Die israelische Tech-Branche fürchtet ihren Untergang

Tel Aviv Eine Woche ist es her, dass das israelische Parlament ein Kernelement der umstrittenen Justizreform verabschiedete – und die Proteste halten an. Am Samstag gingen erneut Zehntausende Israelis in Tel Aviv auf die Straße. „Wir lassen uns nicht den Untergang unserer Heimat diktieren“, ruft einer der Demonstranten. „Der Staat hat sich gegen uns gestellt“, protestiert eine junge Frau.

Unter den Demonstranten sind zahlreiche Ingenieure, Wissenschaftler, Gründer und Investoren, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen. Denn die Reform der rechtsreligiösen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gefährdet nicht nur den Zusammenhalt innerhalb der israelischen Gesellschaft, sondern auch einen der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes: die Tech-Branche.

„Wir wollen unser Heimatland nicht aufgeben, aber unser Heimatland hat uns aufgegeben“, sagt etwa Start-up-Berater Amir Mizroch. Die Gesellschaft sowie die Politik würden immer konservativer und damit technologiefeindlicher. Es gelte auf einmal „Thora vor Technologie“. Die Bedingungen für Unternehmen in der Branche könnten in Zukunft schwieriger werden, fürchtet er.

Mit der Entscheidung des israelischen Parlaments vom Montag hat das Oberste Gericht fortan nicht mehr die Möglichkeit, Regierungsentscheidungen als „unangemessen“ einzustufen. Netanjahu nennt das Vorgehen eine „kleine Korrektur, die für Demokratien ganz normal ist“.

Es ist aber mehr als das. Bei zweifelhaften Stellenbesetzungen, auch von Ministern, oder willkürlichen Entscheidungen gibt es keine Instanz mehr, die das aufhalten kann. Dass seine Gegner in der Reform das mögliche Ende der Demokratie in Israel sehen, bezeichnete Netanjahu in einem Fernsehinterview als „dumm“. Doch selbst sein Verteidigungsminister hatte versucht, das Gesetz abzuschwächen. Vergebens.

Demonstration gegen die Justizreform

Das bereits verabschiedete Kernelement der Reform schränkt die Befugnisse des Obersten Gerichts deutlich ein.

(Foto: dpa)

Dass die Befürchtungen der Tech-Unternehmen berechtigt sind, zeigt sich schon jetzt. Die US-Investmentbank Morgan Stanley stufte am Dienstag die Kreditwürdigkeit Israels vor dem Hintergrund der Justizreform herab.

Die Finanzagentur Moody’s warnte vor einem „erheblichen Risiko“ durch die politischen Pläne. „Es besteht ein erhebliches Risiko, dass die politischen und sozialen Spannungen in dieser Angelegenheit anhalten und negative Folgen für Israels Wirtschaft und Sicherheitslage haben“, warnte die Agentur in einer Erklärung.

Tech-Industrie hat enorme Bedeutung für die israelische Wirtschaft

Die Technologiebranche ist für das kleine Land ökonomisch enorm wichtig. Zu dem Sektor gehört etwa das renommierte Weizmann Institute of Science im Tel Aviver Vorort Rehovot, dazu kommen mit mehreren Milliarden Dollar bewertete israelische Firmen wie Etoro, die Fintechs Rapyd und Pagaya, das Versicherungs-Start-up Next Insurance oder die Cloud-Firma Wiz und der Website-Konfigurator wix.com.

Und wer durch Tel Avi fährt, sieht nicht nur die Hochhauskomplexe, in denen diese israelischen Firmen untergebracht sind, sondern auch die Logos zahlreicher internationaler Tech-Konzerne. Microsoft, Intel, IBM, Google, Meta, SAP: Sie alle haben Niederlassungen in Israel.

Microsoft-Büro in Israel

Zahlreiche Tech-Unternehmen aus dem Ausland sind in Israel aktiv.

(Foto: Reuters)

Laut einem Bericht der „Israel Innovation Authority“, einer Behörde des israelischen Ministeriums für Wirtschaft und Industrie, werden 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in diesem Sektor erwirtschaftet, 50 Prozent der Exporte und 30 Prozent der Einkommensteuern kommen aus der Branche. Zum Vergleich: Die für Deutschland wichtige Automobilindustrie macht nicht einmal fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.

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Dem Bericht nach arbeiten zudem elf Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in dem Land in der Hightech-Industrie. Start-up-Berater Mizroch bezeichnet die Mitarbeiter und Forscher in dem Sektor als liberal, gebildet und wissenschaftsorientiert. Er ist davonüberzeugt: „Hightech muss in liberaler Demokratie stattfinden, wir brauchen die Freiheit, Ideen in Geschäftsmodelle umzuwandeln.“ 85 Prozent des Wagniskapitals für israelische Start-ups komme aus demokratischen Ländern wie den USA und europäischen Staaten.

Die Geldgeber würden nicht nur investieren, weil es in Israel viele Talente gebe, meint Mizroch. Sondern auch, weil die Bedingungen lange ähnlich waren wie in den etablierten Start-up-Hotspots. „20 Jahre lang hat die Regierung den Tech-Sektor nicht belästigt, wohl wissend, wie wichtig er für das Land und die Volkswirtschaft ist.“

Einer, dem das lange geholfen hat, ist Omri Segev Moyal. Er hat jahrelang für den Nachrichtendienst des israelischen Militärs gearbeitet. Später gründete er erst Minerva Labs, einen Dienstleister für die Bekämpfung von Computerviren in Unternehmensnetzwerken, danach mit einem Geschäftspartner Profero, einen Cyberdienstleister für Unternehmen, die von Datenlecks oder Hackerangriffen betroffen sind.

Moyal habe nie direkte Subventionen des Staates benötigt. „Aber wir haben jahrelang vom Ökosystem für Start-ups im Land profitiert“, betont er. Die Tech-Szene in Tel Aviv sei weltweit bekannt. Dies habe nicht nur von Anfang an geholfen, Kunden zu finden, erklärt der Gründer. Vielmehr sei es sogar so gewesen, „dass die Kunden uns gefunden haben“.

Gründer fürchten wegen Justizreform um das Überleben ihres Geschäfts

Jetzt sind es wieder seine Kunden, die ihn anrufen. Allerdings mit ganz anderen Fragen. „Sie wollen wissen, ob wir unter den derzeitigen Umständen tatsächlich noch in Israel bleiben.“ Die Managerinnen und Vorstände, die Moyals Dienstleistungen nutzen, haben Angst, dass die israelische Regierung den Rechtsstaat weiter einschränken und die Bedingungen für Unternehmen vor Ort zunehmend verschlechtern könnte.

„Das betrifft nicht nur uns, sondern fast alle hier im Sektor“, warnt Moyal. Deshalb kämpften die Mehrheit der Gründerinnen und Gründer sowie ihre Geldgeber gegen die Reformen – nicht nur aus politischer Überzeugung, sondern weil es um das Überleben ihres Geschäfts geht. „Die ganze Start-up-Szene ist kurz davor, einzufrieren.“

Der Report der „Israel Innovation Authority“ vom Frühjahr zeigt bereits einen Trend. Investitionen in den Sektor gehen seit Ende vergangenen Jahres zurück; also genau seitdem die neue Regierung Netanjahus ins Amt gekommen ist.

Benjamin Netanjahu

Die Reformpläne des israelischen Ministerpräsidenten spalten das Land.

(Foto: dpa)

Das Fundraising in der Früh- als auch Spätphase von jungen Unternehmen ist demnach im Jahr 2022 verglichen mit dem Jahr 2021 nicht einmal mehr halb so erfolgreich gewesen. Im ersten Quartal dieses Jahres flossen 1,7 Milliarden US-Dollar in den Sektor, so niedrig war der Wert seit 2019 nicht mehr. 2015 wurden in Israel 1386 Start-ups gegründet. Im vergangenen Jahr waren es nur noch 630.

Der Kurs des Tel Aviv Technology Index, der 102 israelische Tech-Firmen zusammenfasst, hat sich seit Beginn dieses Jahres kaum nach oben bewegt. Der US-Technologieindex Nasdaq stieg im selben Zeitraum um 20 Prozent.

Für die israelische Volkswirtschaft ist ein weiterer Trend besonders alarmierend. Immer weniger israelische Neugründungen haben ihren Firmen- und Steuersitz in dem Land. Bis Anfang des Jahres, kurz vor Beginn der Verhandlungen um die umstrittene Justizreform, bestimmten noch acht von zehn israelischen Gründern ihr Heimatland als Firmensitz. Inzwischen wählen genauso viele das Ausland. Auch die Zahl der Mitarbeitenden in dem Sektor ist in Israel erstmals seit Jahren rückläufig.

Weniger Investitionen in israelische Start-ups

Im ersten Halbjahr 2023 floss verglichen mit dem Vorjahreszeitraum zudem 73 Prozent weniger Investorengeld in den israelischen Start-up-Sektor. Die Stimmung in der Branche ist entsprechend alles andere als euphorisch. In einem offenen Brief an Investoren erklärte Eynat Guez, Gründerin des Finanz-Start-ups Papaya Global, dass Israel „von einer Gruppe von Fanatikern entführt“ worden sei. Netanjahu sei bereit, „die israelische Demokratie zu opfern“, um sein eigenes politisches Überleben zu sichern.

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Start-up-Berater Mizroch warnt davor, die Kritik des israelischen Tech-Sektors als Protest einer kleinen liberalen Gruppe abzutun. Es gehe um das Überleben des Staates. Israel liegt in einer geopolitisch äußerst herausfordernden Region und investiert entsprechend viel in die Verteidigung. Der Staat selbst ist auf technologische Innovation angewiesen, beispielsweise um seine Geheimdienstarbeit fortzuführen. Dadurch wurde der Tech-Sektor in dem Land groß.

Diese jahrelange Symbiose zwischen Tech-Branche und Staat, die Mischung aus einem massiven Schub für die nationale Wirtschaft und der wichtigen Landesverteidigung, droht aufzubrechen und zu zerfallen.

Erste Anzeichen gibt es bereits. Die Cyber-Eliteeinheit des israelischen Militärs, die Unit 8200, rekrutiert ihre besten Leute regelmäßig aus der nationalen Tech-Szene. Viele arbeiten als Reservisten und werden im Krisenfall eingezogen. Jetzt drohen aber viele von ihnen, den Einzugsbefehl zu verweigern und das Land zu verlassen. Der Vorstand einer Cyberfirma ist einer davon. Er möchte seinen Namen nicht nennen. Er sei Reservist der Unit 8200. „Wenn ich einberufen werden sollte, werde ich Nein sagen.“

Reservisten bei Protesten gegen die Justizreform

Die Reservisten unterzeichnen eine Erklärung, sich bei einem Einzugsbefehl zu verweigern.

(Foto: AP)

Andere äußern ihren Unmut öffentlicher. Am Tag nach der Gesetzesänderung vergangene Woche blieben die Titelseiten vieler israelischer Zeitungen schwarz. Was wie ein Protest der Medienhäuser selbst aussieht, wurde allerdings von Gründerinnen und Gründern des israelischen Tech-Sektors initiiert. Eine Gruppe aus der Szene hatte sich unter dem Namen „Hi-Tech Protest Movement“ zusammengetan und Berichten zufolge Geld für diese Kampagne gesammelt. Und Merav Bahat, Vorstandsvorsitzende der Cybersecurityfirma Dazz, kündigte an, Mitarbeitende zu unterstützen, die statt ins Büro auf die Straße gehen.

Branchenkenner Mizroch blickt wenig optimistisch in die Zukunft. Ein Brain-Drain finde längst statt, konstatiert er. „Kolleginnen und Kollegen schauen sich während der Arbeitszeit nach anderen Jobs um und sind weniger motiviert, zu arbeiten und neue Ideen zu entwickeln.“ Für eine Branche, deren Geschäftsmodell aus ständig neuen Ideen besteht, ist das fatal. Auch Mizroch selbst spürt die Resignation. „Ich habe komplett den Glauben an das verloren, wofür ich jahrelang weltweit geworben habe.“

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