Die Geopolitik ist mit aller Macht zurückgekehrt


In einer Zeit, in der die Geopolitik mit aller Macht zurückgekehrt ist, braucht Europa eine Außenpolitik, die europäisch, effizient, demokratisch und transparent ist, schreibt David McAllister.

David McAllister ist Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments (AFET).

Der Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten (AFET) im Europäischen Parlament stellt jedes Jahr den Bericht über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union vor. Die Mitglieder haben ihn heute in Straßburg mit breiter Mehrheit angenommen.

Das Jahr 2022 markiert den bedeutendsten Wendepunkt in unserer Außen- und Sicherheitspolitik seit dem Ende des Kalten Krieges. In der Praxis bedeutet dies, dass die Annahmen, die unsere bisherige Politik untermauert haben, ein Relikt aus einer vergangenen Ära sind.

Der unprovozierte russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist mit einer schmerzhaften Erkenntnis verbunden: Die Vorstellung, dass eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zu einer Annäherung Russlands an den Westen führen würde, hat sich als Illusion erwiesen.

In seiner imperialen Besessenheit hat Putin internationales Recht gebrochen, Grenzen in Frage gestellt und Landraub begangen.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sprach 2019 erstmals davon, dass sie eine „geopolitische“ Kommission und eine Europäische Union führt, die die Sprache der Macht versteht. Die Machtpolitik ist mit aller Macht zurückgekehrt. In ihrer Außenpolitik muss sich die EU an diese Realitäten anpassen und sicherstellen, dass unsere Ziele mit unseren Mitteln vereinbar sind.

Der heute im Plenum angenommene Bericht fordert eine EU mit dem Willen und den Mitteln, sich international durchzusetzen.

Wir müssen die institutionelle Entscheidungsfindung stärken.

Die EU hat auf den russischen Angriffskrieg mit einer Kohärenz und Entschlossenheit reagiert, wie man sie selten zuvor gesehen hat. Gemeinsam mit unseren internationalen Partnern haben wir eine Flut von Sanktionen eingeleitet, die verheerende Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben. Wir haben enorme zusätzliche Mittel für die Ukraine mobilisiert und zum ersten Mal Waffen an ein angegriffenes Land geliefert.

Es wäre jedoch unverantwortlich, sich immer dann auf die Möglichkeit einer Ad-hoc-Mobilisierung zu verlassen, wenn entschiedenes Handeln erforderlich ist. Vielmehr muss die EU ihre Instrumente weiterentwickeln, um nachhaltig entschlossen handeln zu können.

Die aktuellen außenpolitischen Arrangements, die aus einem freundlicheren internationalen Umfeld stammen, weisen eine Reihe struktureller Probleme auf. Die Entscheidungsfindung auf der Grundlage der Einstimmigkeit zwischen 27 verschiedenen Ländern stellt eine offensichtliche Einschränkung für eine schnelle Reaktion dar. Einstimmigkeit zwingt die EU-27 dazu, unermüdlich an der Einheit zu arbeiten, die zweifellos die wahre Stärke der EU darstellt.

Kritischer ist jedoch die Abwägung zwischen Einheitsideal und den hohen Effektivitätskosten der Einstimmigkeit zu sehen. Dies gilt insbesondere, wenn es um die Fähigkeit der EU geht, gezielte restriktive Maßnahmen gegen Einzelpersonen, Organisationen und Einrichtungen zu konzipieren, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, daran beteiligt oder damit in Verbindung stehen. Ein einzelnes Land sollte sein Vetorecht nicht für politischen Kuhhandel missbrauchen können, wenn es um Menschenrechte geht.

Der Bericht legt dar, wie das – manchmal – schwer fassbare Konzept der strategischen Autonomie in der Praxis umgesetzt werden kann. Dazu gehört in erster Linie die rechtzeitige und effiziente Umsetzung des Strategischen Kompasses.

Unter der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 gestartet und im März 2022 verabschiedet, gibt der Kompass die Richtung für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU in den nächsten fünf bis zehn Jahren vor. Auf diese Weise koordiniert sie die Vielzahl der Initiativen, die in den letzten Jahren gestartet wurden, und trägt zu einer echten Europäischen Verteidigungsunion bei, die interoperabel und komplementär zum NATO-Bündnis ist.

Natürlich ist der Strategische Kompass kein Allheilmittel. Letztlich hängt der Erfolg aller europäischen Verteidigungsinitiativen von der Bereitschaft unserer 27 Mitgliedstaaten ab, die Souveränität in Fragen der nationalen Sicherheit zu bündeln.

Gemessen an den politischen Hürden, die die europäische Sicherheits- und Verteidigungszusammenarbeit in der Vergangenheit überwinden musste, kann sie jedoch als Meilenstein bezeichnet werden.

Eine effektivere Außenpolitik muss sich nicht nur an einer stärkeren Sicherheitspolitik ausrichten, sondern erfordert auch, dass wir bestehende Partnerschaften mit transatlantischen NATO-Verbündeten intensivieren und in neue Allianzen mit Partnern auf der ganzen Welt investieren. Eine verstärkte EU-Präsenz im Indopazifik sollte das ultimative Ziel sein, das die Beziehungen der EU zu Australien, Japan, Indien, Südkorea und ASEAN in den Mittelpunkt rückt.

Wo Stabilität im Fernen Osten/Indopazifik keine Selbstverständlichkeit mehr ist, ist die Sicherheit unserer unmittelbaren Nachbarschaft nach Osten und Süden auch nicht mehr gegeben. Der russische Angriffskrieg hat die EU veranlasst, ihrer Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik, die nach wie vor unser stärkstes geopolitisches Instrument ist, neue Prioritäten einzuräumen.

Während die Erweiterung und Vertiefung der EU zweifellos Hand in Hand gehen müssen, sollte die Notwendigkeit unserer internen Reformen kein Vorwand sein, um den leistungsbasierten Beitrittsprozess zu verlangsamen.

Seit 1993 verpflichten sich die EU-Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Durch parlamentarische Diplomatie hat sich das Europäische Parlament seitdem als außenpolitischer Akteur profiliert und immer wieder stärkere Instrumente gefordert, die die EU endlich zu einem selbstbestimmten geopolitischen Akteur erwachsen lassen.



source-127

Leave a Reply