Ukraine-Krieg: Drohende Liquiditätsklemme – Risiko für deutsche Firmen

Düsseldorf Russlands Krieg in der Ukraine, unterbrochene Produktions- und Lieferketten und rasant steigende Energiepreise – all das lastet auf den Zukunftsaussichten von Deutschlands Unternehmen.

Die Firmen haben Vorsorge für solche Unwägbarkeiten getroffen und im abgelaufenen Geschäftsjahr ihr Eigenkapital gestärkt, und zwar mit einer rekordhohen Quote von im Schnitt knapp 40 Prozent. Deshalb droht der großen Mehrheit der Firmen auch keine Überschuldung.

Doch die Liquidität könnte angesichts der Risiken ohne zusätzliche Kredite oder Staatshilfen rasch knapp werden. Das zeigen Auswertungen des Handelsblatts für die rund 390 im deutschen Prime- und General-Standard börsennotierten Unternehmen sowie Berechnungen des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV) auf Basis von etwa 7000 weiteren Firmenbilanzen.

Die Situation würde sich verschärfen, etwa bei einem deutschen Gas-Importstopp aus Russland oder bei westlichen Sanktionen auch gegen Moskaus Verbündeten China. In diesen Fällen wären insbesondere Unternehmen aus den Schlüsselbranchen Automobil, Maschinenbau und Metallerzeugung auf zusätzliches Geld angewiesen.

Experten empfehlen deshalb, Ausgaben zu strecken, um zusätzliche Liquidität zu sichern. „Riskante Investitionen sollten vertagt werden“, sagt Ralf Sauter, Industrieexperte bei der Beratung Horváth & Partners.

Die international stark verflochtene exportstarke deutsche Volkswirtschaft ist von den Auswirkungen des russischen Einmarsches in die Ukraine besonders betroffen. Die Deutsche Bundesbank rechnet mit einer Rezession und einem Rückgang des Wirtschaftswachstums von zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr, sollte es zu einem Embargo für russische Gas- und Ölimporte kommen. Auch würde die Inflationsrate längere Zeit erheblich höher ausfallen und damit Verbraucher und Unternehmen belasten, heißt es im jüngsten Monatsbericht.

Zwei Abschwungsszenarien, ein milderes und ein scharfes, belegen im Folgenden: Der großen Mehrheit der Unternehmen droht zwar keine Überschuldung, doch die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit aufgrund wegbrechender Liquidität ist groß. Grundlage für die Berechnung sind die im CDax börsennotierten Unternehmen. Der Index umfasst alle im General und Prime Standard der Frankfurter Börse gelisteten deutschen Unternehmen und spiegelt damit die volle Breite des Aktienmarkts wider.

Hinzu kommen Bilanzberechnungen des DSGV von kleinen und mittelgroßen Unternehmen mit einem Jahresumsatz zwischen 20 und 250 Millionen Euro. Beide Szenarien sind eine Simulation, die keine Gegenmaßnahmen wie zusätzliche Kreditaufnahmen oder staatliche Hilfen berücksichtigt.

Szenario 1: Der Einbruch

Ausgangslage sind durchschnittliche Umsatzrückgänge von 20 Prozent. Dafür sorgt der aktuelle Preisschock bei Nahrungsmitteln und Rohstoffen, insbesondere bei Energie mit Öl, Gas und Strom: Hier werden Teuerungsraten von deutlich mehr als zehn Prozent unterstellt.

Darüber hinaus bleiben Lieferketten unterbrochen, sodass Schlüsselindustrien wie die Automobilbauer Kurzarbeit verordnen, weil wichtige Zulieferteile wie etwa die in der Ukraine produzierten Kabelbäume fehlen.

Trotz dieses Einbruchs würden den Firmen im Durchschnitt noch 96 Prozent ihres Eigenkapitals aus dem Vorjahr verbleiben. Bei der Automobilindustrie wären es 93 Prozent, bei den Maschinenbauern 88 und den Transportfirmen immerhin noch 58 Prozent.

Dass sich der sinkende Umsatz nicht stärker auswirkt, liegt am ebenfalls geringeren Materialaufwand. Werden beispielsweise weniger Maschinen, Autos und Computer hergestellt, wird auch entsprechend weniger Material benötigt.

Überschuldung droht den Unternehmen in dieser Durchschnittsbetrachtung also nicht. Grund dafür sind vor allem die hohen Reserven. Im vergangenen Jahr erhöhten die Unternehmen ihre Eigenkapitalquote um einen Prozentpunkt auf knapp 40 Prozent – der höchste jemals verzeichnete Wert.

Lkw-Verkehr

Die Logistikbranche träfe ein Umsatzeinbruch am härtesten.


(Foto: Deutsche Bahn AG)

Maschinenbauer wie beispielsweise der Verpackungsanlagenproduzent Krones erreichen derzeit eine Eigenkapitalquote von 40, der Baumaschinenhersteller Wacker Neuson sogar von 55 Prozent. Selbst in der angeschlagenen Automobil-Zulieferindustrie stiegen 2021 die Eigenkapitalquoten. So etwa bei den Jost-Werken in Neu-Isenburg binnen eines Jahres von 28 auf 31 Prozent.

Dabei halfen überdurchschnittlich stark steigende Gewinne, sodass sich die Profitabilität fast verdoppelte: Die operative Umsatzrendite stieg bei den vom DSGV untersuchten kleinen und mittelgroßen Firmen von durchschnittlich 1,4 auf 2,5 Prozent. Bei den börsennotierten Konzernen erhöhte sie sich noch stärker von 2,9 auf 7,9 Prozent.

Zugute kamen den Unternehmen nach Kenntnis des Bilanzexperten Markus Wallner von der Commerzbank „die starke wirtschaftliche Erholung und die vielfach aufgelegten Restrukturierungspläne“. Dabei geht es um bereits in der Coronakrise aufgelegte Sparprogramme, die erst jetzt ihre Wirkung entfalten.

Liquidität ist schnell aufgezehrt

Angespannter ist die Situation bei der Liquidität. Sinken hier die Umsätze um 20 Prozent, verbleiben den Firmen im Durchschnitt noch 89 Prozent ihrer Barreserven. Bei den Metallerzeugern sind es nur noch 50 Prozent, und in der Logistikbranche wäre die Liquidität bereits nach einem Jahr komplett aufgezehrt.

Die Transport- und Logistikbranche ist gleich dreifach in der aktuellen Krise betroffen: erstens, aufgrund der hohen Energiepreise, weil Kraftstoffe ein sehr großer Kostenblock sind. Zweitens fällt derzeit ein hoher Anteil an ukrainischen Lkw-Fahrern aus. Dadurch hat sich der Mangel an Lastwagenfahrern noch weiter erhöht. Deutschlandweit fehlen inzwischen mehr als 60.000 Fahrer.

Drittens ist durch den Lockdown und den wirtschaftlichen Stillstand in der chinesischen Großregion Schanghai die Versorgung mit Nachschub nicht gewährleistet, sodass viele Fahrten leer bleiben.

Grafik

„Es droht eine Insolvenzwelle, die auch die Versorgung der Bevölkerung in Gefahr bringen könnte“, warnte kürzlich Carsten Taucke, Präsidiumsmitglied des Groß- und Außenhandelsverbands BGA und zugleich Chef des Logistikers Nagel Group. Vor allem kleine und mittelgroße Unternehmen könnten die gestiegenen Preise für Diesel kaum noch stemmen.

Dass Liquidität im Abschwung sehr viel schneller sinkt und damit die Existenz gefährdet, ist nicht ungewöhnlich. Mangelnde Barreserven waren in der Vergangenheit in neun von zehn Fällen Grund für eine Insolvenz. Ursache sind die Fix- und allen voran Personalkosten. Sie bleiben in einem plötzlichen Abschwung erst einmal gleich hoch, weil Löhne weiterbezahlt werden.

Szenario 2: Der Absturz

Sinkt der Umsatz um durchschnittlich 50 Prozent, was ein schweres Abschwungsszenario bedeutet, bleiben den Firmen durchschnittlich immer noch gut 80 Prozent ihres Eigenkapitals erhalten.

Doch die Liquidität sinkt dramatisch, nicht nur im Transportgewerbe, sondern auch in Deutschlands Schlüsselbranchen: Bei den Metallerzeugern, Maschinenbauern und der Automobilindustrie wäre sie im Schnitt komplett aufgezehrt.

Die Unternehmen wären damit zahlungsunfähig. Ohne flächendeckende und branchenübergreifende Bankkredite, staatliche Bürgschaften und Finanzhilfen würde Deutschland in eine nie da gewesene Pleitewelle stürzen.

Zusätzliche Kreditaufnahmen der Unternehmen, die in solch einer Krise sehr wahrscheinlich wären, bleiben hierbei allerdings unberücksichtigt, weil sie im Vorhinein nicht zu berechnen sind. Ebenso wenig fließen in das Abschwungsmodell staatliche Hilfen ein.

In der Coronapandemie hatte der Bund mit Hilfsprogrammen wie Überbrückungs- und Neustarthilfen, Kreditbürgschaften und Kurzarbeitergeld bis hin zu Erstattungen von Steuervorauszahlungen reagiert. Die staatlichen Finanzhilfen summierten sich auf mehr als hundert Milliarden Euro. Weitere 42 Milliarden Euro zahlte die Bundesanstalt für Arbeit als Kurzarbeitergeld aus, womit viele Unternehmen Liquiditätsengpässe meisterten.

Umsatzrückgänge von 50 Prozent sind selbst in schweren Krisen außergewöhnlich, erscheinen diesmal aber möglich. Im März hatten sich die Erzeugerpreise in Deutschland gegenüber dem Vorjahr um 31 Prozent erhöht. Das war der stärkste Anstieg seit Gründung der Bundesrepublik 1949.

Höhere Preise sind eine große Gefahr, weil viele Firmen sie in einem Abschwung mangels Nachfrage nicht weitergeben können. Eine rasche Rückkehr auf deutlich niedrigere Niveaus, wie im milderen ersten Szenario angenommen, ist derzeit nicht in Sicht.

„Wir können locker 50-Prozent-Raten bekommen“, warnte jüngst Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Deutschland, mit Blick auf die industriellen Erzeugerpreise. Zwar werde sich die Teuerungslage im Sommer etwas beruhigen, aber einen starken Rückgang erwartet der Ökonom nicht.

Energiekrise belastet außergewöhnlich

Vor allem die indirekten Folgen des Russlandkriegs sorgen bei den produzierenden Unternehmen für Unsicherheit. Russland ist weltweit einer der wichtigsten Lieferanten für Rohstoffe wie Erdöl, Nickel, Stahl, Kohle und Palladium.

Neben diesem Materialmangel sowie Produktions- und Lieferkettenproblemen, auch hervorgerufen durch den scharfen Lockdown in Schanghai, droht darüber hinaus eine nie da gewesene Energiekrise. Zumindest dann, wenn Deutschland auf die Forderungen vieler westlicher Länder eingeht und kein russisches Gas mehr bezieht.

„Ein Gasstopp könnte zum schärfsten Konjunktureinbruch in Deutschland seit 1945 führen“, befürchtet Andrea Geisel, Vermögensverwalterin der Fürst Fugger Privatbank. Sie schließt dann einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um zehn Prozent nicht aus.

>> Lesen Sie auch: Vier Milliardenrisiken, die jetzt die Gewinne deutscher Spitzen-Konzerne gefährden

Gas wird überall benötigt: nicht nur in der Industrie, sondern auch in eigentlich konjunkturresistenten Branchen wie in der Nahrungsmittelindustrie, um Obst und Gemüse weiterzuverarbeiten.

Noch schlimmer wären die wirtschaftlichen Folgen, sollte sich China stärker in Richtung Russland orientieren und würden die westlichen Länder deshalb auch Sanktionen gegen China verhängen. Kein westliches Industrieland ist so abhängig von China wie Deutschland. Das asiatische Boomland ist seit sechs Jahren Deutschlands größter Handelspartner. In den klassischen Industriebranchen wie Automobil, Chemie, Halbleiter und Schienenfahrzeuge ist China der größte Markt der Welt.

Die Lösung: Unternehmen sorgen vor

Allerdings gibt es Möglichkeiten, um sich dringend benötigte Liquidität zu beschaffen. „Es wird kein grundsätzlich gesundes Unternehmen wegen eines kurzfristigen Liquiditätsengpasses in die Insolvenz geschickt, dafür gibt es schließlich Banken und Sparkassen und auch staatliche Hilfe zur Überbrückung“, sagt Bilanzexperte Kral.

Angesichts der Unsicherheit über ihre künftige Ertragslage nehmen viele Unternehmen mehr kurzfristige Kredite auf. Diese waren im vierten Quartal nach Berechnungen der Deutsche-Bank-Finanzierungsexperten Jan Schildbach und Marc Schattenberg bei Firmen und Selbstständigen um 30,8 Milliarden Euro und damit um knapp fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Vor allem im verarbeitenden Gewerbe dürfte die Nachfrage künftig stark steigen, erwarten die Deutsch-Banker.

Großen börsennotierten Konzernen gelingt es in Krisen am ehesten, über Bankkredite und Anleihen an frisches Kapital zu kommen. Kleine Firmen haben es deutlich schwerer. Die Dax-Konzerne erhöhten ihre flüssigen Mittel zum Geschäftsjahresende 2021 binnen zwölf Monaten um 2,6 Prozent auf 158 Milliarden Euro und damit auf Rekordhöhe. Gleich 16 der 40 Dax-Unternehmen steigerten ihre Barreserven um mehr als zehn Prozent, darunter die Autobauer BMW und Daimler Trucks sowie der Zulieferer Continental.

In der besonders gefährdeten Logistikbranche haben die großen Konzerne ebenfalls kräftig vorgesorgt. Fraport erhöhte 2021 seine Barreserven von 1,9 auf 2,7 Milliarden Euro. Die Liquiditätsquote stieg von 13,2 auf 16,4 Prozent.

Der Frankfurter Flughafenbetreiber leidet unter sinkendem Fahrgastaufkommen infolge des Kriegs und ist zudem mit 25 Prozent am russischen Airport St. Petersburg beteiligt. Im schlimmsten Fall droht die Enteignung und damit der Totalverlust des dortigen Anteils, den Fraport im Geschäftsbericht mit einem niedrigen dreistelligen Millionenbetrag angibt.

Beim Containerriesen Hapag-Lloyd schnellte die Liquidität noch stärker von 681 Millionen auf 7,7 Milliarden Euro nach oben, die entsprechende Quote stieg von 4,5 auf 28 Prozent.

Fast jedes zweite Unternehmen rechnet mit Umsatzrückgang

So viel Liquiditätsvorsorge schützt in Krisen – und sie ist berechtigt, denn die Sorgen sind groß. Rechnete vor Kriegsbeginn lediglich jedes vierte Unternehmen für 2022 mit Umsatzrückgängen, geht aktuell fast jedes zweite Unternehmen davon aus. Das zeigt eine dem Handelsblatt exklusiv vorliegende Befragung der Unternehmensberatung Horváth unter 100 deutschen Unternehmen ab 200 Millionen Euro Jahresumsatz.

„Die Industrie ist von den negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukrainekriegs am stärksten betroffen“, kommentiert Studienleiter Ralf Sauter. Drei Viertel der deutschen Industrieunternehmen kämpfen demnach mit steigenden Rohstoffpreisen und 70 Prozent mit Lieferkettenunterbrechungen.

Der Experte empfiehlt den Firmen, den Fokus auf niedrigere Kosten zu legen, um sich „resilient gegenüber geopolitischen Krisen und Verwerfungen in den Lieferketten“ zu machen.

Das gelingt auch mit weniger Investitionen. Diese aufzuschieben, so wie es viele Unternehmen bereits nach dem Ausbruch der Coronapandemie praktiziert haben, bedeutet zwar einen neuerlichen Investitionsstau. Doch dieser ist in Krisenzeiten das geringere Übel als eine Insolvenz.

Mehr: Vier Milliardenrisiken gefährden die Gewinne deutscher Konzerne

source site-18