Sind Europas Milliarden-Start-ups zu fabelhaft, um wahr zu sein?

Sechs Worte sind es nur, und sie machen Wagniskapitalgeber nervös. „Building a fintech company – stealth mode“, steht im Profil von Iris Liliana Bleck auf der Karriereplattform LinkedIn. Wer in der Start-up-Szene aktiv ist, kann den Code lesen: Diese Frau baut ein Start-up auf, das etwas mit Finanztechnologie zu tun hat. Was genau dahintersteckt, will sie noch geheim halten.

Aber es könnte etwas Großes sein. Diese Fantasie weckt spätestens ihr Lebenslauf. Ein Doktortitel in Bankenrecht, zwei Jahre Unternehmensberatung, dreieinhalb Jahre Risikomanagerin bei der Silicon Valley Bank, die auf Kredite für Start-ups spezialisiert ist. „Zwischen fünf und zehn Investoren haben mich kalt angeschrieben“, sagt die Gründerin.

Iris Bleck kann es selbst kaum glauben. Außer dem Gründungsdatum (Mai 2021) und dem Namen der Firma (FintechX) erfährt man wirklich nichts über ihr Start-up. Das Geschäftsmodell scheint für die Investoren völlig egal zu sein. Hauptsache, sie dürfen dabei sein.

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Eine ungeheure Euphorie hat die deutsche Start-up- und Wagniskapitalszene erfasst. Es gibt so viel Geld wie nie für Gründer. Es gibt höhere Bewertungen denn je für private Technologiefirmen. Und es gibt bislang fast nur Gewinner. „Momentan sind alle Renditen gut, von den guten wie von den schlechten Fondsmanagern“, sagt Bjorn Tremmerie vom Europäischen Investitionsfonds (EIF).

Doch als sich Ende des Jahres 2021 Investoren aus ganz Europa zur „SuperVenture“-Konferenz in Berlin trafen, äußerten manche leise Zweifel. Nicht in den Vorträgen und Diskussionsrunden, aber unter vier Augen am Kaffeetisch: Irgendetwas fühle sich an wie damals, 1999, meinten vor allem die Älteren in der Wagniskapitalszene.

1999 war das Jahr, in dem sich die Finanzszene kollektiv verspekuliert hatte. Damals träumte Deutschland zusammen mit dem Rest der Welt von einer neuen Generation von Technologie- und Internetfirmen, in denen die konventionellen Gesetze der Betriebswirtschaft außer Kraft gesetzt sind. 2000 ist die sogenannte Dotcom-Blase dann geplatzt, mit Börsencrashs und Start-up-Pleiten.

EIF-Manager Tremmerie sagt: „Manche Investoren agieren wie 1999: Sie nehmen sich weniger Zeit für die Due Diligence, weil sie befürchten, dass den Deal jemand anders schon gemacht hat, wenn man zu lange braucht.“ Eigentlich sehen es alle. Die Wagniskapitalszene hat sogar ein Kürzel dafür: Fomo, die „Fear of missing out“. Es herrscht Angst, etwas zu verpassen. Doch Tremmerie sagt auch: „Aufhören ist keine Alternative.“

Und so herrscht für Gründer in Deutschland die beste aller Zeiten. Nie stand so viel Geld zur Verfügung. Laut „Startup-Barometer“ der Unternehmensberatung EY wurden 2021 knapp 17,4 Milliarden Euro Risikokapital in deutsche Start-ups investiert. Das ist mehr als in den drei Jahren davor zusammen.

Das neue Rekordniveau wird von zwei Entwicklungen getrieben. Erstens bekommen die jungen Firmen häufiger Geld. 2020 registrierte EY noch 743 Finanzierungsrunden bei deutschen Start-ups, 2021 waren es 1160. Zweitens geht es in diesen Finanzierungsrunden um immer mehr Geld. So weit bekannt, gab es 2021 in Deutschland 33 sehr große Finanzierungsrunden mit einem Volumen von mehr als 100 Millionen Euro, im Jahr zuvor waren es nur acht.

SpaceX-Rakete

Das Unternehmen von Elon Musk gehörte bereits vor dem Börsengang zur Riege der Hectocorns.


(Foto: imago images/UPI Photo)

Auch die Bewertungen steigen. Investoren sind heute bereit, für den gleichen Anteil an einem Start-up deutlich mehr Geld zu zahlen als früher. Schließlich mangelt es anderswo an Rendite. Niedrige Zinsen, Inflation und hochbewertete Tech-Aktien machen Wagniskapitalinvestments immer attraktiver.

Viele Investoren glauben auch, dass die deutschen und europäischen Start-ups von heute tatsächlich stärker sind als die von vor ein paar Jahren, mit besseren Geschäftsideen und professionelleren Gründerteams.

Der wichtigste Preistreiber aber ist der Wettbewerb zwischen immer mehr Kapitalgebern, die nach Investitionsgelegenheiten suchen. Deshalb steigen die Bewertungen auch dann, wenn die Firmen nicht besser werden. „Firmen, die 2015 auf Kapitalsuche waren, könnten mit den gleichen Kennziffern heute deutlich mehr Geld bekommen als damals“, sagte Andre Retterath vom deutschen Wagniskapitalinvestor Earlybird dem Handelsblatt.

Es klingt auf jeden Fall immer fabelhafter: Erst kamen die Einhörner (englisch: Unicorn), wie die Szene Start-ups mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde US-Dollar nennt. Jetzt ziehen die Decacorns ein, also Zehn-Milliarden-Dollar-Firmen. Seit Juni gibt es mit der Softwarefirma Celonis das erste deutsche Exemplar eines solchen Zehnhorns.

Um ein Hectocorn zu bewundern, muss man derzeit noch in die USA oder nach China sehen: Dort gibt es Firmen, die schon vor dem Börsengang mit mehr als 100 Milliarden Dollar bewertet werden, zum Beispiel Elon Musks Raumfahrtfirma SpaceX.

Für die Start-ups ist das viele Geld ein Segen. Für ihre traditionellen Investoren hingegen ist das Geschäft deutlich härter geworden. Noch vor ein paar Jahren konnten sich Venture-Capital-Firmen (VC) aus Berlin und München eine Firma in Ruhe anschauen, bevor sie sich für oder gegen eine Beteiligung entschieden. Und auch über den Preis konnte man reden, also darüber, wie viel Prozent der Firmenanteile es für wie viel Kapital gibt. Heute dagegen herrscht Stress.

Investoren unter Druck

Rieseninvestoren wie die japanische Softbank und Tencent aus China finanzieren mittlerweile deutsche Firmen. Neben Wagniskapitalspezialisten mischen plötzlich auch Private-Equity-Gesellschaften und Hedgefonds mit beim vermeintlich so lukrativen Geschäft mit der Start-up-Finanzierung. Auch immer mehr Privatanleger versuchen, ihr Erspartes in diesem hochspekulativen Segment unterzubringen – und nehmen dabei allerlei Umwege in Kauf.

Zugleich werden die renommiertesten Investoren der Welt in Deutschland aktiv. Top-Wagniskapitalgeber aus dem Silicon Valley wie Sequoia und Accel arbeiten mit Scouts in den europäischen Start-up-Hauptstädten wie Berlin. „Sequoia und Co. machen hier keine Charity.

Die identifizieren Europa als einen Ort, an dem man investieren muss“, sagt Bjorn Tremmerie, der beim EIF Abteilungsleiter Technologieinvestitionen ist. Und diese neuen Spieler sind aus dem Silicon Valley noch höhere Bewertungen gewohnt.

Eine Strategie in diesem umkämpften Markt: früher dran zu sein als alle anderen. Iris Bleck ist nicht die Einzige, der Investoren praktisch blind Anteile an ihrer Firma abkaufen wollen. Studierende am Center for Digital Technology and Management (CDTM), einem gemeinsamen Institut der beiden Münchener Universitäten, erzählen, sie hätten Anrufe einer Münchener Wagniskapitalfirma erhalten, mit der sie nie zuvor gesprochen hätten: Die Anrufer wollten wissen, ob man vielleicht vorhabe, ein Start-up zu gründen.

Dazu muss man wissen, dass Personio-Gründer Hanno Renner am CDTM studiert hat. Seine Firma für Personalsoftware ist das drittwertvollste Start-up in Deutschland. Das Gleiche gilt für Michael Wax, dessen Logistikfirma Forto ebenfalls ein Einhorn ist.

Auch Teleclinic-Gründerin Katharina Jünger, die Macher des KI-Start-ups Konux und weitere szenebekannte Gründer sind CDTM-Absolventen. Wäre es da nicht ärgerlich, beim nächsten Erfolgs-Start-up den frühen Einstieg zu verpassen?

Gorillas

Der von Kağan Sümer gegründete Schnelllieferdienst ist mit drei Milliarden Dollar bewertet. Gewinne sind aber nicht in Sicht.

(Foto: dpa)

Andre Retterath von Earlybird bringt es auf eine einfache Formel: „Wer beispielsweise an der TU München und danach bei McKinsey war, eine Hypothese auf einem spannenden Markt hat und vielleicht einen Mitgründer, der zuvor schon mal gegründet oder in einem Scale-up gearbeitet hat, ist prädestiniert dafür, dass alle Frühphasen-VCs sagen: Das ist ja spannend.“ Drei, vier, fünf Millionen Euro kann man mit diesen Voraussetzungen durchaus einsammeln.

Das Problem: Potenzial plus Geld ergibt nicht immer Erfolg. Längst gibt es Fälle, bei denen Insider bestimmte Bewertungen nicht mehr nachvollziehen können – aber keiner will anfangen, öffentlich auf den anderen zu zeigen. Nur im Hintergrund sagt einer über ein Fintech in Berlin: „Gute Techies, erfahrener Investor, aber was die machen, ist total Banane.“ Die Bewertung von 50 Millionen Euro für die Firma sei „definitiv bubbleartig“.

Es gibt schon jetzt Fälle, in denen der Hype verblasst. Über den Schnelllieferdienst Gorillas hieß es noch im Sommer, er würde Kapital auf einer Bewertungsbasis von sechs Milliarden Dollar einsammeln.

Zur gleichen Zeit blockierten Gorillas-Kuriere in Berlin die Lager, sie protestierten gegen den Umgang mit einem Mitarbeiter. Zudem blieb weiter unklar, wie der Weg in die Profitabilität gelingen soll. Schließlich kam bei der Finanzierungsrunde eine Bewertung von drei Milliarden Dollar heraus. Ein Dämpfer.

Mehr Fantasie als Mathe

Sicher, im Geschäftsmodell von Wagniskapitalfirmen ist es bereits angelegt, dass einige Start-ups mehr Geld bekommen, als sie eigentlich wert sind. In der Gründung von heute den Börsengiganten von morgen zu erkennen, grenzte schon immer an Hellseherei. Sequoia-Chef Doug Leone sagt im Handelsblatt-Interview, bei der Entscheidung über ein Investment in der Frühphase mache der Gründer oder die Gründerin 90 bis 95 Prozent aus.

Grafik

In späteren Phasen gibt es jedoch durchaus Anhaltspunkte, um eine Firma zu bewerten. Zum Beispiel kann man sich ansehen, wie hoch die Bewertung einer börsennotierten Firma mit einem ähnlichen Geschäftsmodell in Relation zu deren Umsatz ist – und die gleiche Rechnung auf das Start-up anwenden. So kann aus anfänglicher Spekulation eine immer präzisere Rechnung werden.

Bei einer besonders innovativen und wachstumsstarken Firma lässt sich unter Umständen auch begründen, warum die Bewertung höher ausfällt. Für die Maßstäbe, die 2021 angelegt wurden, braucht man aber ziemlich viel Fantasie, um noch auf eine schlüssige Erklärung zu kommen.

Glaskugelbewertungen

Vor einem Jahr wurde Hanno Renners Softwarefirma Personio mit 1,4 Milliarden Euro bewertet. Elf Monate später legten sich die Investoren bereits auf 5,5 Milliarden Euro fest. Allein mit Wachstum ist dieser Bewertungssprung nicht zu begründen.

Zwar versucht Personio, seine Kennzahlen geheim zu halten, so wie auch die meisten anderen Start-ups. Aber wer kann so etwas Aufregendes schon für sich behalten: Die Bewertung soll dem Hundertfachen des Umsatzes entsprechen, raunt es in der Szene.

Mit solchen sogenannten „Multiples“ wird man schnell zum Einhorn – dafür würden im Extremfall zehn Millionen Jahresumsatz reichen, mancher Handwerksmeister schafft mehr. Beim deutschen Vorzeige-Softwarekonzern SAP liegt das Verhältnis zwischen Marktkapitalisierung und geplantem Umsatz für 2022 bei 9,8. „Man muss sich ein bisschen davon lösen, dass die in anfänglichen Finanzierungsrunden erzielte Bewertung der Start-ups der reelle Wert ist“, sagt Iris Bleck.

Wer jetzt aber Realitätsverlust attestiert, der wird sich anhören müssen, dass er das Spiel noch nicht verstanden habe. Entscheidend sei nicht der aktuelle Umsatz, sondern dessen Wachstumstempo und wie lange es noch anhalten kann.

Debit-Karte von Revolut

Fintechs gelten bei Experten als besonders anfällig für überhöhte Bewertungen.


(Foto: obs)

Tatsächlich zahlen Wagniskapitalgeber gerade bewusst Bewertungen, von denen sie selbst glauben, dass ihre Portfoliofirmen „da noch reinwachsen müssen“. Auch das hat mit dem Wettbewerb zu tun und mit einem Phänomen, das denglisch „pre-empten“ genannt wird, also zuvorkommen: Wagniskapitalfirmen wollen ihre Wettbewerber nicht nur bei Neugründungen, sondern auch bei reiferen Start-ups ausstechen.

Deshalb melden sie sich oft bereits kurz nach einer Finanzierungsrunde und bieten den Gründern an, schon jetzt die Bewertung zu zahlen, die sie gemäß ihren Wachstumsplänen erst in einem Jahr erhalten würden. Das ist Investieren mit der Glaskugel.

Auf die Frage, warum das Nachhilfe-Start-up Gostudent sieben Monate nach einer 205-Millionen-Euro-Runde schon wieder 300 Millionen braucht, sagte Gründer Felix Ohswald dem Handelsblatt, er habe das Geld nicht gebraucht, er habe nur „das Momentum“ nutzen wollen. Die Bewertung der 2016 in Wien gegründeten Firma hat sich dadurch auf drei Milliarden Euro mehr als verdoppelt.

Investieren mit der Gießkanne

Neue Bewertungsformeln, neue Investmentstrategien, auf all das kann sich die Wagniskapitalszene einstellen. Was die Investoren auf der „SuperVenture“-Konferenz wirklich umtrieb, waren die „Tigers“. Gemeint sind Hedgefonds wie Tiger Global und Coatue, die plötzlich auch in Deutschland investieren und nicht nach den allgemein akzeptierten Spielregeln der Bestenauslese spielen.

„Es scheint, als wollen diese Investoren gewissermaßen die ganze Industrie als Indexfonds aufsetzen“, sagt Earlybird-Investor Retterath. Bei Themen, die sie als spannend identifizieren, investieren diese Fonds gleich in mehrere Teams, frei nach dem Motto: Einer wird den Markt verändern, wir wissen nur noch nicht, wer.

Und auch nach dem Investment bleiben sie passiv. Ein Marktkenner sagt, man könne diese Fonds anrufen, um nach dem Wetter in New York zu fragen, aber mehr wollten sie gar nicht. „Am Anfang haben die Hedgefonds nur kurz vor dem Börsengang investiert, dann auch in der Spätphase, jetzt steigen sie zunehmend auch schon in der Frühphase ein.“ Damit treiben diese Fonds die Preise auf dem deutschen Start-up-Markt nach oben.

Fintech on fire

Nicht zuletzt durch solche Faktoren ist eine noch recht junge Start-up-Kategorie gleichsam von null auf Hype durchgestartet: „Die Bewertungen für Krypto- und Blockchain-Start-ups sind sehr hoch“, sagt der Fondsberater Sven Weber. „Oft ist noch unklar, welche Konzepte und Geschäftsmodelle sich durchsetzen werden.“

Extrem hohe Bewertungen gibt es auch im Finanzsektor. Je fünf der wertvollsten Start-ups in Deutschland und Europa sind Zahlungsdienstleister, Neobanken, Trading-Apps oder Versicherungen.

Europaweit führen die Zahlungsanbieter Klarna und Checkout.com mit Bewertungen von 45,6 und 40 Milliarden Dollar das Ranking an, Platz drei hält derzeit die Neobank Revolut mit 15 Milliarden Dollar. Fragt man in der Branche nach blasenartigen Entwicklungen, fällt immer wieder ein Begriff: Fintech.

Ethereum-Farm in Rumänien

Ein Angestellter inspiziert den Schürfprozess der neuen und gehypten Coins.


(Foto: Bloomberg)

Selbst die Stealth-Fintech-Gründerin Iris Bleck sieht die Gefahr: „Es sind komplexere Produkte, gleichzeitig sind hohe Margen und Wachstumsraten möglich“, sagt sie. Die Trading-Apps beispielsweise hätten in der Coronapandemie viele Nutzer gewonnen und Topbewertungen erzielt. „Aber wahrscheinlich verbietet die Europäische Zentralbank zumindest einen Teil des Geschäftsmodells.“

Betroffen sein könnte davon auch Trade Republic. Mit einer Fünf-Milliarden-Dollar-Bewertung (4,3 Milliarden Euro) nimmt der Berliner Neobroker von CEO Christian Hecker derzeit Platz vier im deutschen Ranking ein.

Der verblüffendste Fall in Deutschland aber ist N26. Im September konnte jeder sehen, dass dieses Einhorn lahmt, als Sanktionen durch die Bafin bekannt wurden. Die Finanzaufsichtsbehörde machte das schnelle Wachstum dafür verantwortlich, dass das Start-up seine Risiken nicht ausreichend managen konnte und häufig mit Betrugskonten auffiel. Schließlich bestätigte die Finanzaufsicht, das Neukundenwachstum der N26 Bank GmbH werde „auf 50.000 Neukunden pro Monat begrenzt“.

Christian Hecker

Der Trade-Republic-Mitgründer steht mit seinem Neobroker auf Platz vier der wertvollsten deutschen „Unicorns“.


(Foto: Trade Republic)

Die Strafe klingt fast wie ein Todesurteil für ein Start-up, das per Definition schnell wachsen muss. Doch obwohl die Investoren diese Maßnahmen kannten, einigten sie sich mit den Gründern Valentin Stalf und Maximilian Tayenthal auf eine Bewertung von neun Milliarden Euro. Dahinter steht wohl der Glaube, dass es nur um Wachstumsschmerzen geht, die vorübergehen. Zweifel am derzeitigen Management äußerte öffentlich jedenfalls keiner der Beteiligten.

Ein anderer Investor beklagt aber auch, dass es immer schwieriger werde, mit Kritik am Management in hoch bewerteten Firmen durchzudringen. Schließlich gebe es immer potenzielle Neuinvestoren, die den Gründern erzählten, was für eine großartige Firma sie da aufgebaut hätten.

Die Chancen der Blase

Es gibt zwei verschiedene Arten, die Entwicklungen zu deuten: Entweder steuert die Start-up-Welt auf die nächste Blase zu. Oder Deutschland ist ganz einfach da angekommen, wo es seit vielen Jahren hinwollte.

„Jahrelang haben wir uns gewünscht, dass sich hier ein Wagniskapitalumfeld wie im Silicon Valley entwickelt“, sagt Bjorn Tremmerie vom EIF. Hohe Bewertungen wie bei amerikanischen Verhältnissen brächten auch Risiko mit sich. „Wir sollten jetzt nicht klagen, dass wir Silicon Valley in Europa haben.“

Reiner Braun gehört zu denen, die in einigen Bereichen des Marktes schon eine Überhitzung sehen. Der Professor für Innovationsfinanzierung, Venture-Capital und Private Equity an der Technischen Universität München findet das nicht mal schlimm: „Am Ende des Tages bedeutet mehr Kapital, dass es mehr Spielraum gibt, um zu wachsen, kleine Fehler zu machen und zu korrigieren“, sagt er. Es gebe eine „sehr überzeugende Forschung“, dass in Blasen oder heiß gelaufenen Märkten besonders interessante und innovative Start-ups finanziert werden.

In der Breite untersucht haben das Phänomen zum Beispiel Ramana Nanda und Matthew Rhodes-Kropf. Ergebnis einer Studie von 2013: Die Boom-Start-ups „scheiterten mit größerer Wahrscheinlichkeit vollständig, waren aber auch mit größerer Wahrscheinlichkeit extrem erfolgreich und innovativ“. Und ist das Venture-Capital-System nicht genau für solche Szenarien gemacht? Schließlich heißt es nicht umsonst „Wagniskapital“.

So funktioniert Venture-Capital

Um das Verhalten der Wagniskapitalgeber zu verstehen, muss man ihr Geschäftsmodell erfassen. Ein typischer Frühphasenfonds investiert in 25 bis 30 sehr junge Unternehmen. In jedem dieser Start-ups müssen die Investoren das Potenzial sehen, dass es ihnen mindestens das Volumen ihres gesamten Fonds zurückbringt, also das 25- bis 30-Fache der Investitionssumme.

Tatsächlich gehen die Investoren aber davon aus, dass nur eine oder zwei ihrer Firmen dieses Ziel gemeinsam erreichen. Dieser Fall würde bei einem 300-Millionen-Euro-Fonds zum Beispiel eintreten, wenn der Wagniskapitalgeber zwei Einhörner im Portfolio hat, an denen er beim Verkauf oder Börsengang noch jeweils 15 Prozent hält.

Ein Drittel ihrer Investments wird die Wagniskapitalfirma mehr oder weniger komplett abschreiben. Der Rest der Firmen wird in etwa zum Selbstkostenpreis verkauft. Über den Preis wird dann oft höfliches Stillschweigen vereinbart.

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Das Problem ist, dass es den deutschen Wagniskapitalgebern in der aktuellen Marktsituation kaum noch möglich ist, sich einen 15-prozentigen Anteil an einem Start-up zu sichern. Weil die Anteile kleiner und die Fonds größer werden, müssen die sogenannten Outlier (Ausreißer) am Ende größer sein. Ein bloßes Unicorn reicht oft nicht mehr, um den ganzen Fonds ins Plus zu bringen.

Jeder wisse, dass es auf die wenigen Ausnahmefirmen ankomme, sagt Earlybird-Manager Retterath. „Bei den Outliern ist man bereit, auch einen höheren Preis zu zahlen“, sagt er. Wenn man eine solche Firma vermeintlich identifiziert habe, dann wolle man dort „auf Teufel komm raus“ auch einsteigen.

„Ob du für deine 15 Prozent an einer X-Milliarden-Firma acht oder elf Millionen gezahlt hast, das ist am Ende vollkommen egal“, erklärt er. Selbst wenn sich der Markt kollektiv irrational verhält, verhalten sich Investoren aus individueller Perspektive also weiter rational.

Alles eine Frage des Exits

Die entscheidende Frage bleibt am Ende, wer die himmelhohen Preise für die großen Hoffnungsträger noch zahlen soll. Auch Wagniskapitalgeber, die auf die späte Wachstumsphase spezialisiert sind, setzen schließlich noch auf eine Wertsteigerung.

„Wir sind noch nicht unbedingt in einer Blase, aber in jedem Fall haben wir einen Hochbewertungszyklus“, sagt Bjorn Tremmerie vom EIF. „Dass viele Fondsmanager in diesem Umfeld noch auf eine Verdopplung oder Verdreifachung ihrer Investition setzen, kann ich nicht nachvollziehen.“

Bei den Börsengängen jedenfalls sieht es derzeit aus, als wäre ein Limit erreicht. „Die schlechte Performance von Tech-Börsengängen ist ein Warnsignal und zeigt, dass es irgendwo einen Deckel für die Bewertungen gibt“, sagt Sven Weber, der den Wagniskapitalfonds Knightsbridge Advisors berät.

Auch sei das Risiko zurzeit größer, dass nach einem Börsengang eine Korrektur der Bewertung stattfindet. Steigende Zinsen seien ebenfalls ein Thema: „Wir sind in einer Phase, in der Investoren sehr ernsthaft auf Geschäftsmodelle der Start-ups schauen und sich fragen müssen, wie hoch ihre Risikobereitschaft ist.“

Dan Morgan, Portfoliomanager beim Vermögensverwalter Synovus, analysiert: „Unprofitable Tech-Unternehmen und solche mit Geschäftsmodellen, die sich noch nicht bewährt haben, werden es schwer haben.“ Derzeit flüchteten Anleger eher in Qualitätsaktien wie Microsoft, Apple, Nvidia und Alphabet.

Soll die Blase doch platzen!

Welche Firmen heute überbewertet sind und wo der Markt zu heiß gelaufen ist, wird sich vielleicht erst in einigen Jahren zeigen. Fünf Gründe sprechen jedoch dafür, dass eine Marktkorrektur dieses Mal nicht so dramatisch ausfallen würde wie bei der Dotcom-Blase im Jahr 2000.

  1. Die Bewertungen in Deutschland sind im internationalen Vergleich immer noch relativ niedrig. „Da Deutschland und Europa der Entwicklung in den USA ein paar Jahre hinterher sind, glaube ich, dass kleinere Anpassungen in den USA kein größeres Problem für Europa sein werden“, sagt Berater Sven Weber.
  2. Oft wird beklagt, dass die Fonds der europäischen Wagniskapitalgeber nicht groß genug sind, um große Finanzierungen über Hunderte Millionen Euro zu stemmen, die in der späten Wachstumsphase von Einhorn-Fohlen kurz vor dem Börsengang erforderlich sind. Das könnte bei einer Korrektur zum Vorteil werden. „Investoren, die in späten Runden, kurz vor einem Börsengang einsteigen, stehen derzeit am meisten im Risiko“, sagt Weber. Und das sind in der Regel nichteuropäische Fonds. Wer mit weniger Geld schon früh dabei war, ist hingegen nicht darauf angewiesen, dass die aktuellen Bewertungen noch übertroffen werden.
  3. Schlaue Investoren sichern sich schon jetzt gegen einen Crash ab, ohne dass es jemand merkt. „Die hohen Bewertungen zurzeit sind auch eine Möglichkeit, um zu verkaufen“, sagt Tremmerie. Viele Wagniskapitalgesellschaften würden das auch tun und in späten Finanzierungsrunden einen Teil ihrer Anteile weiterverkaufen. Wenn das Interesse an einer Firma groß ist, müssen die Frühphaseninvestoren nicht bis zum Börsengang warten, um ihre Gewinne zu sichern.
  4. Solange nur ein Teil der Firmen scheitert, ist das zumindest für die Angestellten kein großes Problem. Angesichts des aktuellen Fachkräftemangels finden sie schnell einen neuen Job. Wenn ein Start-up vor dem Aus steht, kaufen andere Firmen sich oft ganze Teams oder sogar die gesamte Firma, nur um sich die knappen ITler, Vertriebsexperten und Marketingstrategen zu angeln.
  5. Investor Tremmerie glaubt, dass der Gründergeist in Deutschland inzwischen stark genug ist, um auch eine drastische Korrektur zu überstehen: „Selbst nach einem Crash würde das Ökosystem in Europa nicht in einen nuklearen Winter wie 2003, 2004 und 2005 zurückfallen“, sagt er.

Was bringt die sanfte Korrektur?

In den vergangenen Jahren haben sich die deutschen und europäischen Start-ups stürmisch entwickelt. Wagniskapitalfirmen wie Headline, Project A und Cherry Ventures aus Berlin oder HV Capital und Earlybird aus München haben zusammen mit vielen anderen europäischen VC-Gesellschaften enorm von dieser Entwicklung profitiert.

„Wenn man jeweils die besten 25 Prozent der Fonds aus den Jahren 2010 bis 2021 vergleicht, dann schlagen die Investoren aus Europa in acht von elf Jahren die US-Investoren“, sagt Tremmerie mit Verweis auf Daten der Start-up-Datenbank Pitchbook.

Viel spricht dafür, dass sich das Niveau wieder angleichen wird, weil US-Fonds verstärkt in Europa investieren und so die hiesigen Fonds mehr Wettbewerbsdruck haben. „Über die breite Masse der VCs könnten wir Verhältnisse sehen, wie es sie in den USA schon gibt: dass es viel mehr Wagniskapitalfonds gibt, aber nur ganz wenige wirklich profitabel sind“, sagt Gründerin Bleck.

Ob alle zusammen oder viele nacheinander: Deutsche Einhörner werden in den kommenden Jahren ein Stück weit entzaubert werden. Bjorn Tremmerie hat am Ende nur eine Warnung: „Man muss diszipliniert bleiben und sollte nicht versuchen, den Ausstieg am höchsten Punkt zu timen“, sagt er. Selbst die besten Portfoliomanager lägen dabei nicht immer richtig.

Zumindest für ihn ist Aufhören keine Option: „Wer jetzt hastig aussteigt, verpasst es womöglich, dass aus einer seiner Portfoliobeteiligungen das nächste Google oder Amazon wird“, sagt er.

Reiner Braun überlegt schon, wer die großen Profiteure der Einhornblase werden könnten: „Es ist jetzt auch Geld da, um aus Bayern heraus die Raumfahrtfirma Isar Aerospace aufzubauen.“ Das gelte auch für die Batteriezellenfirma Customcells und die Luftfahrtfirmen Lilium und Volocopter. Braun: „Wenn die Flugtaxis tatsächlich im großen Maßstab entstehen, sind wir als Standort nicht schlecht positioniert.“

Und wenn nicht, dann wird der Traum vom fliegenden Taxi vielleicht zum Symbol des irrationalen Überschwangs kurz vor der überfälligen Korrektur.

Mitarbeit: Astrid Dörner

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