Wintershall-Dea-Chef im Interview: „Gefahren von Putin unterschätzt”

Kassel Mario Mehren steht wie kaum ein zweiter Manager beim Thema Russland unter Rechtfertigungsdruck. Der Chef von Deutschlands größtem Öl- und Gasförderer Wintershall Dea hat jahrelang enge persönliche und unternehmerische Beziehungen zu dem Land aufgebaut, das seit Februar einen Angriffskrieg in der Ukraine führt.

Jetzt kommt ihn das teuer zu stehen. Wintershall Dea war finanziell an beiden Nord-Stream-Pipelines beteiligt und musste mehr als eine Milliarde Euro abschreiben. Vor allem aber fördert das Unternehmen gemeinsam mit Gazprom in Sibirien Öl und Gas – bis heute. Erst kürzlich wurde in Medienberichten der Vorwurf laut, Gaskondensat von Wintershall Dea gehe auch ans russische Militär.

Der Druck auf den Wintershall-Chef, einen Schlussstrich unter das Russlandgeschäft zu ziehen, ist enorm. Doch eine klare Rückzugserklärung gibt es von Mehren nicht. Im Interview erklärt er die Gründe dafür – und welche Rolle die Bundesregierung und der Wintershall-Mehrheitseigner BASF bei den Entscheidungen spielen.

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Herr Mehren, Wintershall Dea ist wie kein zweites deutsches Unternehmen in der russischen Gaswirtschaft engagiert. Sie haben seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine am 24. Februar bis heute jede Interviewanfrage abgeblockt. Warum haben Sie sich nicht früher getraut, Stellung zu beziehen?
Dieser Krieg ist eine Zäsur nicht nur in den russisch-europäischen Beziehungen, sondern auch für Wintershall Dea und mich persönlich. Wir als Unternehmen und ich haben schon am 24. Februar mit einem ausführlichen Statement Stellung bezogen. Ich habe deutlich gesagt, dass ich diesen Krieg verdamme. Dieser Krieg ist eine Zeitenwende.

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Wintershall Dea hat die engen Verbindungen mit Russland gepflegt und immer weiter vertieft. Sie haben neue Gasfelder in Sibirien erschlossen, erst Nord Stream 1, dann Nord Stream 2 mitfinanziert. Wie können Sie das heute rechtfertigen?
Wir haben die Chancen ergriffen, die wir ergreifen konnten, und haben einen großen Beitrag dazu geleistet, dass die deutsche Industrie und Gesellschaft viele Jahre lang prosperieren konnte. Als Gas- und Ölförderer ist es unsere Aufgabe, nach Quellen zu suchen, um kostengünstig Gas für den europäischen Markt zur Verfügung zu stellen. Gerade in Deutschland gab es einen großen Bedarf am Import von Gas, weil Deutschland politisch gewollt sowohl aus der Kernenergie als auch aus der Kohleverstromung aussteigt und eigene Schiefergasvorkommen auch nicht erschließen will. Wir haben geholfen, diese Versorgungslücken zu schließen.

Jetzt haben wir aber erst recht eine Lücke. Es zeigt sich, wie fatal unsere Abhängigkeit ist. Wir bekommen gar kein Gas mehr aus Russland. Haben Sie mit Blick auf diese Misere keine Schuldgefühle?
Rückblickend muss man natürlich sagen, dass wir und ich spätestens 2014/ 2015, nach der Annexion der Krim, nicht verstanden haben, wie gefährlich Russland und Putin sind. Ich habe einen Angriffskrieg mitten in Europa auch nach der Annexion der Krim nicht im Geringsten für möglich gehalten. Aus heutiger Sicht war das ein Fehler. Wir haben die Gefahren von Putins Russland stark unterschätzt.

2015 haben Sie sogar noch ein großes Tauschgeschäft mit Gazprom gemacht, neue Felder erworben und den Russen im Gegenzug Ihre deutschen Gasspeicher überlassen.
2015 haben wir gemeinsam in einem breiten Konsens mit der Politik entschieden, dass Deutschland weiter auf Energieimporte aus Russland setzt. Wir hatten für unsere Aktivitäten in Russland ganz allgemein die Unterstützung der Bundesregierung bekommen.

Gasförderung von Wintershall Dea und Gazprom in Novy Urengoi in Sibirien

Kaum ein deutsches Unternehmen hat sich so eng an Russland und Gazprom gebunden wie Wintershall Dea.

(Foto: dpa)

Wir bitten Sie – das Tauschgeschäft war doch keine Entscheidung des Bundes.
Natürlich war das unsere unternehmerische Entscheidung. Aber wir haben sie mit ausdrücklicher Genehmigung des Bundes umgesetzt. Außerdem waren diese Gasspeicher, über die jetzt alle reden, 2014/ 2015 praktisch nichts wert. Wir mussten Gazprom zu der Zeit diese Gasspeicher quasi aufdrängen, weil auch sie da kein Geschäftsmodell gesehen haben.

Aber jetzt sehen wir, wie wichtig sie sind. Und Sie haben die Speicher Gazprom überlassen.
Wenn die Gasspeicher aus strategischen Gründen gefüllt werden sollen, ist das ja völlig unabhängig von der Frage möglich, wem die Gasspeicher gehören. Das kann man regeln, indem man entweder eine Not-Gasreserve schafft oder indem man, wie jetzt geschehen, Mindestfüllstände für die Gasspeicher setzt.

Noch vor einem Jahr haben Sie Nord Stream 2 verteidigt – immer mit dem Argument, dass die russische Seite ein größeres Interesse an der Geschäftsbeziehung hat. Und plötzlich wurden die Lieferungen eingestellt. Sie sind der Fachmann, Sie haben die Verbindungen nach Russland. Hätten Sie die Politik nicht besser beraten müssen?
Es ist richtig, ich habe geglaubt, dass wir auf unsere bisherigen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Russland bauen können. Dass das, was bisher als Paradebeispiel guter wirtschaftlicher Partnerschaft galt, auch weiter Bestand haben wird. Doch heute weiß ich: Dem ist nicht so. Dennoch, es wäre vermessen von mir zu erwarten, dass wir besser als die Politik hätten sehen können, dass da ein Angriffskrieg auf uns zukommt.

„Putin hat seinem wichtigsten Exportgut einen irreparablen Schaden zugefügt“

Aber welche Folgen die Abhängigkeit von einer Gasquelle hat, hätten Sie schon erkennen können.
Nord Stream 2 sollte ja nur eine neue Transportroute schaffen. Wo die Kunden Gas kaufen und von wem, entscheiden sie selbst. Und es stimmte ja auch: Russland hat mehr als 50 Jahre lang sehr zuverlässig Gas nach Europa geliefert. Jetzt hat Putin dem Produkt Gas, seinem wichtigsten Exportgut, einen irreparablen Schaden zugefügt.

Es gab aber auch schon immer Stimmen, die genau davor warnten.
Das stimmt. Und all diese Stimmen dürfen sich jetzt leider bestätigt fühlen. Wir sind davon ausgegangen, dass wir hier eine gegenseitige Abhängigkeit haben, die ein solches Verhalten verhindert.

Offenbar ist Russland nicht so sehr von den Einnahmen aus dem Gasgeschäft abhängig, wie wir dachten.
Ich glaube der russischen Propaganda nicht. Man muss ganz klar sagen: Die russische Wirtschaft und das Volk leiden immens unter den Konsequenzen dieses Krieges und unter den Sanktionen, unter dem Wegfall von Einnahmen, unter der Flucht von vielen klugen Menschen, die nicht mehr in Russland arbeiten wollen.

Wie läuft denn die Zusammenarbeit mit Ihren Geschäftspartnern? Sagen Sie denen Ihre Meinung zum Krieg?
Im Grunde gibt es gar keine persönliche Kommunikation mehr. Ich war das letzte Mal Anfang Dezember 2021 in Russland, zu Verhandlungen mit Gazprom in Moskau. Nach Ausbruch des Krieges hat es in den ersten Wochen und Monaten noch das ein oder andere Telefonat gegeben, aber das waren schon  keine offenen Telefonate mehr. Das lief dann wie nach einem Drehbuch ab.

Ich habe zu Menschen, zu denen ich 16 Jahre lang eine enge, persönliche Verbindung aufgebaut hatte, keinen Kontakt mehr.

Sie haben lange in Moskau gearbeitet, haben das Russlandgeschäft geleitet. Wie sehr trifft Sie der Konflikt persönlich?
Für mich ist am 24. Februar mehr als eine Welt zusammengestürzt. Ich habe mich die letzten 16 Jahre meines Berufslebens dafür eingesetzt, Brücken zwischen Deutschland und Russland und eine Energiepartnerschaft aufzubauen. Ich habe mich für Städtekooperationen eingesetzt, für Schüleraustausche, für kulturellen Austausch, weil ich der festen Überzeugung bin, dass man, wenn man miteinander redet, Konflikte vermeiden und lösen kann.

„Wintershall Dea und unsere Joint Ventures beliefern das russische Militär nicht“

Trotz der schlimmen Lage ist Wintershall Dea immer noch in Russland – und steht heftig in der Kritik. Kürzlich haben ZDF und „Spiegel“ Ihnen vorgeworfen, dass Sie das russische Militär indirekt unterstützen, weil Gaskondensat ans Militär geliefert wird. Das ist ein harter Vorwurf.
Er stimmt aber nicht. Wintershall Dea und unsere Joint Ventures beliefern das russische Militär nicht. Und die Verbindung, die „Spiegel“ und ZDF da insinuieren, zwischen unserer Kondensatproduktion in Westsibirien und dem schrecklichen Tod von Menschen in der Ukraine, die halte ich nicht nur für konstruiert, sondern für mehr als unredlich. Bei allem Verständnis für journalistische Arbeit, die eine wichtige Funktion in unserer Demokratie erfüllt und die sich natürlich kritisch mit dem Krieg auseinandersetzen muss.

Warum liefern Sie sich solcher Kritik überhaupt aus? Beenden Sie doch einfach Ihr Russlandgeschäft.
Wir sind aus verschiedenen Gründen noch in Russland. Zunächst einmal ging es – auch in Abstimmung mit der Bundesregierung – nach dem Ausbruch des Krieges darum, nichts zu unternehmen, was der russischen Seite Gründe liefern könnte, die Gaslieferungen nach Deutschland einzustellen.

Das Argument ist jetzt weg.
Ja. Aber die einzige Möglichkeit, uns aus Russland zurückzuziehen, wäre es, dem russischen Staat unsere Aktivitäten zu schenken. Das halten wir genauso wenig für zielführend. Wir haben über Jahre hinweg gemeinsam mit unseren Aktionären Vermögenswerte in Russland aufgebaut.

Wie viel sind die wert?
Das sind Milliardenwerte. Wir haben zwei Milliarden Euro an liquiden Mitteln dort liegen. In unseren Büchern stehen unsere Assets mit rund 2,5 Milliarden Euro. Wir haben eine treuhänderische Pflicht für das Vermögen unserer Aktionäre. Wir können unsere russischen Aktivitäten nicht einfach wegwerfen.

Irgendwann wird dieser Krieg ja hoffentlich zu einem Ende kommen. Hoffen Sie insgeheim auf einen Neuanfang in Russland?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Russland so wie Nordkorea über Jahrzehnte von der Weltgemeinschaft ausgeschlossen bleiben wird. Aber ob die Situation noch fünf Jahre, zehn oder länger andauert, wage ich nicht zu beurteilen. Leider sehe ich nicht, dass der Krieg zu einem schnellen Ende kommt.

Fest steht: Wintershall Dea wird unter einem Präsidenten Putin nicht zu den alten Geschäftsbeziehungen zurückkehren. Die sind längst zerstört. Seit Februar haben wir keine Dividenden aus dem Land mehr herausbekommen. Seit August gibt es ein Dekret des Präsidenten, dass wir unsere Aktivitäten nur mit Genehmigung durch Putin selbst verkaufen dürfen. Und aufgrund eines weiteren Dekrets des Präsidenten aus September gibt es bei einem Joint Venture einen Eingriff in unsere Verträge. Der Wert des Joint Ventures wurde quasi für die Geltungsdauer des Dekrets auf null gesetzt.

Planen Sie, dafür Entschädigungen einzufordern?
Wir prüfen in jedem einzelnen unserer Geschäftsverhältnisse mit Gazprom, ob und inwieweit wir da Ansprüche geltend machen können, selbstverständlich.

Am besten wäre es für Wintershall Dea, wenn der russische Staat Sie enteignet. Dann bekommen Sie den Ausfall über die Bundesgarantien vom Bund bezahlt, oder? Dann sind Sie den schlechten Ruf los und werden sogar noch finanziell entschädigt.
Ich würde und werde so eine Strategie nie verfolgen. Was wir jetzt ganz konkret tun: Wir prüfen, wie wir das internationale Geschäft, das wir haben, vom russischen Geschäft rechtlich trennen. Wenn die Prüfung abgeschlossen ist, werden wir gemeinsam mit unseren Aktionären überlegen, welche weiteren Schritte wir gehen können.

Börsengang ist für Wintershall aktuell kein Thema

Entscheidet letztlich Ihr Mehrheitsaktionär BASF, ob Sie aus Russland rausgehen?
BASF wird als Hauptaktionär wesentlicher Teil jeglicher Entscheidungsfindung über die Zukunft unseres Russlandgeschäfts sein.

Der Krieg in der Ukraine hat Ihre Börsenpläne durchkreuzt. Ist ein Börsengang überhaupt denkbar, solange Wintershall Dea in Russland ist?
Börsengänge, das sieht man ja dieser Tage, sind grundsätzlich immer möglich und eine Frage des Preises. Letztlich müssen das die Aktionäre entscheiden. Wir müssen aber vieles erst einmal klären. Ich sehe einen Börsengang nicht heute und in den nächsten sechs Monaten und nicht in der gegenwärtigen Struktur.

Und wenn Sie dann irgendwann doch an die Börse gehen: Welche Geschichte werden Sie Investoren erzählen? Warum hat eine Wintershall Dea, der das Russlandgeschäft weggebrochen ist, eine Zukunft?
Die globale Nachfrage nach Öl und Gas ist ungebrochen, ob uns das gefällt oder nicht. Gleichzeitig wollen wir die Klimaziele unterstützen. Wir setzen auf Technologien wie CCS und setzen uns mit Wasserstoff auseinander. Da haben wir eine gute Pipeline an Projekten. Die sind relevant, und damit werden wir auch erfolgreich sein.

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Sie sagten, Deutschland kann längerfristig nicht mit russischem Gas planen. Kann Gas dann überhaupt noch eine tragende Rolle als Brückentechnologie bei der Energiewende spielen?
Ich bin davon überzeugt, dass Gas auch weiterhin europäisch wie global eine wichtige Rolle für die Energiewende spielen wird. Allerdings haben der russische Angriffskrieg und das anschließende Verhalten Russlands in der Tat dazu geführt, dass weltweit wieder mehr Kohle und Öl verbrannt werden, was schädliche Auswirkungen auf das Klima hat.

Ist der Winter 2022/2023 denn wenigstens gesichert?
Dank der milden Temperaturen im Oktober und November musste Deutschland bis jetzt nicht nennenswert Gas aus den Speichern entnehmen. Wenn es jetzt nicht noch extrem kalt wird und Unternehmen und Haushalte in Europa den Aufforderungen nachkommen, sparsam zu sein, dann können wir sicher durch diesen Winter kommen.

Was ist mit dem darauffolgenden Jahr?
Das Gas, das Russland Europa bislang zur Verfügung gestellt hat, lässt sich nicht einfach ersetzen. Das wird vor allem im Winter 2023/2024 zum Problem. In diesem Jahr hat Europa bis Juli noch 75 Milliarden Kubikmeter Gas bekommen. Das ist ungefähr die Hälfte dessen, was Europa aus Russland vor dem Krieg importiert hat. Diese 75 Milliarden Kubikmeter werden Europa im kommenden Jahr möglicherweise nicht zur Verfügung stehen.

Hinzu kommt, dass unsere Speicher dann relativ leer sind. Teure Preise und Gassparen führen zu geringerer Industrieaktivität. Das Thema muss uns im Hinblick auf eine mögliche Deindustrialisierung Deutschlands und auf die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes Sorgen machen.

Herr Mehren, vielen Dank für das Interview.

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