So wollen Forscher das Stau-Problem lösen

Düsseldorf Die seltsamen Bremsmanöver sorgten immer wieder für erzürnte Kunden: Scheinbar ohne Grund stoppten die Fahrzeuge der Google-Schwesterfirma Waymo in Phoenix. Hunderte Minivans sind mittlerweile auf den Straßen der US-Großstadt unterwegs – ohne Fahrer.

Die Software- und KI-Experten des Unternehmens fanden die Ursache des Problems: Vögel. Die Autos hielten sie für ein Hindernis und bremsten jedes Mal abrupt, wenn einer sich dem Fahrzeug näherte. Waymo verbesserte den Datensatz und die Algorithmen – und die Beschwerden hörten auf. Der Taxidienst läuft jetzt so zufriedenstellend, dass die Firma vor wenigen Tagen ihr Angebot auf San Francisco ausweiten konnte.

Das Beispiel zeigt: Selbstfahrende Autos verhalten sich in vielen Fällen anders als Menschen. Die neuronalen Netze werden nach dem Vorsichtsprinzip trainiert: mehr Abstand halten, langsamer beschleunigen und länger an der Kreuzung halten. In gewisser Weise tun die Systeme das, was Menschen in der Fahrschule lernen, im Verkehrsalltag aber oft schnell wieder vergessen: Sie fahren extrem defensiv.

Das wird Konsequenzen auf den Alltagsverkehr haben, wie Simulationen der Softwarefirma PTV zeigen. Schon ein Anteil der autonomen Autos von 20 Prozent am Verkehr reicht aus, um den Verkehrsfluss deutlich zu stören. Bei einem Anteil von 50 Prozent verdoppeln sich die Staus. „Das heißt nichts Gutes für die Städte“, sagt Jochen Lohmiller, der das Projekt bei PTV geleitet hat.

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Forscher setzen daher auf sogenannte digitale Zwillinge, die den Verkehrsinfarkt verhindern sollen. Die Straßen werden per Kamera, Radar, Lidar und anderen Sensoren erfasst und mit Künstlicher Intelligenz (KI) bearbeitet. Es entsteht in Echtzeit ein digitales Abbild des Verkehrs, das eine effizientere Routenplanung erlaubt und den Verkehrsdurchsatz erhöht.

Digitaler Zwilling für Verkehr

Kameras erfassen den Verkehr, Kennzeichen werden verschleiert – und die anonymisierten Daten von einer Künstlichen Intelligenz ausgewertet.


(Foto: PTV)

„Das ist äußerst wichtig für die Zukunftsfähigkeit unserer Straßennetze“, sagt Alois Knoll, Leiter des Lehrstuhls für Robotik, KI und Echtzeitsystem von der TU München.

Das Level 3 ist serienreif

Das Thema drängt mit Wucht auf die Agenda der Verkehrsplaner, denn das autonome Fahren ist keine Zukunftsvision mehr. Schon jetzt kann man mit der neuen S-Klasse im Stau auf der Autobahn bis zu 60 Stundenkilometer (km/h) schnell fahren, ohne die Hände am Lenkrad haben zu müssen. Das sogenannte Level 3 ist serienreif. Hierbei gibt der Fahrer unter bestimmten Bedingungen die Kontrolle über das Fahrzeug ab, muss aber jederzeit wieder eingreifen können.

Das komplett selbstständige Fahren auf Level 4 in die Wirklichkeit umzusetzen ist technologisch anspruchsvoller. Doch auch hier sind die Fortschritte unübersehbar, wie zahlreiche Testprojekte in der ganzen Welt zeigen. Bei der höchsten Stufe 5 werden Lenkrad und Fahrer ganz überflüssig. Bis dieses Autonomielevel im Alltag ankommt, wird es voraussichtlich noch viele Jahre dauern.

Autonome Fahrzeuge vermeiden Unfälle, verringern Emissionen und verschaffen neue Freiheiten – man kann die Zeit im Auto produktiv nutzen. Im Durchschnitt verbringen Europäer vier Jahre und einen Monat ihres Lebens im Auto, fand Citroën mit dem Marktforschungsinstitut CSA bei einer Umfrage vor einigen Jahren heraus.

Die Robo-Autos werden auch den Verkehrsfluss verbessern – aber erst, wenn deutlich mehr als 50 Prozent der Fahrzeuge selbstfahrend sind. Dann können sich die miteinander vernetzten Autos untereinander koordinieren, optimale Geschwindigkeiten und Abstände errechnen und einhalten.

Nichts sei besser für den Verkehrsfluss als gleichmäßig fahrende Fahrzeuge, sagen Verkehrsexperten. Das Problem liegt eher im Miteinander von autonom fahrenden Autos und solchen, die von Menschen gesteuert werden. „Die Menschen reagieren einfach zu verschieden“, sagt Professor Knoll. „An der Ampel kommt es beispielsweise zum Ziehharmonika-Effekt.“ Dabei übersehen Fahrer, dass sich die Autoschlange vor ihnen in Bewegung setzt – die Lücken zwischen den Fahrzeugen werden größer und weniger Autos kommen über die grüne Ampel.

Mehr Staus, mehr Wartezeiten  

Es wird lange dauern, bis selbstfahrende Autos den Stadtverkehr dominieren. Selbst wenn ab heute alle neu zugelassenen Autos und Lastwagen auf Level 5 fahren könnten, würde es statistisch gesehen 9,8 Jahre dauern, bis alle herkömmlichen Fahrzeuge aus dem Verkehr gezogen sind – so hoch ist das durchschnittliche Alter eines Autos in Deutschland.

Was passiert in der Übergangszeit, wenn sich unachtsame Passanten, aggressive Fahrer und vorsichtige Robo-Taxis die Straße teilen? Der Frage ging PTV auf den Grund. Die Firma mit 900 Mitarbeitern, bis vor Kurzem eine Tochter der VW-Dachgesellschaft Porsche SE, ist bei Software für Verkehrssysteme Weltmarktführer. Die Karlsruher haben bereits mit mehr als 2500 Städten zusammengearbeitet, um Verkehrsführung und Luftqualität zu verbessern oder Staus zu vermeiden.

Verkehrssimulation

Die Softwarefirma PTV simulierte den Verkehr im Süden von Köln mit einem Anteil von 50 Prozent selbstfahrenden Autos.


(Foto: PTV)

Das Team von PTV wählte für sein Simulationsmodell ein belebtes Viertel in Köln in der Nähe der Uniklinik aus. Dort beobachteten die Experten im vergangenen Jahr den Berufsverkehr am frühen Morgen: Welche Fahrzeuge sind unterwegs, wie lange dauern die Ampelphasen, wie viele Autos kommen bei Grün über die Kreuzung?

PTV reproduzierte auch Erfahrungswerte von selbstfahrenden Fahrzeugen und ihrem Verkehrsverhalten, die führende Anbieter wie Waymo, Cruise oder Aptiv gesammelt haben. Das Team spielte die Daten in sein Modell ein und erstellte mehrere Szenarien. In einer Version machen selbstfahrende Autos 20 Prozent des Gesamtverkehrs aus. Die sichtbarste Folge: Der Verkehrsfluss verlangsamt sich deutlich – die durchschnittliche Geschwindigkeit fällt von 23,5 auf 20,9 km/h.

Selbstfahrende Autos sind für den Alltagsverkehr wie Sand im Getriebe. So ermittelte PTV für menschliche Fahrer eine Durchschnittgeschwindigkeit in Köln von 58 km/h – schneller als erlaubt in einer geschlossenen Ortschaft. Die autonomen Fahrzeuge halten sich dagegen mit 49 km/h genau an die Vorschrift.

Am stärksten wird der Verkehrsfluss bei einem Anteil selbstfahrender Fahrzeuge von 50 Prozent gestört. Dann kommen sie vor allem in einspurigen Straßen kaum voran, bremsen zu vorsichtig, halten einen größeren Sicherheitsabstand. Die Anzahl der Stopps geht von durchschnittlich 1,8 auf 3,3 nach oben – eine Zunahme von 80 Prozent.

An den Kreuzungen wirkt sich das sehr auf die Warteschlangen aus. Beträgt dort die Staulänge ohne autonome Autos im Schnitt 55 Meter, steigt sie bei einem Anteil von 50 Prozent autonomer Fahrzeuge auf 114 Meter. „Die Städte müssen sich Gedanken machen“, sagt Projektleiter Lohmiller. „Mit der neuen Technik wird nicht alles automatisch besser.“

Eine Lösung könnten eigene Fahrspuren für autonome Autos sein. In den Städten fehlt aber oft der Platz dafür. Auch werden diese Fahrspuren durch steigende Zahlen der Robo-Fahrzeuge irgendwann nicht mehr ausreichen. Die noch radikalere Idee, von Menschen gesteuerte Fahrzeuge auszusperren, dürfte auf absehbare Zeit politisch nicht durchsetzbar sein.

Der massenhafte Einsatz der digitalen Verkehrszwillinge könnte da eher helfen. Überall in Deutschland laufen Modellversuche: Auf Teststrecken werden Autobahnen, Landstraßen und Straßen in Städten digitalisiert. So beobachtet die TU München seit 2017 die A9 nördlich von München, die davon abzweigende B471 sowie eine Kreuzung im Stadtbereich von Garching-Hochbrück.

Alois Knoll

Der Professor für Informatik an der TU München setzt sich für Digitale Zwillinge für den Verkehr ein.


(Foto: TU München)

Das Team installierte mehr als 80 Stationen. Diese sind mit Kameras, Lidar – das ist eine optische Abstands- und Geschwindigkeitsmessung, wie sie in der Steuerung autonomer Fahrzeuge verwendet wird – oder Radar ausgerüstet. So wird rund um die Uhr der Verkehr aufgezeichnet.

Die anonymisierten Daten – Kennzeichen werden unkenntlich gemacht – wertet ein neuronales Netz aus, das mithilfe von 3D-Mapping-Technologie in Echtzeit einen digitalen Zwilling der Strecke erstellt. Der Verkehr kann in Echtzeit rund um die Uhr beobachtet und analysiert werden, egal ob in der Nacht oder bei Regen.

Weniger Unfälle, mehr Effizienz

Die Wissenschaftler beobachteten in fünf Jahren so einiges: Unfälle mit Schwerverletzten oder tiefergelegte Autos, die mit 100 km/h über eine Kreuzung rasten, auf der eigentlich nur 50km/h erlaubt sind. Die Forscher meldeten die Vorfälle nicht der Polizei – aufgrund des Datenschutzes. Die Daten sind aber in anderer Hinsicht wertvoll.

Eine digitale Analyse des Verkehrs in Echtzeit könnte helfen, Unfälle zu vermeiden – indem beispielsweise gemeldet wird, dass ein Auto auf einer Autobahnspur zum Stehen gekommen ist. Oder die Behörden könnten Radarfallen an Raser-Schwerpunkten aufstellen, um Unfällen vorzubeugen. „Man erhöht Sicherheit, Transparenz und optimiert den Verkehrsdurchfluss“, sagt Wissenschaftler Knoll von der TU München.

Vor allem aber sollen die digitalen Zwillinge Staus verhindern. Auf Autobahnen wie der A8 Richtung Salzburg oder A57 Richtung Köln werden zu Stoßzeiten die Standstreifen für den Verkehr freigegeben, allerdings nicht bei schlechtem Wetter. Mit Radar oder infrarotgestützten Sensoren und der Simulation des digitalen Zwillings könnten die Autobahnbetreiber viel genauer den Verkehr beobachten und passgenauere Entscheidungen treffen.

Nach einer Überschlagsrechnung von Knoll würde es rund eine Milliarde Euro kosten, von den wichtigsten Autobahnen Deutschlands einen digitalen Zwilling herzustellen. Man müsste alle 250 bis 500 Meter einen Sensorstandort aufstellen, mit dem der Verkehr in Echtzeit abgebildet wird.

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Auch vom Stadtverkehr lassen sich digitale Zwillinge machen, wie der Modellversuch der TU München zeigte. Damit kann der Verkehr für die nächsten 60 Minuten mit hoher Genauigkeit vorhergesagt werden: Die Planer könnten so Verkehrsleitsysteme aktivieren, Ampelphasen optimieren oder Robo-Fahrzeuge umleiten.

Denkbar wäre gar, die autonomen Autos zentral zu steuern. Man würde für eine gleichmäßige Geschwindigkeit der Fahrzeuge und damit für einen „hohen Verkehrsdurchsatz“ sorgen, wie es Professor Knoll ausdrückt. „In China wird das derzeit umgesetzt.“

Verkehrsdaten als Plattform

Für Deutschland ist das aber keine realistische Option. Gespräche der TU München mit der Autobahn GmbH und Behörden führten bislang zu keinem Ergebnis. Auch die Idee, die Daten der insgesamt 15 Projekte zu Verkehrszwillingen in Deutschland zusammenzuführen, kommt nicht weiter.

Die Sorge um Datenschutz ist noch nicht einmal das größte Problem. Das stärkste Argument von Kritikern ist: Durch die Kameras der Autos gebe es ohnehin genug Daten, um den Verkehr abzubilden. Das lässt Knoll jedoch nicht gelten. Die Kameras seien nur in Fahrerhöhe angebracht und würden nicht nach hinten schauen. Es fehle der Überblick, die Datensätze seien unvollständig und auch nicht zugänglich. „Das ist so, als ob man die Straßenbeleuchtung mit dem Argument abschaffen will, es gebe doch die Scheinwerfer der Autos“, sagt Knoll.

Deutschland droht eine interessante Geschäftschance zu verpassen. Digitale Zwillinge vom Stadtverkehr oder von der Autobahn könnten zur Plattform werden. Die anonymisierten Daten könnten Entwickler und Start-ups nutzen, um Apps und Angebote aufzubauen. Man könnte beispielsweise viel genauere Fahrprognosen als Google Maps herstellen, meint Knoll.

Die Polizei, Kommunen und Straßenbetreiber könnten schneller auf Unfälle oder Staus reagieren. Es müssten weniger Straßen gebaut werden, um den gleichen Verkehr zu bewältigen. „Die Verkehrsfläche könnte viel besser genutzt werden“, sagt Knoll.

Übersetzt heißt das: weniger Stau und weniger Kosten. Für einen Kilometer Autobahn zahlt der Staat je nach Gegebenheiten zehn Millionen Euro. In der Stadt kostet ein Meter Straße beispielsweise im Bundesland Nordrhein-Westfalen im Schnitt mehr als 11.000 Euro.

Mehr: Waymo und Cruise vergrößern beim automatisierten Fahren den Abstand zur Konkurrenz.

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