Bosch führt Mitarbeiter-App Flip weltweit ein

Stuttgart Digitalisierung ist ein heikles Thema in vielen Industriekonzernen: Sie spaltet die Belegschaft in Büroarbeiter und diejenigen in Produktion, Handel oder Service, die am Arbeitsplatz keinen direkten Zugang zu einem Computer haben. Sie fühlen sich nicht nur beim Thema Homeoffice ausgegrenzt, sondern häufig auch vom Informationsfluss im Unternehmen abgeschnitten.

Der Technologiekonzern Bosch will das ändern und führt für 100.000 operativ tätige Mitarbeiter weltweit die Plattform des Stuttgarter Start-ups Flip ein. „Es ist unser bislang größter Industriekunde“, sagt Gründer Benedikt Ilg dem Handelsblatt.

Die knapp fünf Jahre alte Firma hat nach eigenen Angaben bereits mehr als 300 Kunden, darunter McDonald’s Deutschland, Porsche, Mahle, Rewe, Rossmann. Unternehmen zahlen einen monatlichen Betrag pro Mitarbeiter für die Nutzung der App. Über die Plattform können sich die Angestellten auf ihrem privaten Smartphone mit nur zwei Klicks digital mit der eigenen Organisation verbinden oder auch von ihrem Arbeitgeber erreicht werden.

„Die App verfügt über einen personalisierten Newsfeed, Einzel- und Gruppenchats sowie zusätzliche Funktionalitäten wie ein Aufgabenmanagement oder die Schicht- und Urlaubsplanung“, sagt Ilg. In späteren Versionen sollen auch Reisekosten- und Spesenabrechnungen mobil möglich werden.

Die neue Bosch-Digitalchefin Tanja Rückert erklärte, die Einbindung der industriellen Beschäftigten in die digitale Transformation sei eine „Herzensangelegenheit“ gewesen.

Bosch bereitet Software-Entscheidungen sorgfältig vor

Für den weltgrößten Autozulieferer baut Flip eine umfassende Mitarbeiter-Plattform für die Beschäftigten in Fertigung und Logistik, die sich in die bestehende IT-Landschaft integrieren lässt. Nach einer Pilotphase in diesem Jahr rollt der Konzern die „My Bosch App“ in seinem Fertigungsnetzwerk aus. Bis Ende 2025 soll der Dienst allen interessierten Werken zur Verfügung stehen.

Flip-Führungsteam

Von links nach rechts: Giacomo Kenner (Mitgründer, CPO), Ann Kathrin Stärkel (CMO), Benedikt Ilg (Gründer, CEO), Georg Renz (CFO)

(Foto: Flip)

Bosch ist bekannt für sehr sorgfältige Vorbereitung von Softwareentscheidungen. Besonders bei sensiblen Personalangelegenheiten wird nichts dem Zufall überlassen, auch wenn es dann mal länger dauert. „Wir waren in mehreren Werken auch im Ausland und haben mit den Beschäftigten vor Ort unser System an deren spezifischen Bedürfnisse angepasst“, sagt Gründer Ilg.

Der hohe Aufwand sei notwendig. Denn Systeme wie von Flip würden nur angenommen, wenn sie selbsterklärend sind, der einzelne Mitarbeitende einen Nutzen hat und sie keine Zeitfresser sind. „Wir haben über alle unsere Kunden hinweg eine Nutzungsrate von über 80 Prozent“, sagt Ann Kathrin Stärkel, Wachstumschefin von Flip. Das sei sehr hoch und wichtig für den Erfolg des Start-ups.

Sensibles Thema Sicherheit: Flip kommt auf private Smartphones

Für Konzerne mit diversen Belegschaften ist laut Ilg vor allem die Übersetzungsfunktion für 40 Sprachen wichtig. Auf Knopfdruck werden Nachrichten in die Muttersprache übersetzt.

Da die App auf den privaten Geräten der Beschäftigten installiert ist, ist das Thema Sicherheit extrem relevant. „Unser System ist DSGVO-konform und sicher“, erklärt Ilg. Auch das sei für die Akzeptanz wichtig. „Es geht bei Flip ja nicht um die Überwachung der Mitarbeiter“, sagt der Gründer.

>> Lesen Sie auch: Zugehörigkeitsgefühl per App – Wie Flip die Kommunikation mit Mitarbeitern digitalisiert

Apps wie WhatsApp, Facebook oder Telegram, die auf privaten Smartphones installiert sind, können im Firmenumfeld aufgrund von Datenschutz nicht eingesetzt werden. In diese Lücke stößt Flip – aber auch zahlreiche Konkurrenten wie Acuvate, Blink, DaysToHappy, Quiply, Workjam oder Workstream sind auf dem Feld aktiv.

Das Potenzial scheint vorhanden: Die Marktforscher von Gartner schätzen die Zahl der Arbeitnehmer, die in der Produktion, dem Außendienst oder Dienstleistungsgeschäft tätig sind, auf 2,7 Milliarden weltweit. Das sind mehr als doppelt so viele wie diejenigen, die im Büro am PC arbeiten.

Der Vision von Ilg nach soll das Angebot noch viel umfangreicher werden und neben Schichtplänen, Urlaubsanträgen, Krankmeldungen, Firmennachrichten und anderen Informationen dann auch externe Apps umfassen.

Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut

„Wir müssen alle Hebel der Fachkräftesicherung nutzen.“

(Foto: Flip)

Vor wenigen Tagen besuchte die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) das Stuttgarter Start-up. Journalisten waren nicht dabei; die Ministerin wollte sich ein ungestörtes Bild von der Zusammenarbeit von Flip und Bosch machen. „Wir müssen alle Hebel der Fachkräftesicherung nutzen. Dazu gehören innovative digitale Lösungen, wie Flip sie bietet“, teilte die Ministern mit.

Für Flip, das inzwischen europaweit mehr als 160 Mitarbeitende beschäftigt, ist der Auftrag besonders wichtig. Schließlich ist Bosch neben Mercedes-Benz der größte Industriekonzern der Region.

Anders als etwa in Berlin ist die Stuttgarter Start-up-Szene von sogenannten B2B-Firmen geprägt. Es handelt sich also nicht um Essenslieferdienste oder Partnerbörsen, sondern eher Plattformen, über die Unternehmenskunden ihren Materialeinkauf, das Ersatzteilgeschäft oder das Makeln von Fertigungskapazitäten abwickeln können.

Investoren stecken über 30 Millionen Euro in Flip

Seit der Gründung im Jahr 2018 konnten die Flip-Gründer weit mehr als 30 Millionen Euro einsammeln. Das Unternehmen zählt heute zu den am schnellsten wachsenden Start-ups Deutschlands. Umsatz und Ertragszahlen nennt Flip nicht. „Wir wachsen sehr stark“, sagt Ilg nur. Auch seien noch ausreichende Mittel aus der Finanzierungsrunde vorhanden.

„Da wir schwäbisch wirtschaften, reicht unser Geld noch lange“, erklärt der Gründer. „Eine nächste Runde wird es erst bei einem Expansionsschritt beispielsweise in die USA geben.“

An die Geschäftsidee der Gründer glauben auch etablierte Topmanager. Als Business-Angels sind neben Matthias Müller auch Beraterlegende Roland Berger, der ehemalige Daimler-Vorstand Kurt Lauk und der frühere BASF-Chef Jürgen Hambrecht beteiligt. Zu den institutionellen Investoren zählen Cavalry Ventures, LEA Partners, der Berliner Fonds HV Capital und Notion Capital aus London.

Mehr: Strategiewechsel – Bosch verkauft Software für Fahrassistenzsysteme nun separat

source site-17