Wie Journalismus sich im Mobile-Alter neu erfindet

Morning-Briefing-Autor Hans-Jürgen Jakobs


(Foto: Getty Images, AP Photo [M])

Bei Aufenthalten in Wiesbaden, meiner Heimatstadt, gehe ich ab und an zum „Tagblatt-Haus“, gleich neben der Marktkirche. Hier begann vor 40 Jahren das Abenteuer Journalismus, als freier Mitarbeiter in der Sportredaktion des „Wiesbadener Tageblatts“.

Man hackte die Texte mittels einer mechanischen Schreibmaschine auf gelbe Manuskriptblätter, die eine Botin irgendwann zur 300 Meter entfernten Setzerei und Druckerei brachte. Wurde ein beschriebenes Blatt vergessen, segelte es schon mal hinunter vom zweiten Stock auf den Asphalt, zur schon davongeeilten Transporteurin der gesammelten Kreativität eines Nachmittags.

Das „Wiesbadener Tagblatt“ existiert nicht mehr. Es ist in der Verlagsgruppe Rhein Main im „Wiesbadener Kurier“ aufgegangen, dessen überregionale Berichterstattung wiederum die „Mainzer Allgemeine Zeitung“ übernommen hat. Wiesbaden war die erste deutsche Landeshauptstadt ohne örtliche „Vollredaktion“.

Heute reißt niemand mehr einem Zeitungsverkäufer das druckfrische Exemplar aus der Hand. Die dort vorhandenen Informationen, Nachrichten und Meinungen sind in Deutschland über 107 Millionen Smartphones verfügbar, eine Infrastruktur des öffentlichen Lebens, die den Journalismus verändert hat wie die Atomspaltung die Physik.

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Die technischen Grenzen einer Druckerei und eines Auslieferungssystems von bedrucktem Papier sind aufgehoben in einer radikal beschleunigten, liberalisierten, fragmentierten Kommunikationswelt. Die Zeit rast, wir Journalisten rasen mit.

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Im Internet wird alles kapitalisiert, die übliche Warenwelt genauso wie jeder Klick und alle Daten, hier über die gut zahlende Werbewirtschaft, die bevorzugt Google, Meta und Amazon bedient. Unter der gut verbreiteten Täuschung, alles sei ja im Netz weitgehend gratis, sendet und empfängt man unaufhörlich – auch jene Inhalte, die einmal „Presse“ ausgemacht haben.

Smartphones sind für die Verbreitung von Wissen, Information und Meinung so etwas, wie die Druckereien es ein oder zwei Mediengenerationen zuvor waren. Wo der publizistische Urheber einst die privilegierte Stellung eines „Gatekeepers“ einnahm, befindet er sich heute im Internet in Gesellschaft inspirierender, fachkundiger Blogger, aber auch vieler Autoren, die ein Zeitungsvolontariat nur vom Hörensagen kennen.

Wahrheiten und „alternative Wahrheiten“

Wahrheiten, manchmal auch nur „alternative Wahrheiten“, sind auf so viele Blogs, Newsletters, Communities, Tweets, Podcasts, Videocasts verteilt, dass sich am Ende jeder das heraussuchen kann, was ins Weltbild passt – aber nicht unbedingt, was ein Weltbild erst formt.

Man kann lange darüber streiten, ob der Pluralismus der Geräte auch zum konstruktiven Pluralismus der Meinungen, also zur Stärkung der Demokratie führt. Sicher ist: Die digitale Revolution hat praktische Auswirkungen. Eine davon ist die seit gut einem Jahrzehnt von immer mehr Medien ausgeübte Praxis, per „Morning Briefing“ um sechs Uhr auf den Tag einzustimmen. Das aus dem Militärischen stammende Format, wo es die Lagebesprechung vor einem Einsatz bezeichnete, hat sich zunächst im Politischen festgesetzt. Dort kupferten es die Journalisten ab.

In einer höchst unübersichtlichen und unsicher gewordenen Welt liefern solche Briefings einen Bezugsrahmen des Verstehens. Orientierung schaffen, das ist eine wesentliche Geschäftsgrundlage von Medien, und so konnte der mediale Siegeszug dieses Formats nicht ausbleiben.

Journalismus war nie ein Nine-to-five-Job, unter den Bedingungen der neuen Technologie und einer veränderten Informationsnachfrage aber ist er vollends zum 24/7-Betätigungsfeld geworden. Irgendwo fällt nicht nur ein Sack Reis um, sondern eine ganze Regierung. Redaktionsschluss ist immer, also nie.

So kam es auch, dass der einstige „Pauschalist“ und Volontär vom „Wiesbadener Tagblatt“ in den vergangenen Jahren inzwischen rund tausend Nächte zwischen 22 und 1 Uhr damit verbracht hat, für das Briefing des nächsten Morgens die relevanten, exklusiven, aufklärenden, auch witzigen Themen aufzuspüren und aufzubereiten. Jedenfalls das, was die eigene Redaktion dafür hielt und was der jeweilige Streifzug durch E-Papers und Webseiten so ergab.

Manchmal meldete sich abends sogar noch ein Informant. Das Kondensat der Nacht ging nach globaler Teamarbeit – mit prüfenden Mitarbeiterinnen in New York, Tokio oder Sydney – von fünf Uhr morgens an über das Handelsblatt-Zentrum in Düsseldorf in alle Welt, ergänzt von der Vertonung durch einen Sprecher im Berliner Studio.

Journalismus? Das ist Literatur in Eile

Je öfter nach Mitternacht noch irgendwo ein Scoop zu finden war, desto besser wurde es. „Journalismus ist Literatur in Eile“, definierte der englische Dichter Matthew Arnold im 19. Jahrhundert, als Zeitungen zum Bannerträger des sich emanzipierenden Bürgertums wurden. Ohne Leidenschaft, auch ohne Leiden, ist das im 21. Jahrhundert der Digitalität nicht zu schaffen.

Der Journalismus der Datengesellschaft entsteht nicht mehr in engen, mit alten Zeitungsexemplaren zugemüllten Redaktionsstuben, sondern an cleanen Newsdesks, die über „Channels“ wachen, sowie an allen möglichen Plätzen, die Autoren für ihre kontemplativen Momente finden.

Zwei Herausforderungen bleiben: dass es weiter genügend Freiräume für Recherche, Reflexion und Sprachkunst (die Raison d’Être des Gewerbes) gibt – und dass sie auch genutzt werden. Hans-Jürgen Jakobs

In meinem Fall beim „Handelsblatt Morning Briefing“ waren dies, neben dem mit Zeitungen überladenen Schwabinger Schreibtisch, beispielsweise Hotel-Lobbys in Stockholm, Kapstadt oder Paris, Terrassen von Ferienwohnungen in Taormina, Eygalières oder Porto Ercolo, ein Ayurveda-Zentrum auf Sri Lanka, manchmal auch Zugabteile oder Flughafenlounges.

Es ist am Ende immer alles gut gegangen, selbst als ein Starkgewitter am Gardasee just um ein Uhr nachts die benötigte WLAN-Verbindung außer Kraft setzte.

Nur einmal erschien das „Morning Briefing“ erst um zehn Uhr. Der „Host“ der Morgenlese hatte die wie immer etwas zu lang geratenen Denkarbeiten versehentlich nicht an den großen Verteiler, sondern nur an sich selbst geschickt. Das war eindeutig zu viel „Digital Detox“.

Für einen „Digital Immigrant“, der die Redaktionsarbeit bei „Münchner Abendzeitung“, „Spiegel“, „Süddeutscher Zeitung“ und „Handelsblatt“ kennengelernt hat, bewahrt diese Überall-jederzeit-Welt noch immer das Faszinosum einer Wunderkammer.

Für „Digital Natives“ mag es sich um einen bloßen Routinebetrieb im großen „Flow“ handeln. Sie sind qualifizierter, als es die Alten je waren, was Sprachen oder technische Fertigkeiten angeht, etwa um ein selbst produziertes Video rasch zu schneiden.

Zwei Herausforderungen bleiben: dass es weiter genügend Freiräume für Recherche, Reflexion und Sprachkunst (die Raison d’Être des Gewerbes) gibt – und dass sie auch genutzt werden.

Im Internet weiß der Journalist, was er gedruckt nur ahnt

Dass ein solches Briefing jeden Morgen an rund eine halbe Million Menschen geht, ob per E-Mail, Podcast oder Webseite, ist irgendwie auch eine wundersame Geschichte. Solche Reichweiten erreicht ein gedruckt oder online verteilter Artikel selten. Im Internet weiß man das genau, im Print ahnt man es nur. Im neuen Aggregatzustand von Journalismus 2.0 wird alles „getrackt“, im alten dagegen per Copytest höchstens plausibel gemacht.

Vom „missachteten Leser“ schrieben Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher 1969: Man sollte endlich begreifen, dass auch der Journalismus vom „Marketing-Denken“ lernen könne. Man textete halt, was man für richtig hielt, und gab für Reisen aus, was nötig war. Der „Spiegel“ entdeckte erst Mitte der 1990er-Jahre das Wesen eines redaktionellen Budgets.

Es gibt ein Bedürfnis in der Öffentlichkeit, in einer Zeit wachsender Bedrängnis auf dem Weg in den Tag wenigstens ein-, zweimal zu schmunzeln und Aha-Gedanken zu haben. Auf die Pointe kommt es an. Hans-Jürgen Jakobs

Und doch zieht man persönlich heute erstaunt die Bilanz, dass journalistische Freiheit, Resonanz und Verantwortung nie größer waren als mit diesen „Briefing“-Nachtarbeiten. Es gibt ein Bedürfnis in der Öffentlichkeit, in einer Zeit wachsender Bedrängnis auf dem Weg in den Tag wenigstens ein-, zweimal zu schmunzeln und Aha-Gedanken zu haben. Auf die Pointe kommt es an.

Wenn eine Zahl falsch, ein Zusammenhang missverständlich, das gewählte Zitat unangebracht oder eine Metapher verrutscht war, hat es das Publikum sofort mitgeteilt. Die Prominenz eines Journalisten ist nun mal eine auf Abruf. Sie gilt, solange er nicht zu oft Blödsinn schreibt oder sich einfach nur wiederholt. Der vom Filmregisseur Billy Wilder geprägte Grundsatz „Du sollst nicht langweilen“ ist längst auch im Journalismus Grundgesetz.

Wenn man Glück hat mit einem solchen „Morning Briefing“, kommt man vom traditionellen Zyklus der Medien in die konzentrischen Kreise von „Social Media“ hinein. Man wird dann mit einer Formulierung oder These, wenn sie gewürzt genug erscheint, auf Twitter oder Facebook, WhatsApp, Instagram zitiert, auf LinkedIn diskutiert oder auf Google gesucht. Wer nicht auf einer der großen Internetplattformen vorkommt, existiert im New Age der Publizistik nicht.

Die neue Wirkungskette des Extremen

Halb amüsiert, halb beängstigt denkt man da mittlerweile an Paul Sethe, den Gründungsherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen“, der 1965 in einem Leserbrief an den „Spiegel“ festhielt, Pressefreiheit in Deutschland sei die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Heute ist Pressefreiheit in der westlichen Welt die Freiheit von 20 reichen Leuten wie Mark Zuckerberg (Meta), Larry Page (Google) oder bald auch Elon Musk (Twitter), ihre und andere Meinungen zu verbreiten.

Am Beispiel des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021 konnte jeder sehen, was es bedeutet, wenn nach der Präsidentenwahl auf Zuckerbergs Plattformen seine Algorithmen die Verschwörungstheorien von QAnon höher „rankten“ als sachliche Analysen von „New York Times“, „Washington Post“ oder „Wall Street Journal“. Die neue Wirkungskette: Extreme Polarisierung bewirkt extreme Reichweite bewirkt extreme Werbeeinnahmen.

Nur noch eine kleine Minderheit glaube, dass News-Organisationen stärker an die Gesellschaft als ans eigene kommerzielle Interesse denken. Angesichts solcher Befunde wartet man auf eine tiefere Mediendebatte. Hans-Jürgen Jakobs

„Kampfpresse“ nannte man früher im politischen Milieu die enthüllenden, meinungsstarken hanseatischen Medien „Spiegel“, „Stern“ und „Zeit“. Man sah die großen Gründer Gerd Bucerius, Henri Nannen, Rudolf Augstein oder Axel Cäsar Springer gehen, „Alpha-Journalisten“ von Sabine Christiansen bis Frank Schirrmacher kommen und blickt heute auf eher sachbezogene Crossmedia-Macher.

Mittlerweile kämpft die „Presse“, digitalisiert und elektrifiziert, gegen den weiteren Verfall der Werbeerlöse, aber auch gegen einen Vertrauensverlust. Das hat das Reuters Institute im Jahresreport 2022 festgestellt: Nur noch eine kleine Minderheit glaube, dass News-Organisationen stärker an die Gesellschaft als ans eigene kommerzielle Interesse denken.

Angesichts solcher Befunde wartet man auf eine tiefere Mediendebatte. Was aber nur aufflackert, sind Positionslichter wie die des Talkshowkönigs Richard David Precht, der im Zuge einer Buchvermarktung das System anprangert, das ihn groß gemacht hat.

Es gäbe viele wichtige Fragen: Wie sind ARD und ZDF so zu reformieren, dass Qualitätsjournalismus und Programmvielfalt gesichert werden? Wie sind unabhängige Zeitungen und Zeitschriften als Erklärer (nicht als „Belehrer“) der Welt zu erhalten? Wie verhindert die Gesellschaft, dass Kommunikation in geschlossene Echokammern des Digitalen abdriftet? „Ein demokratisches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Bürger nicht mehr auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken kann“, sagte der Philosoph Jürgen Habermas.

Stimmt. Der Satz stimmte auch vor 40 Jahren. Damals, als es weniger Auswahl gab, als Zeitungsjournalisten gelbe Blätter betippten und Privatfernsehen nur im Saarland (RTL, von Luxemburg aus) zu sehen war. Doch selbst im Internet hat weiter ein kleiner Satz Gültigkeit, der vor lauter „Channel-Journalismus“ gelegentlich vergessen wird: Der Inhalt ist König. Punkt.

Hans-Jürgen Jakobs ist seit viereinhalb Jahren Anchorman des Handelsblatt-Morning-Briefings. Nun geht er in den Ruhestand. Am Freitag erscheint die letzte Ausgabe seines Morgen-Newsletters.

Mehr: Lesen Sie hier alle Morning-Briefing-Folgen von Hans-Jürgen Jakobs

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