Auf Messers Schneide: Umgang mit der Bedrohung durch Asbest


Nach dem generellen Asbestverbot, das 2005 schließlich in allen EU-Mitgliedsstaaten umgesetzt werden musste, wurde es still um die Asbestthematik – zu still. Fast alle Akteure haben lange übersehen, dass Asbest noch immer in Millionen öffentlicher und privater Gebäude vorhanden ist, die vor dem Verbot gebaut wurden, sowie in Teilen der Infrastruktur.

Rolf Gehring ist Politischer Sekretär für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz bei der EFBH.

Auch die Gewerkschaften schwiegen zum Thema Asbest. Dann, im Jahr 2009, begann eine Debatte in der Europäischen Föderation der Bau- und Holzarbeiter (EFBWW), inspiriert von skandinavischen Kollegen. Diese Debatte führte zur EFBH-Kampagne „Europe 2023 – Asbestos free“. Im Mittelpunkt der Kampagne stand und steht die Erstellung nationaler Aktionspläne im Rahmen einer europäischen Initiative zur Beseitigung aller Asbestreste. Dieses Ziel soll auch durch Gesetzgebungsinitiativen in den Zuständigkeitsbereichen der EU unterstützt werden.

Die Klimaziele der EU und die damit verbundene „Sanierungswelle“ wirken nun wie ein Brennglas auf die Asbestproblematik. Arbeiten an Dächern, Heizungen, Fenstern, Bädern etc. werden von einer Vielzahl von Berufsgruppen durchgeführt (neben den spezialisierten Asbestsanierungsfirmen). Sie alle kommen potenziell mit asbestverseuchten Materialien in Kontakt. Damit besteht die Gefahr, dass die derzeit sehr hohe Zahl der jährlichen Asbestopfer erneut in die Höhe schießt (die Kommission geht von etwa 70.000 Todesfällen durch berufliche Asbestexposition in Europa aus).

In diesem Zusammenhang kommen die am 28. September 2022 vorgelegten Vorschläge der Kommission zu Asbest zu spät, können aber dennoch die absehbare Katastrophe abmildern, die eintreten wird, wenn die Arbeiter von Renovation Wave nicht gut ausgebildet sind und die Arbeiten nicht unter sicheren Bedingungen und ordnungsgemäß ausführen können. Insbesondere hat die Kommission einen Vorschlag zur Überarbeitung der Asbestrichtlinie (2022/489) und eine Mitteilung (2022/488) vorgelegt, in der weitere asbestbezogene Maßnahmen und Initiativen in anderen Politikbereichen vorgeschlagen werden.

Hintergrund für die Initiative der Kommission ist nicht zuletzt der im Oktober 2021 verabschiedete Initiativgesetzgebungsbericht des Europäischen Parlaments. Es basiert auf einem ganzheitlichen Ansatz und hat aufgezeigt, welche Initiativen und gesetzlichen Änderungen notwendig sind, um den Schutz vor Asbestexposition zu erhöhen und den aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik auf diesem Gebiet umzusetzen. Damit entspricht der parlamentarische Bericht sehr den Forderungen, die die EFBH mit ihrer Asbestkampagne verfolgt.

Im Mittelpunkt des Kommissionsvorschlags steht die vorgeschlagene Absenkung des Arbeitsplatzgrenzwerts von 100.000 Fasern pro m² auf 10.000 Fasern. Parlament, Gewerkschaften und beispielsweise die Internationale Kommission für Arbeitsmedizin hatten einen Grenzwert von 1.000 Fasern m³ gefordert. Daher wird die Absenkung des Grenzwerts weiterhin eine zentrale Rolle in den Verhandlungen zwischen Rat, Parlament und Kommission spielen.

In Bezug auf die Richtlinie über Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz hat die Europäische Kommission es nach Ansicht der EFBH versäumt, eine Reihe der vom Parlament vorgeschlagenen Änderungen aufzunehmen. Vor allem die Schulung aller Berufsgruppen, die bei ihrer Arbeit mit Asbest in Berührung kommen können, ist enorm wichtig.

In der aktuellen Richtlinie gibt es nur einen Hinweis darauf, dass Schulungen stattfinden müssen. Das Parlament hat einen Anhang zu dieser Richtlinie mit Beschreibungen von Mindeststandards für a) professionelle Asbestarbeiter und b) alle Berufsgruppen vorgeschlagen, die unbeabsichtigt mit Asbest in Berührung kommen können. Wie bisher für andere Berufsgruppen (Bus- und Lkw-Fahrer oder Seeleute) wäre diese Vorgabe von Mindeststandards in der Sicherheitsausbildung möglich gewesen, ohne in die Rechtshoheit der Mitgliedstaaten im Bildungsbereich einzugreifen.

Vor dem Hintergrund aktueller Erkenntnisse in den Bereichen Prävention, technische Sicherheit, Asbestscreening oder Messfragen hat das Parlament eine Reihe konkreter Änderungsvorschläge vorgelegt, die jedoch nicht berücksichtigt wurden. Die Kommission bezeichnet die Richtlinie als zweckdienlich, kündigt jedoch in ihrer Mitteilung an, dass sie Leitlinien zu einer Reihe der vom Parlament vorgeschlagenen Änderungen erarbeiten wird, und erkennt damit die zugrunde liegenden Probleme an.

Auch die Vorschläge des Parlaments für andere Politikbereiche sind von Bedeutung. Beispielsweise wird die Kommission aufgefordert, einen Legislativvorschlag für einen europäischen Rahmen als Grundlage für nationale Asbestsanierungsprogramme vorzulegen (Anhang I). Für den europäischen Plan zur Krebsbekämpfung wird eine stärkere Betonung der Asbestprävention gefordert. Für die Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (2010/31/EU) wird eine spezielle Asbestprüfung vorgeschlagen. Eine Gesetzesinitiative wird auch für ein allgemeines Asbest-Screening und ein digitales Register von Asbestvorkommen (Anhang V) gefordert.

Für die Opfer von Asbestexposition wird in Anhang III des parlamentarischen Berichts vorgeschlagen, die Europäische Liste der Berufskrankheiten auf den aktuellen Stand der Forschung zu aktualisieren, dh weitere Krankheiten aufzunehmen, die nachweislich durch Asbest verursacht wurden. Das Parlament hat dafür einen guten Zeitpunkt gewählt, da die Europäische Kommission diese Liste gewissermaßen geöffnet hat, um COVID-19-Erkrankungen aufzunehmen. Die Kommission will dazu den Beratenden Ausschuss für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in Luxemburg konsultieren. Weitere Vorschläge des Parlaments betreffen die Unterstützung von Asbestopfern und das Anerkennungsverfahren. Die Kommission sieht diesbezüglich keinen Handlungsspielraum, da dies Sache der Mitgliedstaaten ist.

Eine Reihe weiterer parlamentarischer Forderungen wurde in die Mitteilung der Europäischen Kommission aufgenommen. So kündigt die Kommission beispielsweise einen Legislativvorschlag für die Überprüfung von Gebäuden und für ein digitales Asbestregister in Gebäuden an. Die Kommission erwägt keinen Rechtsrahmen für nationale Pläne zur Asbestbeseitigung, sondern fordert die Mitgliedstaaten auf, alle EU-Programme zu nutzen, die für diesen Zweck offen stehen. Andere Elemente werden als einigermaßen festgelegt beschrieben, wie etwa die Vorschläge zum europäischen Plan zur Krebsbekämpfung.

Nach einer Schlussfolgerung zum aktuellen Stand der Dinge gefragt, würde ich sagen: Die Asbestproblematik hat nach einer Zeit des zu langen Schweigens erhebliche Aufmerksamkeit erlangt. Die Europäische Kommission war bereits auf dem Weg, den Arbeitsplatzgrenzwert zu senken. Der Parlamentsbericht hat die thematische Betrachtung der Asbestproblematik deutlich erweitert. Eine Reihe von Punkten wurde in die Vorschläge der Kommission aufgenommen. Welche Qualität die Umsetzung der angekündigten Maßnahmen haben wird, ist offen bzw. muss verhandelt werden.

Der vorgeschlagene Grenzwert ist aus gewerkschaftlicher Sicht eindeutig zu hoch, und ein europäischer Rahmen (Koordinierung) für die Entfernung des gesamten Restasbests fehlt ebenso wie eine gründlichere Überarbeitung der Arbeitsschutzrichtlinie. Die allgemeine Anerkennung der Bedeutung der Asbestproblematik lässt jedoch hoffen, dass die Akteure in den weiteren Diskussionen und Verhandlungen offen und pragmatisch nach Lösungen für die strittigen Themen suchen.



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