Der letzte Gipfel seiner Art? In Indien steht die Zukunft der G20 auf dem Spiel

Berlin, Brüssel, Washington, Neu-Delhi Für den G20-Gipfel in Neu-Delhi an diesem Wochenende betreibt die indische Regierung einen gigantischen Aufwand. Inlandsflüge werden verschoben, um den anreisenden Regierungschefs Platz zu machen. Die als Plage geltenden Rhesusaffen werden vertrieben. Ganze Slums wurden abgerissen.

Ob sich der Aufwand lohnt? Ein tiefer Riss geht durch die 20 größten Industrie- und Schwellenländer. Die Zukunft des G20-Formats steht infrage.

Zwei große Streitthemen gibt es: Den Umgang mit dem Ukrainekrieg und die Spannungen zwischen den USA und China.

Chinas Präsident Xi Jinping reist erstmalig nicht zum Gipfel. Seine Motive sind wie immer nicht klar. Die Entscheidung wird von Beobachtern aber als Signal gewertet, dass sich die Führung in Peking zumindest teilweise von dem Forum abwendet. Xi zeigte zuletzt mehr Interesse an multilateralen Gruppierungen wie den BRICS oder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Dort müssen sich Russland und China keiner westlichen Kritik stellen.

Doch selbst wenn Xi mit am Verhandlungstisch säße, wäre offen, ob und was die G20 in Neu-Delhi erreichen können. Seit Indien im Dezember 2022 die Präsidentschaft übernommen hat, gab es zwölf Treffen auf Ministerebene. Bei keinem davon konnten sich die Teilnehmer auf eine Abschlusserklärung einigen. Beim Gipfel der Regierungschefs soll das anders werden. Aber ob es gelingt, ist offen.

Ringen um Erklärung zur Ukraine

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind sich die G20-Staaten in ihrer Bewertung uneinig. Beim Gipfel im vergangenen Jahr auf Bali einigte man sich auf eine ungewöhnliche Formulierung, wonach „die meisten Mitglieder den Krieg in der Ukraine auf das Schärfste verurteilen“. Nun scheinen China und Russland nicht einmal mehr bereit, ein Dokument zu unterzeichnen, in dem dieser Satz vorkommt.

Arbeiter vor einem Werbeplakat für den G20-Gipfel

Der Gipfel ist von zwei großen Streitpunkten geprägt.

(Foto: AP)

Gleichzeitig gehen dem Westen die Kompromissvorschläge Indiens nicht weit genug. In deutschen Regierungskreisen zeigte man sich im Vorfeld zuversichtlich: „Wir gehen davon aus, dass wir uns einigen werden“, sagt ein Regierungsvertreter. Das Weiße Haus ist dagegen vorsichtiger: „Wir hoffen, dass eine gemeinsame Abschlusserklärung zustande kommt“, sagte John Kirby, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats. Garantiert sei das aber nicht.

Es werde 24 Stunden am Tag verhandelt, sagte der indische Chefunterhändler Amitabh Kant, der bis Donnerstag die Delegationen der Teilnehmerländer in einem Hotel 70 Kilometer südlich der Hauptstadt zu mehrtägigen Abschlussgesprächen versammelte. 

Russland drängt darauf, die infolge des Ukrainekriegs verhängten westlichen Wirtschaftssanktionen zu verurteilen. Das lehnen die westlichen Staaten strikt ab, fürchten aber zugleich, Russlands Argumentation könne im globalen Süden verfangen. Denn unter den Sanktionen gegen Russland leiden auch viele Volkswirtschaften Afrikas und Asiens.

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In deutschen Regierungskreisen wird betont, man dürfe die Gipfelerklärung von Neu-Delhi nicht allein an der Bali-Erklärung im Vorjahr messen. Wenn man hinter der Erklärung von damals zurückbleibe, heiße das nicht, dass der Ukrainekrieg im globalen Süden nun auf mehr Akzeptanz treffe.

Der US-Präsident werde auf dem G20-Gipfel erneut auf ein Ende des Kriegs drängen, sagte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan. „Russlands illegaler Krieg hat verheerende soziale und wirtschaftliche Folgen. Die ärmsten Länder der Welt tragen die Hauptlast.“

Sullivan machte auch klar, dass man nicht von der Unterstützung der Ukraine abrückt. Das militärische Engagement der USA sei „ungebrochen“. In dieser Woche gaben die USA ein neues Milliardenpaket für die Ukraine frei, das unter anderem umstrittene Uranmunition enthält.

China nimmt Klimapolitik als Geisel

Ein weiterer Streitpunkt ist die Klimapolitik. China will einer gemeinsamen Aussage dazu nur zustimmen, wenn die USA Zugeständnisse in Bezug auf ihr Chipembargo gegen China machen, heißt es in Verhandlungskreisen. Dass China die Klimapolitik in Geiselhaft nimmt, um an anderer Stelle etwas herauszuhandeln, wirft die Frage auf, wie verlässlich der Westen in der Klimapolitik mit Peking zusammenarbeiten kann.

Chinas Staatspräsident Xi Jinping

Das Verhältnis zwischen den USA und China ist stark angespannt – mit entsprechenden Auswirkungen auf den G20-Gipfel, trotz Xis Absage.

(Foto: Reuters)

Europa und Amerika wollen jedenfalls die Abwesenheit von Chinas Staatschef Xi nutzen, um sich bei Ländern des sogenannten globalen Südens als bessere Partner zu präsentieren. Auch der per internationalem Strafbefehl gesuchte russische Präsident Wladimir Putin wird nicht anreisen. US-Präsident Biden fliegt mit dem Ziel nach Delhi, den Anspruch der USA als internationaler Führungspartner zu stärken.

Neben dem Engagement für die Ukraine zieht sich die Abgrenzung zu China als roter Faden durch die amerikanische G20-Politik. So könnte nach einem bilateralen Treffen zwischen Biden und dem indischen Premier Narendra Modi am Freitag eine neue Handels- und Verteidigungspartnerschaft verkündet werden – zum Missfallen Pekings.

Außerdem wollen die USA einen Vorschlag zum Thema Entwicklungshilfe vorlegen, der Chinas globalen Einfluss schwächen soll. Peking vergibt im Rahmen seiner „Belt and Road“-Initiative umfangreiche Infrastruktur- und Industriekredite an ärmere Länder. Dem entgegenstehen soll bald ein „Wertangebot“ unter Führung der USA.

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So bieten die USA Entwicklungs- und Schwellenländern eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank an. Biden will in Neu-Delhi mehr Geld von den Mitgliedsländern einfordern. „Wir wissen, dass diese Institutionen zu den wirksamsten Instrumenten gehören, die wir für die Mobilisierung transparenter und hochwertiger Investitionen in Entwicklungsländern haben“, sagte Sullivan.

Angepeilt ist ein höheres Kreditvergabevolumen von rund 200 Milliarden US-Dollar. Sullivan sprach von einer „positiven Alternative“ zu einer „viel undurchsichtigeren oder zwanghaften Methode der Entwicklungsfinanzierung, die China anbietet“.

Biden will bei dem Treffen die G20-Mitglieder auch dazu auffordern, einen „sinnvollen Schuldenerlass“ für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu gewähren. So sollten diese Länder „nach Jahren extremer Belastung wieder auf die Beine kommen können“.

Xi Jinping und Joe Biden bei einem Treffen im November 2022

Die USA wollen ihren Anspruch als internationaler Partner stärken.

(Foto: Reuters)

Außerdem sollte es für diese Länder Kreditoptionen „auf hohem Niveau ohne Zwang“ geben. Zuletzt haben die Vereinten Nationen vor einer verheerenden Schuldenkrise für ärmere Länder gewarnt. Steigende Zinssätze hatten die Lage zuletzt verschlimmert.

Afrikanische Union soll in G20 aufgenommen werden

Auch innerhalb der G20 sollen Entwicklungsländer künftig eine stärkere Rolle spielen. So zeichnet sich ab, dass bei dem Gipfel die Afrikanische Union als neues Mitglied aufgenommen werden soll.

Der Zusammenschluss von 55 afrikanischen Staaten soll dabei die gleiche Stellung erhalten, die die Europäische Union hat. Neben Gastgeber Indien hatte sich zuletzt auch Bundeskanzler Olaf Scholz für diese Erweiterung ausgesprochen.

Vertreter der Europäischen Union wollen am Rande des G20-Gipfels zudem ein separates Treffen mit afrikanischen Regierungschefs abhalten. Dabei soll es unter anderem um die Auswirkungen des Ukrainekriegs auf die Ernährungssicherheit in Afrika gehen. Zudem stehen gemeinsame Infrastrukturprojekte auf der Agenda.

Auch auf dem eigentlichen Gipfel will Indiens Regierungschef Modi als Gastgeber die Interessen des Globalen Südens in den Mittelpunkt stellen. Den Auftakt macht am Samstag eine auf drei Stunden angesetzte Sitzung zum Thema Energie, Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Die Punkte gehörten zuletzt zu den größten Streitthemen.

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Die Fachthemen dürften jedoch von der geopolitischen Lage überschattet werden. Chinas Premierminister Li Qiang, der Staatschef Xi in Neu-Delhi vertreten wird, warnte am Mittwoch bei einem Gipfeltreffen mit dem südostasiatischen Staatenbund Asean vor einem „neuen Kalten Krieg“, der vermieden werden müsse.

Die Frontlinie eines solchen Kalten Kriegs würde wohl quer durch die Gruppe der G20 verlaufen. Angesichts immer neuer geopolitischer Schocks sei das Format „wichtiger denn je“, beteuerte Bidens Berater Sullivan. Doch wenn der Gipfel ohne Ergebnis bleibt, könnten im kommenden Jahr weitere Staats- und Regierungschefs das Interesse verlieren.

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