Der radikale Teil der Klimaschutzbewegung

München Am letzten Tag des G7-Gipfels in Elmau Ende Juni klettern frühmorgens zwei Gestalten auf das Dach eines Altbaus in der Münchener Innenstadt. Ein paar Etagen unter ihnen liegen die Büroräume des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock. Über einem Giebelfenster entrollen die beiden Mitglieder der Klimabewegung Extinction Rebellion (XR) ein weißes Banner. Darauf steht in schwarzen Buchstaben: „G7 and Blackrock destroy our planet“.

Zeitgleich versammeln sich vor dem Gebäude weitere Aktivisten. Sie recken Protestschilder in die Luft und rufen: „Fossil banks, no thanks“. Als die Polizei in Bussen anrückt, huschen die Gestalten vom Dach. Eine von ihnen ist die studierte Geologin Iris Grote*. Wegen ähnlicher Aktionen hat sie bereits „um die 15 Anzeigen“. Sie will trotzdem weitermachen, denn: Demonstrieren helfe nicht.

Im Mai, ebenfalls in München, es regnet in Strömen. Aktivisten der Gruppe „Scientist Rebellion“ (SR) bekleben eine Filiale der Deutschen Bank mit Ausdrucken wissenschaftlicher Studien. Auf einem Plakat steht „Stoppt den fossilen Wahnsinn“. Eine Videoaufnahme zeigt die Klimaaktivisten in weißen Laborkitteln – dem Markenzeichen der Protestbewegung, in der sich Wissenschaftlerinnen und Akademiker organisiert haben.

Dabei ist auch die promovierte Humanbiologin Cornelia Huth. Gemeinsam mit einer Veterinärmedizinerin und einem promovierten Sozialpsychologen, der bei einem bekannten Wirtschaftsinstitut forscht, beklebt sie eine Landkarte im Foyer der Bank mit dem Schriftzug „81.495.000.000 Euro“.

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Diese Milliardensumme hat das Geldhaus laut einer aktuellen Studie seit dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 in fossile Energieprojekte investiert. Die Deutsche Bank will sich nicht zu dem Betrag äußern.

Und dann ist da Lea Bonasera, Mitgründerin der derzeit auffälligsten Aktivistengruppe „Last Generation“. Denn Bonasera klebt sich seit Wochen mit Mitstreitern selbst auf Straßen und Autobahnen in Berlin fest, mit langen Staus als Folge. Damit Olaf Scholz „endlich angemessen auf den Klimanotstand reagiert“, trat sie im vergangenen Herbst vor dem Kanzleramt sogar in den Hungerstreik. Erst als Scholz sich zu einem Treffen bereit erklärte, aß sie wieder.

„Klimaprotest muss unbequem sein“

Dass die 24-Jährige mit ihren Strafanzeigen Teile ihrer Kreuzberger Wohnung tapezieren könnte, scheint nicht so recht zu ihrem ansonsten makellosen Lebenslauf zu passen: Einser-Abi, Studienstiftungs-Stipendiatin, Studium in Oxford. Ihre Promotion über zivilen Ungehorsam hat sie für den Klima-Aktivismus abgebrochen.

Obwohl die Blockierer und Blockiererinnen regelmäßig Beleidigungen und Tritte wütender Autofahrer abbekommen, ist Bonasera überzeugt, dass ihre Aktionen legitim und nötig sind. „Klimaprotest muss unbequem sein. Nur was richtig stört, wird auch ernst genommen“, so die studierte Politologin.

Bonasera, Huth und Grote sind Protagonistinnen einer neuen Klimabewegung, die mehr für den Klimaschutz erreichen will als ein paar Minuten in den „Tagesthemen“. Statt brav bei Fridays for Future (FFF) zu demonstrieren, wählen sie drastischere Methoden. Ihre Mission: Sie wollen „eine kritische Masse“ von der Gefahr der globalen Erwärmung überzeugen und so Politik zu schnellerem Handeln bewegen.

Bonsera bei einer Protestaktion

Die Aktivistin will die Menschen von den Gefahren überzeugen, die vom Klimawandel ausgehen.


(Foto: Gil Bartz)

Dafür bekleben sie Ministerien und Banken mit Plakaten. Organisieren Mahnwachen vor der RWE-Konzernzentrale, um das Örtchen Lützerath vor Kohlebaggern zu schützen. Bohren symbolisch vor dem Kanzleramt nach Nordseeöl. Blockieren Firmenzufahrten, Brücken und Autobahnen mit ihren Körpern. Gewalt gegen Menschen lehnen alle Aktivisten, mit denen das Handelsblatt gesprochen hat, zwar kategorisch ab.

Wenn „fossilen Konzernen“ doch mal finanzieller Schaden entstünde, ließe sich das angesichts des Klimanotstands aber vertreten. Das findet jedenfalls die Blackrock-Besteigerin Iris Grote von XR. Sie bewundert die Letzte Generation dafür, auch schon Ölpipelines abgedreht zu haben.

Viele der neuen Klimarebellen haben gut bezahlte Jobs oder wie Cornelia Huth Karriere in der Forschung gemacht. Im zivilen Ungehorsam, „dem Schwebebereich zwischen Legitimität und Legalität“, wie ihn der Philosoph Jürgen Habermas bezeichnet, sehen sie ihre einzige Chance, den Druck auf die Politik zu erhöhen. Sie reduzieren dafür ihre Jobs auf Teilzeit oder kündigen sie ganz, andere schmeißen das Studium. Sie riskieren Anzeigen, Geldstrafen, Verhaftung und auch Verletzungen, gerade bei Straßenblockaden.

Dass sie einmal auf einer Fahrbahn sitzen und sich von der Polizei wegtragen lassen würde, hätte Cornelia Huth sich vor einem Jahr nicht träumen lassen. Die Stimme der zweifachen Mutter zittert, wenn sie erzählt, weshalb sie sich seit April zusammen mit anderen Wissenschaftlern bei SR engagiert.

Deutschland wird 1,5-Grad-Ziel verfehlen

Früher leistete sich die Familie ein bis zwei Flugreisen im Jahr und fuhr zwei Autos. Mit den Protestaktionen von Letzte Generation änderte sich alles. Huths 15-jähriger Sohn sorgte sich wegen der wachsenden Erderwärmung. „Ich wollte ihm die Angst nehmen und seine Argumente widerlegen“, erinnert sich die 45-Jährige. Also vertiefte sie sich „mit allem wissenschaftlichem Ehrgeiz“ in die Klimaberichte.

Nach 20 Jahren in der medizinischen Forschung für das Helmholtz-Zentrum, die LMU München und das Paul-Ehrlich-Institut verstand sie die mathematischen Modelle in den Berichten des Weltklimarats (IPCC) und den unausweichlichen Zusammenhang zwischen steigender CO2-Konzentration und Erwärmung. Nach Ende der Lektüre schien ihr klar: Ihr Sohn hatte recht. Es blieben nur wenige Jahre, um eine Katastrophe abzuwenden.

Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz

Extreme Hitz und heftige Überschwemmungen sind auch in Deutschland Folgen des Klimawandels.

(Foto: dpa)

Mit dieser Ansicht steht sie nicht allein. Laut einem Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) läuft das verfügbare CO2-Budget, das Deutschland auf einem 1,5-Grad-Pfad halten würde, 2031 ab. Entgegen allen Lippenbekenntnissen aus der Politik wird Deutschland seinen Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel schon deutlich vor 2031 verfehlen, sagt Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin.

Und selbst am 1,75-Grad-Pfad fahre Deutschland gerade vorbei und verletze damit das Pariser Klimaschutzabkommen. Man befinde sich auf dem Weg in eine zwei bis drei Grad wärmere Welt. Was drei Grad mehr anrichten würden, beschreibt der Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) in einem aktuellen Aufsatz. Es drohe Wetterchaos „mit tödlichen Hitzewellen, verheerenden Monsterstürmen und anhaltenden Dürren, die weltweit Hungerkrisen auslösen könnten“.

Ungewöhnlich deutlich für einen Chefdiplomaten wurde auch UN-Generalsekretär António Guterres nach Veröffentlichung des letzten IPCC-Sachstandsberichts: Man befinde sich auf dem Pfad zu einer unbewohnbaren Erde.

Aber rechtfertigt diese Erkenntnis den Schritt in die Illegalität? Denn was für die Klimarebellen legitimer Widerstand, ist nach den Buchstaben des Gesetzes zunächst einmal: Sachbeschädigung, Nötigung, Haus- und Landfriedensbruch.

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Bevor Huth sich für etwas entscheidet, recherchiert sie gründlich. Sie arbeitete sich durch die Geschichte des zivilen Ungehorsams. Sie las über Frauen, die ins Gefängnis gingen, um sich das Wahlrecht zu erkämpfen. Über die Afroamerikanerin Rosa Parks, die festgenommen wurde, weil sie sich weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Huth glaubt heute, dass „moralisch legitimierter, gewaltfreier Protest in unserer Demokratie ein notwendiges Korrektiv zur Lobbyarbeit der Industrie ist“.

Noch deutlicher wird Helge Peukert, Ökonomie-Professor an der Universität Siegen, genau wie Huth seit Kurzem SR-Mitglied. „Wir begehen Unrecht, wenn wir uns jetzt nicht in zivilem Ungehorsam üben. Wenn wir zulassen, dass sich die Erde weiter erwärmt, werden wir das nie vor einem späteren Generationengericht verantworten können“, so Peukert.

Wenn wir zulassen, dass sich die Erde weiter erwärmt, werden wir das nie vor einem späteren Generationengericht verantworten können. Ökonomie-Professor Helge Peukert

Derzeit würden Ministerien ihre CO2-Budgets überziehen, ohne „zeitnahe“ Pläne für eine Korrektur. Die Bundesregierung verstoße damit gegen das Klimaschutzgesetz von 2021. Der 66-Jährige war bislang bei mehreren „Paperpastings“ dabei, dem Ankleben von Klimaberichten an Fensterscheiben und Gebäuden. Dafür kassierte er schriftliche Anhörungen wegen „gemeingefährlicher Beschädigung“.

Dabei sei der Kleister wasserlöslich, man habe lediglich wissenschaftliche Fakten angebracht, „keine agitatorischen Flugblätter“, so Peukert. Wegen seines Alters will er sich nicht wie Lea Bonasera auf der Straße festkleben. Jedoch findet der Volkswirt solche Aktionen legitim und Bonasera mutig. Mit seinen Vorträgen oder Büchern habe er jedenfalls bisher eher wenig erreicht.

Ob die Protestaktionen mehr bewirken, muss sich allerdings noch zeigen. Vor allem verhärten sie die Fronten. Ein Twitter-Video von Anfang Juli zeigt, wie ein Mann mit Anzug einen Klimaaktivisten in Berlin grob von der Straße schleift. Ein anderer Autofahrer ruft: „Geh arbeiten, du Schwuchtel.“ In den Kommentaren empfiehlt ein Nutzer: „einfach anpinkeln“.

Aktivisten protestieren gegen Öl-Pläne der Regierung

„Denken Sie, wir machen das zum Spaß?“, fragt Bonasera per Videochat aus ihrer Kreuzberger Wohnung. „Ich habe jedes Mal Angst vor solchen Attacken, und es tut mir auch leid, wenn Leute zu spät zur Arbeit kommen.“ Gewalt schließt Bonasera nach eigenen Worten aus, das Kanzleramt mit Farbe zu beschmieren findet sie aber okay. Diverse Protestaktionen hätten sie ausprobiert, doch nur die Straßenblockaden hätten es regelmäßig in die Medien geschafft.

Oft war die junge Frau mit den dunklen Locken mit einem 1,5-Grad-Schild bei Fridays-for-Future-Demos mitgelaufen. Dabei hatte sie sich gefragt: „Was bringt das?“ Sie beschlich das Gefühl, Teil einer Wohlfühlveranstaltung zu sein, neben der Politiker sich gern ablichten ließen. Derzeit richten sich die Proteste von Letzte Generation etwa gegen die Pläne der Regierung, in der Nordsee nach Öl zu bohren.

Protest von Klimaaktivisten der Gruppe „Extinction Rebellion“

Straßenblockaden wie diese schaffen es regelmäßig in die Medien.

(Foto: dpa)

Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) kritisiert wie viele andere die Straßenblockaden als „Erpressung“. Berlins Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) dagegen rügt die „Selbstjustiz“ von Autofahrern. Die oppositionelle FDP im Berliner Abgeordnetenhaus warf ihr vor, die Ermittlungen gegen die Blockierer nicht entschlossen genug voranzutreiben.

Energieexperte Quaschning zeigt Verständnis für die Aktivisten: „Die jungen Menschen sind verzweifelt und wissen nicht mehr weiter.“ Auch innerhalb von Fridays for Future gibt es genug Stimmen, die eine „NGOisierung“ ihrer Bewegung abwenden und radikaler werden wollen. FFF sei demnach „am Boden“, man wolle jetzt Unis besetzen, um wieder wahrgenommen zu werden.

Protestforscher Michael Neuber von der TU Berlin hält die Mobilisierungskraft von FFF, die noch im März 16.000 Menschen auf die Straßen brachten, indes für einen entscheidenden Erfolgsfaktor beim Klimaprotest. Ohne Massen auf den Straßen würden den radikaleren Klimarebellen der Nährboden und die Akzeptanz fehlen. Die Gefahr, die Klimaaktivisten könnten sich zu einer „grünen RAF“ radikalisieren, sieht Neuber aber nicht. Dafür einen klaren Auftrag im Grundgesetz an den Staat: Dieser trage die Verantwortung, auch die Lebensgrundlagen künftiger Generationen zu schützen.

Auch gesetzestreuer Widerstand wirkt

Auf Basis dieses Grundgesetz-Artikels verpflichtete das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung im vergangenen Jahr, ihr Klimaschutzgesetz nachzuschärfen. Auch FFF-Vertreter hatten zu den Klägern gehört. Widerstand im Rahmen der Gesetze kann also wirksam sein.

Dass man nicht erst einen Kleinkrieg mit Autofahrern und der Polizei entfachen muss, um Aufsehen zu erzeugen, beweist etwa die Aktion „Truth-Teller“ von XR in Großbritannien. Auf ihrer digitalen Whistleblower-Plattform können Mitarbeiter die Klimasünden ihrer Arbeitgeber öffentlich machen. Eine der Organisatorinnen, die Investigativjournalistin Zoë Blackler, glaubt, die Zeit sei reif für eine grüne #MeToo-Bewegung. Viele Mitarbeiter seien unzufrieden mit dem Klimakurs in ihren Unternehmen.

So wie die Britin Caroline Dennett. Beim Mineralöl-Unternehmen Shell arbeitet sie elf Jahre lang als externe Beraterin an der Sicherheit von Ölplattformen. Doch als sie die Flugblätter von XR mit der Aufschrift „Insights wanted“ sah (Einsichten gesucht), wusste sie: „Das ist es, das will ich machen.“

Obwohl Shell für 70 Prozent ihres Umsatzes als Beraterin sorgte, kündigte sie ihren Job als Sicherheitsberaterin. „Shell bekennt sich öffentlich gern zu Öko-Umbau und Klimaneutralität, plant jedoch weiter neue Ölprojekte“, so Dennett.

Protestaktion gegen Ölkonzern Shell in London

Kritiker werfen dem Konzern vor, nicht genug für den Umweltschutz zu tun.

(Foto: dpa)

Mit dieser Erkenntnis verriet sie zwar kein Firmengeheimnis. Doch ihre Kündigung samt Begründung ging auf dem Karrierenetzwerk LinkedIn viral. Dennett hat Hunderte Interviews gegeben, darunter dem „Guardian“, C-NBC, der „Financial Times“, Sky-News. Nur Shell hat sich bislang nicht gemeldet.

In einem Statement des Konzerns heißt es, man sei „entschlossen, bis 2050 ein klimaneutrales Unternehmen zu sein. Tausende Angestellte arbeiten hart, um dieses Ziel zu erreichen.“

Genau wie Dennett nimmt auch Lea Bonasera persönliche Nachteile in Kauf. Ihre Eltern sorgen sich, doch sie verstehen die Tochter auch. Falls sie die Blockaden irgendwann vor Gericht bringen, sei das in Ordnung, sagt sie. Die Justiz solle ruhig klären, „ob das, was wir machen, strafbar ist. Ich bin auf alles vorbereitet, auch aufs Gefängnis, wenn es sein muss.“

*Person von der Redaktion anonymisiert

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