen schwer vermittelbar ist, hat es zunehmend schwer, Arbeit zu finden.

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„Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist auch bei hohem Arbeitskräftebedarf kein Selbstläufer“, betont IAB-Forscher Enzo Weber. Die Jobchancen von Arbeitslosen lägen aktuell deutlich unter dem Vor-Corona-Niveau. Und die Zahl der Menschen, die schon mindestens ein Jahr arbeitslos sind, steigt. Umso mehr komme es jetzt auf eine individuelle Betreuung und passgenaue Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen an, sagt Weber.

Zahl der offenen Stellen in der Zeitarbeit geht zurück

Bevorstehende Umschwünge am Arbeitsmarkt lassen sich gut an der Entwicklung der Zeitarbeit ablesen. Geht es den Unternehmen schlecht, trennen sie sich in der Regel zunächst von ihrem Fremdpersonal und schonen die Stammbelegschaften. Umgekehrt versuchen Firmen oft, mit einem konjunkturellen Aufschwung einhergehende Auftragsspitzen zunächst mit Leiharbeitnehmern aufzufangen.

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Sowohl der Bestand als auch der Neuzugang an offenen Stellen in der Arbeitnehmerüberlassung sind zuletzt deutlich gesunken, und die Zahl der Leiharbeitnehmer hat mit knapp 812.000 Ende vergangenen Jahres das Vor-Corona-Niveau noch nicht wieder erreicht.

Die konjunkturelle Abkühlung lässt sich aus den Daten bereits ablesen. Laut Statistik der BA arbeiteten im Mai bei Personaldienstleistern gut 34.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte weniger als noch vor einem Jahr.

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