Rezension zu „Red Rooms“: Ein beunruhigend brillanter Psychohorror – Internationales Filmfestival Karlovy Vary


Das Unsichtbare und Obszöne ist das Thema von Pascal Plantes verstörend brillantem Psycho-Horror Rote Räume, das ein überstrapaziertes Genre – den Serienmörderfilm – und eine oft missbrauchte Technik – den düsteren Lynch-Surrealismus – aufnimmt und die beiden irgendwie zu etwas Neuem und Originellem alchemisiert. Sicherlich ist es ein starkes Stück Fleisch (die Formulierung eines Gerichtsdramas täuscht, da es sich nicht wirklich um einen Film über Gerechtigkeit handelt), aber Mundpropaganda lockt mit Kultstatus und ein gesundes Nachtleben in der Genreszene ist gesichert.

Ein Großteil der Handlung ist zu Beginn des Films bereits passiert. Während der purpurrote Vorspann über Vincent Birons stahlblaue Brille rollt, wacht eine junge Frau namens Kelly-Anne (Juliette Gariépy) auf und fährt mit dem Bus zu einem hohen, sterilen Gebäude. Im Inneren wird der Rahmen voller Farben, als Kelly-Anne durch die Sicherheitskontrolle geht und ihren Platz in einem hellen, weißen, von Neonröhren erleuchteten Gerichtssaal einnimmt. Vor Gericht steht Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos), auch bekannt als „Der Dämon von Rosemont“, dem die brutalen Morde an drei jungen Mädchen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren vorgeworfen werden. Chevaliers Bekanntheit verdankt er der Natur seiner Verbrechen: den Opfern wurden sadistisch gefoltert, bevor sie getötet wurden, und zwar zum Wohle eines zahlenden Publikums, das das Geschehen live im Dark Web verfolgte.

In der Eröffnungsrede des Staatsanwalts wird die völlige Brutalität des Falles dargelegt, wobei der emotionslose Chevalier, eingesperrt in ein Plexiglasgehäuse, von der Seitenlinie aus zuschaut. Der Fall basiert auf zwei anschaulichen halbstündigen Videos, da das dritte nicht gefunden werden kann, aber Chevaliers Verteidigungsteam behauptet, er sei ein Mann, dem Unrecht getan wurde, „ein vorbildlicher Bürger“, der in all seinen 39 Jahren nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sei Erde. Der Hauptfehler in der Argumentation der Staatsanwaltschaft bestehe darin, fügten sie hinzu, dass keine verdächtigen Geldbeträge über sein Konto geflossen seien und er keine Anzeichen dafür gezeigt habe, dass er über seine Verhältnisse gelebt habe.

Trotz der überwältigenden Menge an Indizien ist nicht jeder von Chevaliers Schuld überzeugt. An ihrem zweiten Prozesstag trifft Kelly-Anne Clémentine (Laurie Babin), eine Mordgruppe, die sich in Chevalier verliebt hat und behauptet, die Videos seien gefälscht und der Prozess sei „eine große Show“. Die beiden werden unwahrscheinliche Verbündete, doch das Machtgleichgewicht ihrer Freundschaft gerät ins Wanken, als der Gerichtssaal geschlossen wird, während dem Gericht die beiden vorhandenen „Schnupftabak“-Videos gezeigt werden. Kelly-Anne hat sie nicht nur bereits gesehen, sie hat sie auch auf einem Flash-Laufwerk. Clementine bettelt darum, sie beobachten zu dürfen, und als sie es tut, veranlasst sie die Grausamkeit dessen, was sie sieht, ihre Lebensentscheidungen zu überdenken und nach Hause zu gehen.

Kelly-Anne erscheint jedoch weiterhin im Gerichtssaal. Aber warum? Dies und nicht die Beweggründe des offensichtlich aus den Fugen geratenen Mörders, wer auch immer es sich herausstellt, sind der Kern dieses düsteren, fantasievollen Thrillers. Schon in der ersten Stunde wird klar, dass mit dem Fall Chevalier etwas nicht stimmt; Zeitungsartikel sprechen von „einem fehlenden Teil“ des Puzzles, und das schwer fassbare dritte Video hat im Internet mythischen Status erlangt. Hat Kelly-Anne den Schlüssel in der Hand und wenn ja, ist sie mitschuldig? Die Spannung baut sich langsam auf, bis sie fast unerträglich wird, und gipfelt in einer alptraumhaften Szene, in der Kelly-Anne mit frisch gefärbten blonden Haaren blaue Kontaktlinsen aufsetzt und ihren Mantel auszieht, um zu erkennen, dass sie genau diese Schuluniform trägt getragen vom dritten und letzten Opfer, mit dem sie eine unheimliche Ähnlichkeit hat. Als die Gerichtsvollzieher sie entfernen, schaut der zuvor teilnahmslose Chevalier auf und winkt.

Noch einmal: Warum? Plante verrät nie alles, sondern überlagert den Film mit genügend Nuancen, sodass wir uns ein Bild von Kelly-Annes emotionalem Zustand machen können. Ihre Modelkarriere – zusammen mit Dominique Plantes eindeutig europäisch geprägter Note, vielleicht eine subtile Anspielung auf Italienisch giallo – trifft einen Schlag, wenn sogar die Fetischisten-Website Vom Träumen zum Wagen sagt ein Fotoshooting ab und beruft sich dabei auf Gerüchte über ihre „extremen“ Interessen, eine indirekte Anspielung auf BDSM. In diesem Fall kann man den Film als eine S&M-Geschichte einer Frau lesen, die den Mörder irgendwie objektiviert und verzehrt hat Und das Opfer, eine Dualität, die ihrer Freundlichkeit gegenüber Clémentine eine unerkennbare Fähigkeit zur Verderbtheit entgegensetzt, die sie im Cyberspace auslebt.

Bezeichnenderweise lautet Kelly-Annes Online-Name „Lady of Shalott“, eine Anspielung auf Tennysons Gedicht über eine Frau in der Artuszeit, die verflucht wurde, damit sie die Außenwelt nur im Spiegel sehen konnte. Kelly-Annes Spiegel ist das dunkle Netz, und Gariépys packende, eisige Darbietung macht zwei Stunden in ihrer seltsamen, aber seltsam konzentrierten Präsenz sowohl beunruhigend als auch unvergesslich.

Titel: Rote Räume
Festival: Karlovy Vary (Kristallgloben-Wettbewerb)
Regisseur/Drehbuchautor: Pascal Plante
Gießen: Juliette Gariépy, Laurie Babin, Elisabeth Locas, Maxwell McCabe-Lokos
Laufzeit: 1 Std. 58 Min
Verkaufsagent: Nemesis-Filme



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