Angriff auf die freie Welt

Russlands Invasion und die Folgen für Europa

Die russische Armee ist in die Ukraine einmarschiert.


(Foto: Smetek)

Als Olaf Scholz am 15. Februar frühmorgens in die Regierungsmaschine nach Moskau stieg, hatte er ein Dokument in seinem Gepäck, das in dem dann folgenden fast vierstündigen Gespräch mit Wladimir Putin „eine große Rolle gespielt hat“ (Scholz).

Dass dieses Dokument eine Kriegserklärung enthielt, konnte der Bundeskanzler da noch nicht wissen. In dem 15 Seiten langen Pamphlet schrieb der russische Präsident bereits im Juli 2021 über die Ukraine als ein „Geschöpf der Sowjetära“ und sprach ihr die Existenzberechtigung als souveräner Staat ab. Scholz mokierte sich noch auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) über die Geschichtsstunde: „Putin hat sich als Historiker betätigt.“

Jetzt ist der Hobby-Historiker in die Rolle des Kriegsherrn geschlüpft. Seit dem frühen Donnerstagmorgen wird die Ukraine von mehreren Seiten gleichzeitig von russischen Truppen angegriffen.

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Artilleriegeschosse und Raketen flogen auf große Städte wie Kiew im Norden und Charkiw im Osten. Aus Belarus drangen russische Truppen von Norden her auf die ukrainische Hauptstadt Kiew vor. Im Süden wurde die Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer beschossen.

Militärexperten hatten das Szenario einer Invasion zuletzt genau so beschrieben: Die erste Angriffswelle würde voraussichtlich die Kommandozentralen der ukrainischen Armee zerstören, ihre Kommunikationsnetze lahmlegen. Dann würden die Bodentruppen vordringen und den desorientierten Gegner ausschalten. Zugleich wurden zahlreiche Websites ukrainischer Regierungsstellen durch Cyberattacken lahmgelegt.

Flucht

Eine junge Frau wartet auf den Zug, um Kiew zu verlassen.

(Foto: dpa)

Zuvor hatten die von Moskau unterstützten Separatisten im Donbass Putin um „militärische Hilfe“ gebeten. Russland hatte die ostukrainischen Provinzen Luhansk und Donezk als eigenständige Staaten anerkannt. All das dient allerdings nur der Propaganda, soll verschleiern, was sich da wirklich entfaltet: der größte Angriffskrieg in Europa seit Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941.

Die Wahrheit ist bekanntlich das erste Opfer des Kriegs. Der russische Präsident sprach von einer „Sonder-Militäroperation“ in der Ukraine. Er wolle die Ukraine nicht besetzen, sondern nur „demilitarisieren“. Putin forderte die ukrainische Armee auf, ihre Waffen niederzulegen, und drohte allen, die sich ihm und seinen Soldaten in den Weg stellten, „historisch beispiellose Konsequenzen“ an.

Bundeskanzler Scholz verurteilte die Kriegserklärung als „eklatanten Bruch des Völkerrechts“, US-Präsident Biden kündigte „harte Sanktionen“ an, und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte: „Die Weltgemeinschaft wird Russland diesen Tag der Schande nicht vergessen.“

Jeder dieser Politiker muss sich von Putin persönlich betrogen fühlen. Denn der hatte stets bestritten, dass der monatelange Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze einer Invasion diene – selbst als die US-Geheimdienste bereits fast auf den Tag genau das richtige Angriffsdatum vorhersagten.

Aus China hingegen kam keine Verurteilung des Einmarschs, sondern nur eine lauwarme Aufforderung an beide Seiten, zum friedlichen Dialog zurückzukehren – als hätte die Ukraine diesen Pfad jemals willentlich verlassen. Die beiden autokratischen Regime in Moskau und Peking halten im Zweifel zusammen, wenn es gegen den Westen geht.

Putins Großmachtfantasien

Die Ereignisse machen Putins Geschichtsaufsatz im Rückblick zu einem Schlüsseldokument dieses Kriegs. Die Truppen Putins sollen nach Informationen des US-Historikers Timothy Snyder sogar eine Kopie der Großmachtfantasien ihres Herrn im Gepäck haben. Putin beendet mit seinem Angriff die geopolitische Friedensordnung Europas nach dem Fall der Mauer 1989. Diesmal im ganz großen Stil nach dem Probelauf 2014, der mit der Annexion der Halbinsel Krim endete.

Der politische Trümmerhaufen, den er mit seinem Angriffskrieg auftürmt, ist enorm. Die mühsam aufgebaute Sicherheitsarchitektur Europas hat Putin vom Tisch gewischt: die Schlussakte von Helsinki 1975, in der die Unterzeichnerstaaten – auch Russland – zusichern, auf Gewalt zu verzichten und die nationalen Grenzen zu respektieren. Das Budapester Memorandum von 1994, in dem die Ukraine ihre Atomwaffen gegen die Garantie ihrer territorialen Integrität eintauschte. Auch da gehörte Russland zu den Unterzeichnern. Und auch das Minsker Abkommen, der letzte Versuch, den Frieden in der Ostukraine zu bewahren, wurde von Putins Armee zertrampelt.

Im Grunde geht es dem Kremlchef darum, die Niederlage wettzumachen, als die er den Zerfall der Sowjetunion 1991 empfunden hat. „Ich halte es für einen Irrtum zu glauben, dass es Russland um die Ukraine oder die Nato geht. Putin will seinen Großmachtanspruch in Europa wieder manifestieren“, sagt der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. „Er verhandelt mit den USA über Europa, aber nicht mit Europa“, so Gabriel. Die Opfer dieser Großmachtfantasien sind die Ukrainer.

Flüchten – aber wie?

Kurz nachdem in der Nacht auf Donnerstag die ersten Einschläge von russischen Bomben oder Marschflugkörpern die ukrainische Hauptstadt Kiew erschütterten, liefen schon die ersten Kiewer mit gepackten Koffern über die Straße, um gen Westen aufzubrechen.

Eine von ihnen ist Olga, die im Auto mit ihren beiden Kindern auf den Weg ins westukrainische Lwiw (Lemberg) ist. Olga ist Podcasterin, ihr Partner flog bereits am Tag zuvor nach London zu seiner Familie. Sie habe keine Illusion, dass die Zukunft für ihre Kinder „gefährlich“ sei, sagt Olga. Viele Ukrainer sehen sich bereits seit acht Jahren mit Russland im Krieg. Dass er aber so schnell die Hauptstadt erreicht, hatten viele in Kiew nicht erwartet.

So auch Katja und Mikhail nicht, sie Ukrainerin, er Russe. Die beiden sind erst im Januar mit ihren drei Kindern in ein Hochhaus in der Innenstadt gezogen, in die teuerste Immobilie von Kiew. „Wir haben lange dafür gespart“, sagt Katja. „Und bis vor drei Tagen haben wir auch gedacht, dass wir unser Leben hier verbringen.“

Wie Katja sind viele Ukrainer und Ukrainerinnen mit Russen verwandt oder verschwägert. Über den Krieg können sie und Mikhail in ihren Familien nicht sprechen, dafür ist das Thema zu aufgeladen. Mikhails Mutter ist eine Verfechterin Putins, Mikhail selbst fühlt sich mittlerweile mehr als „Ukrainer denn als Russe“. Und in der Stadt hat er nun Angst vor seinem eigenen Präsidenten und dessen Bomben: „Wenn wir die Stadt morgen verlassen müssten, wir könnten es nicht“, sagt Mikhail. „Allein die drei Kinder machen es schwierig, einfach wegzufahren.“

Die Ukrainer haben aus ihren Erfahrungen von 2014 viel gelernt. Julianne Smith, amerikanische Nato-Botschafterin

Die Regierung in der Ukraine hatte bereits am Mittwoch den Ausnahmezustand ausgerufen und Reservisten eingezogen. Präsident Wolodimir Selenski verhängte kurz danach das Kriegsrecht.

„Die Ukrainer haben aus ihren Erfahrungen von 2014 viel gelernt“, sagt die amerikanische Nato-Botschafterin Julianne Smith im Gespräch mit dem Handelsblatt. „Viele Nato-Partner, gerade auch wir Amerikaner, haben bei der Ausbildung der ukrainischen Armee geholfen und dabei, ihre Verteidigungsfähigkeiten zu verbessern.“ Doch militärisch, da sind sich praktisch alle Experten einig, sind die Ukrainer der russischen Übermacht nicht gewachsen, jedenfalls nicht bei einer direkten Konfrontation.

Putins Truppen marschieren jetzt in ein Land ein, dessen Bevölkerung im Dezember 1991 mit einer Mehrheit von 90 Prozent für die Unabhängigkeit von Russland gestimmt hatte. Doch jenseits von Waffenlieferungen wird es keinen direkten militärischen Beistand vom Westen für die Ukraine geben, das haben die Nato-Staaten frühzeitig klargestellt. Die Ukraine ist kein Nato-Mitglied und fällt damit nicht unter die Beistandsverpflichtung des Militärbündnisses.

Moskau feiert Putins Coup

In Moskau herrscht derweil Festtagsstimmung: Pawel und Jewgenia haben am Mittwoch eine kleine Familienfeier zum Geburtstag ihres Sohns Kristian ausgerichtet.

Weil der 23. Februar als „Tag des Vaterlandsverteidigers“ in Russland frei ist, ist die Runde groß. Die Ukraine wird zum Gesprächsthema, und ausnahmsweise sind sich alle einig, von der Großmutter über den Onkel bis hin zu Pawel, Jewgenia und ihrer Mutter.

Das, was Wladimir Putin da abgezogen hat, war richtig und nötig, so der Tenor. „Molodzy“ – „Prachtkerle“ –, sagt Pawel zur Entscheidung der russischen Führung, die Separatistengebilde „Donezker Volksrepublik“ (DVR) und „Luhansker Volksrepublik“ (LVR) anzuerkennen.

Seine Oma Lucia findet, dass das schon lange fällig war, „um die Menschen im Donbass zu schützen“, und Schwiegermutter Olga, die in der Ukraine geboren wurde, schimpft seit Jahren auf die Regierung in Kiew und schwärmt für Putin und die „Stabilität in Russland“. Die Invasion der Ukraine steht zu diesem Zeitpunkt allerdings noch bevor.

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Mit der Anerkennung der Separatisten kann Putin bei vielen Russen punkten. Die Mehrheit der Bevölkerung sympathisiert seit Langem mit den prorussischen Separatisten, während die Führung in Kiew auch durch die jahrelange Kremlpropaganda oft als „Militärjunta“, „Neonazis“ oder „Banderowzy“ (Anhänger des ukrainischen Nationalisten und Kriegsverbrechers Stepan Bandera) beschimpft wird. Unklar ist, ob die Mehrheit der Russen auch den jetzt begonnenen Bruderkrieg gegen die Ukraine unterstützt. Offizielle Umfragen dazu gibt es nicht.

Wie paranoid ist der Präsident?

Dass es auf einen Krieg gegen die Ukraine hinauslaufen würde, war spätestens nach Putins Wutrede gegen den Westen am Montagabend klar. „Putin hat gerade Kafka und Orwell in den Schatten gestellt“, twitterte die litauische Premierministerin Ingrida Simonyte nach der TV-Ansprache des Kremlchefs. Was die Welt erlebt habe, möge der demokratischen Welt surreal erscheinen, so die Litauerin. „Aber die Art und Weise, wie wir darauf reagieren, wird uns für die kommenden Generationen prägen.“

Putin sieht die Welt mit den Augen eines gekränkten Geheimdienst-Offiziers. Miriam Kosmehl, Russland-Kennerin, über den ehemaligen KGB-Spion

Ein ranghoher Berater des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sagte nach der Rede Putins, dass der inzwischen 69-jährige russische Präsident zunehmend „paranoid“ wirke. Macron habe die Veränderung bemerkt, als er den Russen vor knapp drei Wochen für Krisengespräche in Moskau getroffen habe. „Der Putin, den er im Kreml gesehen hat, war nicht mehr derselbe, den er davor zuletzt 2019 getroffen hatte“, so der Macron-Berater.

„Putin sieht die Welt mit den Augen eines gekränkten Geheimdienstoffiziers“, sagt Miriam Kosmehl, langjährige Russlandexpertin bei der Bertelsmann Stiftung, über den ehemaligen KGB-Spion. Putin musste mit geballten Fäusten zuschauen, wie die Nato auf ihrem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest erklärte, dass die Ukraine und Georgien Mitglieder des westlichen Verteidigungsbündnisses werden könnten. Und er musste zähneknirschend hinnehmen, als der frühere US-Präsident Barack Obama Russland 2014 zu einer „regionalen Macht“ kleinredete, die ihre Nachbarn nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche bedrohe.

Bis heute fühlt sich Putin von der Nato betrogen. Nach russischer Lesart habe es bei der deutschen Wiedervereinigung mündliche Zusicherungen von westlichen Politikern gegeben, dass sich das westliche Verteidigungsbündnis nicht in die ehemaligen Sowjetrepubliken ausbreiten werde. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass solche unverbindlichen Aussagen gefallen sind. In den völkerrechtlich verbindlichen Verträgen findet sich eine solche Garantie allerdings nicht. Ohnehin dürften solche Versprechen gegenüber der Sowjetunion mit deren Zerfall hinfällig gewesen sein.

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Allerdings hielt auch der 2005 verstorbene George F. Kennan, Vater der Abschreckungsideologie gegenüber der Sowjetunion, die Nato-Erweiterung nach Osten für einen schweren Fehler. „Ich glaube, dass dies der Beginn eines neuen Kalten Kriegs ist“, sagte der ehemalige US-Diplomat 1998 der „New York Times“. Eine Antwort auf die Frage, ob und wie man Ländern wie Polen oder den baltischen Staaten das Selbstbestimmungsrecht über ihre Bündniszugehörigkeit hätte verweigern können, hatte der Diplomat nicht.

„Die westliche Staatengemeinschaft hat gegenwärtig einen so geringen Verhandlungsspielraum, weil Putin mit der Forderung, eine freie Bündniswahl der Ukraine ein für alle Male auszuschließen, die Grundlagen der internationalen Politik angreift“, sagt der Münchener Historiker Martin Schulze Wessel.

Diese Prinzipien seien zum Bespiel „in der Charta von Paris 1990 auch mit Zustimmung des Kremls festgelegt worden“. „Wenn der Westen davon abrücken würde, würde er einen Präzedenzfall schaffen, den Putin gegenüber anderen Staaten anwenden könnte – im Baltikum, in Südosteuropa, aber auch in Zentralasien.“

Militärgroßmacht Russland

Für den Kremlchef ist Russland bis heute eine natürliche Weltmacht. Der ständige Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und das damit verbundene Vetorecht unterstreichen die geopolitische Bedeutung Russlands. Bis heute verfügt kein anderes Land außer den USA über eine so starke Militärstreitmacht wie Putins Russland: mehr als eine Million Soldaten, Tausende von Nuklearwaffen, neue Raketen, die Nuklearsprengköpfe 20-mal schneller als der Schall ins Ziel transportieren können.

Für die Research-Plattform Globalfirepower.com war Russland auch 2020 die zweitmächtigste Militärmacht auf dem Globus. Und Putin hat mit seiner militärischen Intervention in Georgien 2008 und in Syrien 2015 bewiesen, dass er nicht nur über den Instinkt, sondern auch über die militärischen Mittel verfügt, um ein Machtvakuum entschlossen zu füllen.

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Den Zeitpunkt für eine Revanche sah Putin spätestens 2016 gekommen, als Donald Trump ins Weiße Haus einzog, die USA in eine politische Zerreißprobe steuerte und den Westen spaltete. „Die liberale Idee ist überholt. Sie ist mit den Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung in Konflikt geraten“, sagte Putin in einem Interview mit der britischen „Financial Times“ 2019. Er ließ keinen Zweifel, dass er das für eine gute Nachricht hielt. Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist auch einer um Werte und Weltanschauungen.

„Der russische Präsident und seine Führung sehen, dass die alte Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkriegs mit etwas Verspätung zu Ende geht. Und mit ihr die ‚Pax Americana‘“, sagt Ex-SPD-Chef Gabriel. Das sehe Putin als große Chance, sein Land wieder als Großmacht zu etablieren.

Der russische Autokrat wäre nicht der erste Alleinherrscher, der den Lauf der Geschichte grundlegend verändern könnte. Die Metapher von der „Rückkehr der Geschichte“ ist inzwischen zwar genauso häufig bemüht worden wie ihr vorzeitig verkündetes Ende nach dem Mauerfall. Diesmal handelt es sich jedoch nicht nur um eine Stippvisite der längst überwunden geglaubten Machtpolitik aus dem 19. Jahrhundert. Nationalismus und Imperialismus sind zurückgekommen, um zu bleiben – und könnten das 21. Jahrhundert prägen.

Zerstörung

Eine Frau läuft nach russischem Beschuss durch Trümmer in Mariupol.


(Foto: AP)

„Der russische Präsident handelt nicht mehr rational“, sagt Russlandkennerin Kosmehl und weist darauf hin, dass sich der Kremlchef selbst innerhalb seines engsten Führungszirkels immer stärker isoliert habe. Wer aufmerksam die Sitzung des russischen Sicherheitsrats verfolgte, konnte die ungewöhnliche Nervosität Putins bemerken, der unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, zwischendurch die Hände rang und auf den Lippen kaute.

Der Kremlchef war sich bewusst, dass er mit dieser Entscheidung den endgültigen Bruch mit dem Westen riskierte. Umso aggressiver forderte er von seiner Führungsclique bedingungslose Unterstützung und kanzelte vor den Augen der Weltöffentlichkeit den völlig verunsicherten Chef des Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin ab, der wohl am liebsten Verhandlungen vorgeschlagen hätte. Putins Großmachtfantasien haben Methode – und deshalb dramatische Folgen für Sicherheit und Wohlstand in Europa.

Tanker statt Pipeline

Auf dem Trümmerhaufen der Geschichte liegt auch Nord Stream 2. Russlands Anerkennung der beiden abtrünnigen Provinzen der Ukraine als unabhängige Staaten habe die Lage „grundlegend verändert“, sagte Bundeskanzler Scholz nach Putins Drohrede und legte die umstrittene Ostseepipeline auf Eis. Überraschend kommt das vorläufige Aus für das umstrittene Milliardenprojekt nicht, und doch löst der Stopp eine hektische Suche nach alternativen Gaslieferanten aus. Zumal niemand weiß, ob Putin den Gashahn für Deutschland und Europa jetzt ganz zudreht. Über die Hälfte des russischen Erdgases kommt bislang aus Russland.

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„Wir erleben eine tiefe Zäsur. Sie wird den Energiesektor, die deutsche Wirtschaft, auch die Wehrhaftigkeit der Bundeswehr, das transatlantische Verhältnis noch einmal völlig neu ausrichten“, sagt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Wenn es nach Habeck geht, sollten hierzulande möglichst rasch zwei Terminals für verflüssigtes Gas (LNG) gebaut werden, um die Abhängigkeit von russischem Pipelinegas zu verringern.

Bislang gibt es in Deutschland kein solches Terminal, über das man LNG per Tankschiff einführen könnte. Im Moment existieren in Deutschland zwei Projekte für LNG-Terminals, eines im schleswig-holsteinischen Brunsbüttel, das andere im niedersächsischen Stade.

Beide Vorhaben seien aber „bisher nicht privat finanzierbar“, sagte Habeck und kündigte an: „Dieser Frage werden wir uns jetzt energisch zuwenden.“ Doch damit ist der Bau von LNG-Terminals in Deutschland keinesfalls beschlossene Sache. Zum einen gibt es massive Widerstände von Klimaschutzorganisationen – und auch von Grünenpolitikern. Zum anderen hat Habeck bislang keine Idee, wie die Projekte finanziell attraktiv genug für Investoren gemacht werden könnten.

Europas Sanktionen

Deutschland und Europa weniger abhängig von russischem Erdgas zu machen ist jedoch nur eine Voraussetzung für die „europäische Souveränität“, die viele Politiker des Kontinents seit Jahren gern reklamieren und die Macron zum Leitmotiv der französischen EU-Präsidentschaft erklärt hat. „Wir brauchen ein strategisches Erwachen der Europäer“, sagte ein Macron-Berater.

Bislang ist Europas Reaktion auf Putins Aggression mehr Symbol- als Machtpolitik. Zwar erstrahlte am Abend vor dem Kriegsausbruch im Herzen Berlins das Brandenburger Tor in den Landesfarben der Ukraine – Blau und Gelb. Wir stehen an eurer Seite, soll das heißen. Aber nur symbolisch, versteht sich.

Der Versuch des Westens, Putin mit Wirtschaftssanktionen von einem Krieg abzuschrecken, ist offensichtlich gescheitert. Der Kreml hat die wirtschaftlichen Strafen eingepreist, vom Angriff haben sie ihn nicht abgehalten. Von nun an dienen die Sanktionen der EU und der USA nicht mehr primär der Abschreckung, sondern der Verteidigung der eigenen Glaubwürdigkeit.

Die EU wird nun gemeinsam mit den USA und Großbritannien alle vorbereiteten Sanktionen verhängen müssen. Das bedeutet: keine Hightech-Komponenten mehr für die russische Industrie. Und vor allem bedeutet es: kein ausländisches Kapital mehr für russische Banken. Nicht nur für einige ausgewählte, sondern auch für die größten Kreditinstitute des Landes wie die Sberbank und VTB. „Wir werden Russlands ökonomische Basis schwächen“, kündigte Kommissionschefin Ursula von der Leyen an.

Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat auch ein Wirtschaftskrieg begonnen. Die Russen haben sich vorbereitet, die Zentralbank hat Währungsreserven in Höhe von mehr als 630 Milliarden Doller angehäuft. „In der kurzen Frist kann das Regime einiges weckstecken“, sagt Guntram Wolff, Leiter der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Und die Russen haben die Möglichkeit zurückzuschlagen, nicht nur mit einem Stopp der Erdgaslieferungen.

Flucht

Menschen umarmen sich, während sie auf einen Zug nach Kiew in Kostiantynivka in der Region Donezk in der Ostukraine warten.

(Foto: dpa)

Ein am Mittwoch veröffentlichter Bericht der EU-Kommission zeigt auf, dass die europäische Industrie auch bei den Chemikalien Jod, Fluor, roter Phosphor, Lithiumoxid und -hydroxid von russischen Lieferanten abhängig ist. Die Börsen reagierten dementsprechend auf den russischen Einmarsch mit deutlichen Kursstürzen.

Die größte Schwachstelle Europas ist aber nicht die Wirtschaft, so sehen es jedenfalls die Spitzen der EU. Noch anfälliger ist Europa bei einem Informationskrieg. Die EU-Länder haben bisher keine wirksamen Maßnahmen gegen russische Propaganda gefunden, die geschickt die innere Spaltung der westlichen Demokratien ausnutzt.

Es gibt in vielen europäischen Ländern Politiker, die offen mit Putin sympathisieren und sich nun aktivieren lassen. In Deutschland kommen sie aus den Reihen von AfD und Linkspartei, in Frankreich aus dem Lager der Rechtspopulistin Marine Le Pen. Der frühere italienische Vizepremier Matteo Salvini ließ sich noch 2015, ein Jahr nach der russischen Annexion der Krim, mit einem Putin-T-Shirt fotografieren.

Noch labiler erscheinen die USA. Der frühere Präsident Donald Trump schimpft nicht über Putin, sondern über Biden. Putin wittere „die Schwäche, die Inkompetenz und die Dummheit“ an der Staatsspitze der USA, polterte Trump auf Fox News, dem politisch rechts stehenden Nachrichtenkanal. Der Trump-hörige nationalistische Flügel der oppositionellen Republikaner wächst und mit ihm das Misstrauen vieler Wähler gegen die Regierung Biden. 

Schutz

Menschen suchen in einer in einer U-Bahnstation in Kiew Zuflucht.

(Foto: Reuters)

Die bemerkenswerte Einigkeit, die Amerikaner und Europäer in dieser Krise bislang gezeigt haben, könnte sich damit als Momentaufnahme erweisen. Biden, der überzeugte Transatlantiker, ist womöglich der Letzte seiner Art im Oval Office. Innenpolitisch nützt ihm der klare Kurs gegen Russland wenig. Die hohe Inflation beschäftigt die Bürger mehr als der Krieg im weit entfernten Europa.

„Niemand weiß, wie der nächste US-Präsident über Europa, die Nato und das transatlantische Verhältnis denkt. Ich bin mir absolut sicher: Donald Trump hätte uns Europäer ohne mit der Wimper zu zucken an Russland „verkauft“, sagt Ex-Außenminister Gabriel. Je näher die nächsten Wahlen in den USA kämen, desto vorsichtiger werde auch Bidens Außenpolitik werden.

Keine Alternative zur Aufrüstung

Für die Europäer bedeutet das, sich von der Gewissheit verabschieden zu müssen, dass andere für ihre Sicherheit sorgen. Gerade Deutschland war bisher zögerlich. Kaum ein anderes Land hat eine derart pazifistische Kultur entwickelt. Vieles wird sich nun ändern. Das Heer stehe „mehr oder weniger blank da“, schreibt Heeresinspekteur Alfons Mais im sozialen Netzwerk LinkedIn. „Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert.“

Glaubwürdig wird Europa in den Augen der Großmächte nur, wenn es auch für seine eigene Sicherheit sorgen kann. In der Ampelkoalition in Berlin ist man sich einig, dass die Verteidigungsausgaben in den kommenden Jahren steigen müssen.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hat bereits Ansprüche angemeldet. „Wir werden kontinuierlich diese Verteidigungsausgaben auch erhöhen“, sagte sie kürzlich. Und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) stimmte ihr zu. „Wir müssen die Bundeswehr so ausstatten, dass sie ihrem Auftrag gerecht werden kann“, sagte er. Eine Summe wollte er nicht nennen: „Das warten wir ab.“ Im bisherigen Etatentwurf, der noch aus dem vergangenen Sommer stammt, als Scholz Finanzminister war, sind für das Verteidigungsministerium 50,3 Milliarden Euro vorgesehen. 

Doch in der mittelfristigen Finanzplanung aus dem Sommer 2021 sind für die kommenden Jahre sinkende Verteidigungsausgaben vorgesehen. Nach den 50,3 Milliarden Euro in diesem Jahr soll das Ressort von Lambrecht im kommenden Jahr 47,3 Milliarden Euro bekommen, 2024 dann 47,1 Milliarden und 2025 nur noch 46,7 Milliarden.

50,3

Milliarden Euro

an Verteidigungsausgaben sind für dieses Jahr geplant. 2025 sollen es nur noch 46,7 Milliarden sein. Quelle: mittelfristige Finanzplanung

In der Bundesregierung rechnet man damit, dass der Druck der Nato-Partner nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine steigt, die Verteidigungsausgaben wie zugesagt zu erhöhen. Als Ziel für diese sogenannte Nato-Quote waren mal zwei Prozent der Wirtschaftsleistung vorgesehen. Tatsächlich würde die Quote in diesem Jahr bei den geplanten 50 Milliarden Euro Verteidigungsausgaben rund 1,5 Prozent betragen. In der bisher gültigen mittelfristigen Finanzplanung sinkt sie dann kontinuierlich auf 1,27 Prozent im Jahr 2025.

Eine Erhöhung dieser Quoten um 0,1 Prozentpunkte koste jährlich rund vier Milliarden Euro, heißt es in einem Vermerk des Bundesfinanzministeriums. Die Erfüllung des Ziels von zwei Prozent würde also zusätzliche Kosten von rund 20 Milliarden Euro jährlich bedeuten. Das hielt man in der Ampelkoalition bislang für unrealistisch, auch wenn SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag versprechen, sie wollten, dass Deutschland „seine in der Nato eingegangenen Verpflichtungen erfüllt“.

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Der Krieg in der Ukraine ändert jedoch nach den Worten von Vizekanzler Habeck alles – auch die deutsche Finanzpolitik.

Aber all das wird dauern, Jahre vermutlich. Zeit, die Europa angesichts der neuen Bedrohungslage nicht hat. Vorerst wird allein die Nato Russland in Schach halten können. Im westlichen Militärbündnis werden bereits neue Truppenverlagerungen an die Ostflanke diskutiert. Die US-Regierung stellt die Nato-Grundakte mit Moskau offen infrage, die dauerhafte Stationierungen von Nato-Truppen auf dem Gebiet des früheren Warschauer Pakts untersagt. 

Mehr zum Ukraine-Krieg:

„Angesichts der aktuellen Lage müssen wir uns fragen, ob wir uns weiter an einen Vertrag halten sollen, den die Russen brechen“, sagte Amerikas Nato-Botschafterin Smith dem Handelsblatt, bevor die ersten russischen Bomben auf Kiew fielen. Schon bald könnten sich damit Nato-Einheiten und russische Kampfverbände wieder direkt gegenüberstehen. Wie im Kalten Krieg. 

Derjenige, der einst mit dem Ende des Kalten Kriegs auch das „Ende der Geschichte“ voraussagte, war am Donnerstagmorgen übrigens genauso geschockt und sprachlos wie der Rest der Welt: „Ich weiß nicht, was ich all meinen ukrainischen Freunden sagen soll“, twitterte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama.

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