Extremsportler Jonas Deichmann über Risiken, Grenzen und den nächsten verrückten Trip

Düsseldorf Jonas Deichmann ist Extremsportler und hat als erster Mensch die Welt im Triathlon umrundet. Von September 2020 bis November 2021, mitten in der Coronapandemie, schwamm Deichmann 460 Kilometer durch die Adria, radelte 21.500 Kilometer bis nach Wladiwostok und lief über 5000 Kilometer durch Mexiko, wo er als „deutscher Forrest Gump“ berühmt wurde. Über sein Abenteuer hat er ein Buch geschrieben. Es heißt „Das Limit bin nur ich“ – genauso wie die Dokumentation, die bei Netflix läuft.

An diesem Mittwoch startet der 36-Jährige sein nächstes Projekt. Los geht es auf der Brooklyn Bridge in Manhattan: knapp 5500 Kilometer mit dem Fahrrad nach Los Angeles. Von dort aus läuft er dann gut 5000 Kilometer zurück bis nach New York, wo er Anfang November wieder ankommen will. Wie bei seinem Triathlon wird er jeden Tag und ohne Begleitmannschaft unterwegs sein. Seine Ausrüstung transportiert er auf dem Rad und in einem Anhänger, den er beim Laufen hinter sich herzieht.

Wenn Deichmann nicht durch die Welt läuft, radelt oder schwimmt, ist er viel bei Unternehmen und hält Impulsvorträge. Dabei gehe es vor allem darum, die Vorstellungskraft der Leute zu sprengen, sagt er im Interview, „damit sie dieses Gefühl mit an den Schreibtisch nehmen“.

Lesen Sie hier das komplette Interview mit Jonas Deichmann:

Herr Deichmann, wie viele Menschen halten Sie für verrückt? Bei Ihrem Triathlon um die Welt haben Sie sich nicht nur Strömungen in der Adria, Schneestürmen in Sibirien und Drogenkartellen in Mexiko ausgesetzt, sondern auch Raubbau an Ihrem Körper betrieben. Jetzt radeln und laufen Sie zwei Mal quer durch die USA.    
Wahrscheinlich ein paar Millionen Menschen – und ein bisschen verrückt bin ich ja auch, das muss ich sein. Es gibt aber eine feine Linie zwischen verrückt im Sinne von etwas machen, das eigentlich nicht möglich ist, oder sich an der Grenze zum Machbaren zu bewegen. Ich bin Abenteurer, aber kein Hochrisikosportler. Es gibt Bergsteiger, die sind viel verrückter.

Die fünf Passagiere des Tauchboots „Titan“ haben ihr Abenteuer, ein Tauchgang in 3800 Meter Tiefe zum Wrack der „Titanic“, mit dem Leben bezahlt. Wie verrückt war das?
Ich selbst achte immer darauf, dass ich bei meinen Abenteuern die Risiken selbst einschätzen und kontrollieren kann, soweit das möglich ist. Jegliche Kontrolle in fremde Hände oder Technik zu legen ist für mich unvorstellbar. Ich denke nicht, dass „verrückt“ für so etwas die richtige Bezeichnung ist.

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Trotzdem sind auch Ihre Projekte extrem. Alle müssten unter dem Disclaimer „Nicht nachmachen“ laufen. Warum machen Sie es trotzdem?
Weil ich mich lebendig dabei fühle. Ich mache Projekte, die so noch keiner gemacht hat, und immer ohne Begleitmannschaft. Mir geht es darum, allein raus in die weite Welt zu gehen, in abgelegene Gegenden, in exotische Länder – und mir zu beweisen, dass ich durchhalten kann. Und zum Thema „Nicht nachmachen“: Ich halte oft Vorträge bei Unternehmen, aber danach wollen die wenigsten einen Triathlon um die Welt machen. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, rauszugehen aus der eigenen Komfortzone. Und das kann jeder.

Sie haben mal gesagt, dass Sie Ihre Projekte im Vorfeld eigentlich immer unterschätzen – und dass das auch gut ist. Warum?
Weil ich sie sonst wahrscheinlich nicht machen würde.

Aber kann das nicht auch gefährlich werden als Extremsportler?
Mit „unterschätzen“ meine ich nicht, dass ich naiv bin. Das wäre in der Sahara oder im sibirischen Winter lebensgefährlich. Ich meine, dass ich mir die Dinge ein bisschen schönrede. Distanzen sind ein gutes Beispiel, weil sie erst mal einschüchtern.

Jonas Deichmann lief 5000 Kilometer durch Mexiko

„Ich breche das Ganze runter, laufe keinen Marathon am Tag, sondern einen Kilometer – und das 42 Mal.“

(Foto: Markus Weinberg)

Vor allem, wenn man sich wie Sie vornimmt, 120 Marathons am Stück zu laufen.
Ja, da denkt man erst mal, geht nicht. Aber ich breche das Ganze runter, laufe keinen Marathon am Tag, sondern einen Kilometer – und das 42 Mal. Dann habe ich einen Marathon geschafft und kann auch 120 laufen. Das gibt mir Motivation und Kraft. Und ich glaube immer daran: Morgen wird ein guter Tag. Meine Grundhaltung ist positiv.

Wenn Sie nicht in der Welt unterwegs sind, halten Sie regelmäßig Impulsvorträge. Sie waren schon bei der Telekom, SAP, Mercedes, Deutsche Bank, BCG, IBM und Co. Glauben Sie, dass diese positive Grundhaltung in vielen Unternehmen fehlt?
Auf jeden Fall. Ich habe nach meinem Studium bei einer schwedischen Softwarefirma in München im Vertrieb gearbeitet. Da ging es genau darum: Ich muss in jedes Meeting mit der Grundhaltung gehen, dass der Kunde kaufen will. Natürlich klappt es nicht jedes Mal, aber mit der Ausstrahlung erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es klappt.

Es gibt viele begeisterte Posts auf LinkedIn nach Ihren Vorträgen. Woher kommt die Faszination der Menschen für Extremsportler? Und warum werden Sie vor allem von Firmen gebucht?
Die Faszination kommt daher, dass es was komplett anderes ist. Ich bin oft bei Konferenzen. Da gibt es viele Fachvorträge und einen externen Impuls – und der soll bewusst die Vorstellungskraft der Leute sprengen, damit sie dieses Gefühl mit an den Schreibtisch nehmen.

Das Schwierigste bei jedem Projekt für Sie ist, an die Startlinie zu kommen. Das gilt, würde ich sagen, für viele Menschen, auch im Job. Warum ist das so?
Weil es leicht ist, nichts zu verändern. Gerade hier in Deutschland: Man studiert, nimmt einen Job an, geht in ein Unternehmen und führt ein bequemes Leben ohne Risiko.

Ist das denn so schlimm?
Ja, weil dann das Leben an einem vorbeigeht, und man hat nichts gewagt, nichts Besonderes gemacht. Ich stelle mir immer die Frage: Was ist das Schlimmste, das passieren kann? Und die Antwort lautet: nichts zu verändern.

Jonas Deichmann schwamm 460 Kilometer durch die Adria

„Ich habe während meines Triathlons um die Welt keinen einzigen Moment ans Aufgeben gedacht. Auch wenn viel schiefgegangen ist.“

Sie sind selbst Unternehmer. Glauben Sie, dass wir deswegen in Deutschland auch weniger gründen als in anderen Ländern?
Definitiv, das hat auch mit unserer Kultur zu tun. In anderen Ländern ist es okay, wenn man als Unternehmer scheitert. Dann steht man wieder auf und probiert es noch mal – und irgendwann klappt es. In Deutschland dagegen gehen wir den sicheren Weg und kümmern uns von Tag eins um unsere Altersvorsorge. Das ist absolut legitim, aber es lähmt.

Was ist Scheitern für Sie?
Wenn ich die Möglichkeit hatte, es aber nicht probiert habe.

Die Frage, die bei Ihren Vorträgen am meisten kommt, ist doch bestimmt die, ob Sie jemals ans Aufgeben gedacht haben. Und dann sagen Sie: „Nein, niemals.“ Ist das die Wahrheit?
Das ist genau die Frage und genau die Antwort.

Und auch die wahre Antwort?
Auch die wahre. Ich habe während meines Triathlons um die Welt keinen einzigen Moment ans Aufgeben gedacht. Auch wenn viel schiefgegangen ist. Auf jeden Tiefpunkt kommt ein Hochpunkt. Der eine nächste Schritt geht immer. Und dann noch einer. Mir kann es noch so schlecht gehen, ich kann Schmerzen haben – aber es gibt immer die Chance, dass der Flow kommt. Oder zumindest die Chance, dass es die nächsten Kilometer besser wird.

Jonas Deichmann in Russland bei eisigen Temperaturen

„Ich hätte in Sibirien bei Minusgraden in meinem Zelt liegen bleiben können, aber das bringt mich dem Ziel ja keinen Schritt näher.“

(Foto: Andrej Bavchenkov)

Was machen Sie, wenn es richtig hart wird?
Dann gibt es eine klare Regel: Do shit first. Ich hätte in Sibirien bei Minusgraden in meinem Zelt liegen bleiben können, aber das bringt mich dem Ziel ja keinen Schritt näher. Dann heißt es, den inneren Schweinehund überwinden, in die gefrorenen Schuhe rein und weiter.

Erinnern Sie sich an eine Frage bei einem Ihrer Vorträge, die Sie überrascht hat?
Ich war mal bei einer Sportärztekonferenz. Da ging es darum, wie ich das körperlich mache. Ich gönne mir keine Ruhetage, weil sie kontraproduktiv für mich sind. Es gibt also keinen Tag, an dem mein Wecker nicht klingelt, ich aufstehe und mich aufs Fahrrad setze oder loslaufe. Das widerspricht natürlich der Sportwissenschaft. Da gab es hitzige Diskussionen.

Sie brechen an diesem Mittwoch auf zu Ihrem nächsten Projekt: Sie starten an der Brooklyn Bridge in Manhattan, fahren mit dem Fahrrad nach Los Angeles und laufen dann wieder zurück nach New York. Warum ausgerechnet diese Strecke?
Beim Triathlon um die Welt wollte ich ursprünglich die USA von West nach Ost durchlaufen. Wegen Corona war das nicht möglich und ich bin auf Mexiko ausgewichen. Der Traum, die USA zu durchlaufen, ist noch offen, und da das schon andere vor mir gemacht haben, reise ich eben von Ost nach West mit dem Fahrrad an.

Was wird Ihnen bei diesem Trip alles abverlangt?
Ich werde nicht auf der kürzesten, sondern auf der interessantesten Route unterwegs sein. Die Laufstrecke ist 5500 Kilometer lang und ich werde jeden Tag 50 bis 60 Kilometer laufen und dabei mein Gepäck hinter mir herziehen. Das ist die sportliche Herausforderung. Was dann entlang der Strecke passieren wird, ist der abenteuerliche Teil. Wir werden sehen.

Jonas Deichmann in Istanbul

„Am zweiten Tag wurde Tirol zum Risikogebiet erklärt und ich musste meine Route ändern.“

(Foto: Daniel Rintz)

Sie sind im September 2020 mitten in der Pandemie zu Ihrem Welt-Triathlon aufgebrochen und mussten immer wieder improvisieren. Was sind Ihre Tipps?
Am zweiten Tag wurde Tirol zum Risikogebiet erklärt und ich musste meine Route ändern – und das hat sich eigentlich durch das komplette Projekt durchgezogen. Die größten Herausforderungen waren nicht die Strömungen oder Schneestürme, sondern die Bürokratie, zum Beispiel an den geschlossenen Grenzen, weil das außerhalb meiner Kontrolle lag.

Das Wichtigste ist: akzeptieren, dass es jetzt so ist, und nicht jammern, denn das kostet nur Kraft. Und dann auf das konzentrieren, was man selbst beeinflussen kann.

Aber manchmal hilft Jammern doch auch.
Ja, man kann mal kurz den Frust rauslassen. Dann ist aber auch gut! Ein wichtiger Punkt ist auch mein Team. Ich bin zwar allein unterwegs, habe aber ein Backoffice. Da hat, auch wenn nichts mehr ging, niemand gesagt: „Jonas, komm zurück.“ Und am Ende gilt es, Plan A schnell und konsequent loszulassen, wenn man sich für Plan B entschieden hat.

Alles haben Sie dann aber doch nicht gemacht, um an ein Visum zu kommen. Sie wollten zum Beispiel keine Grenzbeamten bestechen.
Und dabei war ich in vielen Ländern unterwegs, wo das ganz normal ist – und mir auch geraten wurde. Aber ich muss hinter dem stehen, was ich tue. Und das ging für mich zu weit.

Immer wieder begleiteten Mitläufer Jonas Deichmann in Mexiko

„Da nehme ich keinerlei Rücksicht und sage eiskalt: ‘Schließ Dich meinem Tempo an oder lauf allein.’“

(Foto: dpa)

Sie beschreiben in Ihrem Buch an mehreren Stellen, wie wichtig es ist, dass Sie beim Laufen und Radfahren Ihren eigenen Rhythmus finden. Warum?
Ich habe gerade in Mexiko Abertausende Mitläufer gehabt, die mich nur ein paar Kilometer begleitet haben und oft schneller laufen wollten als mein Marathon-Tempo. Da nehme ich keinerlei Rücksicht und sage eiskalt: „Schließ Dich meinem Tempo an oder lauf allein.“

„Man braucht eine große Vision“

Als Sie nach Ihrem Triathlon um die Welt im November 2021 in München am Odeonsplatz angekommen sind, haben Sie Ihr Rad gepackt und es in die Höhe gerissen. Diese Vorstellung, haben Sie mal gesagt, hat Sie über die Monate immer wieder beflügelt.
Das ist der entscheidende Punkt: Man braucht eine große Vision. Ich bin in meinem Kopf schon Hunderte Male vorher in München angekommen. Im Tagesgeschäft dagegen setze ich mir ganz kleine Ziele. Da schaue ich zum Beispiel, wo die nächste Tankstelle ist, an der es Schokoriegel gibt – und dann geht es danach weiter zum nächsten Schokoriegel.

Warum essen Sie eigentlich so viele Schokoriegel?
Weil sie lecker sind, viele Kalorien haben und überall zu bekommen sind. Das Thema Ernährung ist in der Theorie einfach, da gibt es jede Menge Pasta und Proteinriegel. In der Praxis esse ich, was ich kriegen kann, und davon so viel wie möglich.

Jonas Deichmann mit einer Flasche Mezcal

„Ich habe nicht ‘nein’ gesagt, wenn ich in Mexiko abends auf einen Tequila eingeladen wurde.“

(Foto: Revir)

Ich habe auch immer gedacht, dass für Extremsportler wie Sie Alkohol tabu ist. Sie haben aber, gerade in Mexiko, den ein oder anderen Schnaps getrunken.
Ich bin ja auch kein klassischer Leistungssportler. Ob ich ein bisschen schneller bin oder nicht, das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich jeden Tag meine Leistung bringe, dafür brauche ich viel Disziplin und knallharte Routinen. Und deswegen habe ich auch nicht „Nein“ gesagt, wenn ich in Mexiko abends auf einen Tequila eingeladen wurde. Das kostet mich vielleicht fünf Prozent an Leistungsfähigkeit, lässt mich aber lächeln am nächsten Tag.

Was haben Sie bei Ihrem Triathlon um die Welt über sich gelernt?
Ich komme vom Radfahren, das habe ich mein Leben lang professionell gemacht. Aber ich bin quasi mit dem Seepferdchen 460 Kilometer durch die Adria geschwommen. Ich bin auch kein herausragender Läufer und 120 Marathons am Stück gelaufen. Will sagen: Am Ende ist es Kopfsache und eine Frage der Einstellung. Das gilt im Übrigen im Business-Kontext genauso. Ich werde sicher kein Profischwimmer mehr, der einen neuen Rekord aufstellt, aber ich habe durchgehalten, Grenzen verschoben und bin ins Ziel gekommen.

Herr Deichmann, vielen Dank für das Interview.

Das Gespräch wurde im November 2022 im Rahmen des Podcasts Handelsblatt Rethink Work geführt und nun aktualisiert.

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