„Arbeitszeitreduktion auf 15 bis 20 Stunden möglich“

Düsseldorf Alle großen Diskussionen um Künstliche Intelligenz landen irgendwann bei der Frage: Kann KI ein Bewusstsein entwickeln? Feiyu Xu gab darauf eine überraschende Antwort: nicht nur eins, sondern gleich mehrere. „Das ist eine gespaltene Persönlichkeit!“, sagte die frühere KI-Chefin von SAP und brachte damit das Publikum beim Terrassengespräch des Handelsblatts zum Lachen.

Das war nicht nur als Witz zu verstehen. Denn KI werde mit vielen Daten trainiert, die Spuren der menschlichen Persönlichkeiten ihrer Erschaffer enthalten: Shakespeare zum Beispiel, sagte sie vor mehr als 100 Gästen auf der Dachterrasse des Düsseldorfer Verlagshauses.

Handelsblatt-Chefredakteur Sebastian Matthes und Geschäftsführerin Andrea Wasmuth hatten vier KI-Experten zum Gespräch geladen. Feiyu Xu, Unternehmerin Katharina Borchert, KI-Experte Hamidreza Hosseini und Kommunikationswissenschaftler Felix M. Simon diskutierten einige der großen Fragen: Wie wird Künstliche Intelligenz unsere Welt verändern? Wo liegt Deutschland im Technologiewettrennen? Welche Jobs lassen sich heute schon automatisieren? Und wie schnell wird die Entwicklung nun wirklich weitergehen? Bei vielen der Fragen waren die Meinungen kontrovers. Die interessantesten Thesen der KI-Experten:

Felix Simon: „So krass exponentiell ist die Entwicklungskurve gar nicht“

Kommunikationswissenschaftler Felix Simon von der Universität Oxford beschäftigt sich vor allem mit der Transformation des Mediengeschäfts durch KI. Er war oft der Abwägende in der Runde und ordnete die große KI-Aufregung ein: Aktuell herrsche ein großer Hype um Künstliche Intelligenz, ausgelöst durch die Veröffentlichung von ChatGPT.

Das Programm kann anhand von Sprachbefehlen in Sekunden lange und komplexe Texte erzeugen. Schnell folgten Bildanwendungen, die auch Endverbraucher ausprobieren können. Dadurch hätten viele Menschen erstmals selbst erlebt, was mit generativer KI möglich ist.

Aber: „So krass exponentiell ist die Entwicklungskurve gar nicht“, sagte Felix Simon. Die Entwicklung im Hintergrund sei in den vergangenen zehn bis 20 Jahren linear verlaufen. Er bremste die Euphorie, die andere auf dem Panel verbreiteten. Die möglichen Fortschritte und Effizienzgewinne würden mittelfristig langsamer eintreten, als wir glauben: „Das liegt zum Beispiel an der IT-Infrastruktur“, die die Nutzung der Technologie ausbremse.

Katharina Borchert: „Die Technologieentwicklung beschleunigt sich eher noch weiter“

Die frühere Mozilla-Innovationschefin Katharina Borchert war anderer Meinung. Als Gründerin eines Medizin-Start-ups setzt sie auch selbst auf KI.

Felix M. Simon und Katharina Borchert

Der Kommunikationswissenschaftler und die Unternehmerin in der Diskussion über die Entwicklungsgeschwindigkeit bei KI.

(Foto: Max Brunnert für Handelsblatt)

Zwar beobachte auch sie, dass viele Innovationen nicht so schnell im Alltag ankämen wie gedacht. Sie gab ein Beispiel aus ihrer neuen Heimat im Silicon Valley: Zwar gebe es „zwei Firmen, die rund um die Uhr selbstfahrende Autos in San Francisco betreiben“. Aber: „Das ist eher unausgereift, ich hätte gedacht, das ginge schneller.“

Doch laut Katharina Borchert dürfe man aus diesen Beobachtungen keine falschen Schlüsse ziehen: „Die allermeisten Dinge, wo KI in den nächsten drei Jahren unglaublich relevant wird, sind nicht die, die wir als Nutzer sehen.“

>> Lesen Sie außerdem: Was Unternehmen bei der Einführung von ChatGPT beachten sollten

Sie setzte Felix Simon entgegen, man könne die bisherigen Entwicklungen nicht einfach fortschreiben. „Die Technologieentwicklung beschleunigt sich eher noch weiter.“ Insbesondere die Prozessautomatisierung in Unternehmen werde „sehr viel schneller gehen, als wir heute denken“. Borchert sagte: „Ich warne davor zu sagen, das dauert noch!“

Hamidreza Hosseini: „Es ist ein bisschen spooky, was da abgeht“

Hamidreza Hosseini berät Unternehmen beim Einsatz von KI. Durch gute Kontakte zu OpenAI-Gründer Sam Altman und dessen Team konnte er früher als andere das KI-Chatprogramm ChatGPT ausprobieren. Entsprechend viele Anwendungsmöglichkeiten verschiedener KI-Tools hat er bereits getestet.

So erzählte er zum Beispiel, er habe eine KI seine pseudonymisierten Daten analysieren lassen. „Die KI meinte, ich verschwende mein Geld im Fitnessstudio“, sagte Hosseini. Denn er sei dort zwar angemeldet, gehe aber nicht hin. „Es ist ein bisschen spooky, was da abgeht“, sagte er.

Hamidreza Hosseini

Der KI-Experte und Berater probiert mit KI-Tools verrückte Sachen aus.

(Foto: Max Brunnert für Handelsblatt)

Außerdem verriet er, dass er sich „eine Marketing-Managerin gepromptet“ habe. Hosseini hat also einen Chatbot so lange trainiert, dass er nun quasi als Mitarbeiterin fungieren kann. „Sie kann Konzepte entwickeln, Strategien und so weiter“, sagte Hosseini. Für fünf Euro die Stunde vermiete er sie jetzt als Leiharbeiterin an ein Unternehmen. Ein Geschäftsmodell der Zukunft?

Katharina Borchert: „Bei Industrieanwendungen ist Europa sehr weit“

Nach solchen Geschäftsmodellen suchen gerade viele – und haben gute Chancen, Investoren dafür zu finden. „Im Silicon Valley ist der nächste Goldrausch ausgebrochen“, sagte Katharina Borchert. „Alle rennen hinterher und wollen auch investieren.“ Der Markt gerate wieder in eine Phase der Übertreibung. „Es ist aber nicht alles Hype“, sagte sie.

Es finde vielmehr auch eine „unglaubliche Wertschöpfung“ statt. „Die nächsten Börsenstars werden jetzt gerade geboren“, sagte die Unternehmerin. Große Chancen sieht sie dabei auch für Start-ups aus Deutschland.

Es hieße oft, Europa liefe bei Technologie nur hinterher. Das gilt aus Borcherts Sicht aber nur im Bereich von Endkundenanwendungen. „Bei Industrieanwendungen ist Europa sehr weit“, sagte sie. Künstliche Intelligenzen müssten jetzt auch mit Fachwissen trainiert werden, das nicht im Internet frei verfügbar ist. „Ich glaube, das kann europäischen Start-ups besser gelingen“, sagte sie. Industriekunden müssten viel Vertrauen aufbringen, dass ihre Daten bei den Anbietern von KI-Anwendungen sicher sind. Bei Angeboten aus der EU würden sie dieses Vertrauen schneller fassen.

Feiyu Xu: „Die Bundesregierung muss selbst KI-Kunde werden“

Diese Worte von Katharina Borchert zahlen genau auf die Geschäftsidee von Feiyu Xu ein. Die frühere KI-Chefin von SAP hat den Dax-Konzern verlassen, um mit ihrem Start-up Nyonic KI-Sprachmodelle für Unternehmen zu entwickeln. Nyonic plant aber keinen Chatbot für Endnutzer, wie OpenAI ihn mit ChatGPT veröffentlicht hat, sondern ein spezielles Angebot für Industriekunden.

Feiyu Xu

Ex-KI-Chefin von SAP und Gründerin von Nyonic.

(Foto: Max Brunnert für Handelsblatt)

„Der Bedarf ist sehr groß“, sagte Feiyu Xu. Manche Kunden bei SAP hätten sie zuletzt am liebsten fast wöchentlich getroffen, um sich zu informieren, was sie jetzt mit KI anstoßen sollten.

>> Lesen Sie hier: Künstliche Intelligenz – Das ist der Plan der ehemaligen KI-Chefin von SAP

Ihre Expertise ist aber nicht nur bei Unternehmen gefragt, sondern auch im Kanzleramt. Bundeskanzler Olaf Scholz hat Feiyu Xu bereits mehrfach getroffen, um sich bei ihr über die KI-Entwicklung zu informieren.

Beim Terrassengespräch wollte Handelsblatt-Chefredakteur Sebastian Matthes von ihr wissen, wie es um die Kompetenz des Kanzlers bei KI bestellt ist. Laut Xu verbessert sich dessen KI-Verständnis zunehmend. Mit Blick auf die Fragen, die er ihr in den vergangenen Monaten gestellt hat, sagte sie: „Zwischen März und Juni gab es schon einen Unterschied.“

Sie sagte aber auch, dass die Politik schnellstmöglich selbst Erfahrungen im Umgang mit Künstlicher Intelligenz sammeln müsse. „Die Bundesregierung muss selbst KI-Kunde werden“, sagte Feiyu Xu. Sie glaubt, dass die Regierung die KI-Entwicklung in Deutschland viel stärker unterstützen würde, wenn sie die neuen Systeme erst einmal selbst nutzen würde.

Hamidreza Hosseini: „Eine Arbeitszeitreduktion auf 15 bis 20 Stunden ist möglich“

Hamidreza Hosseini wagte schließlich die stärkste Prognose zu einer der größten Zukunftsfragen zu KI: „Ich gehe davon aus, dass wir in fünf bis sieben Jahren eine allgemeine KI haben werden.“ Diese werde auch akademische und wissenschaftliche Aufgaben übernehmen können und große Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung haben. Hosseini sieht das positiv: „Eine Arbeitszeitreduktion auf 15 bis 20 Stunden ist möglich“, sagte er. „Das ist eine Chance, unsere geistigen Kapazitäten für die wichtigsten Dinge einzusetzen.“

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