„Russland wird zum Hinterhof der Weltwirtschaft“

Riga Stolz hält Sergei Belov, stellvertretender Vorsitzender der russischen Notenbank, den neuen 100-Rubel-Schein vergangene Woche in Moskau in die Kamera. Doch die frisch gedruckten Geldscheine mit den patriotischen Motiven werden so schnell nicht in Umlauf kommen. Bankkundinnen und -kunden können den neuen Schein, der umgerechnet etwa 1,55 Euro wert ist, nicht abheben, weil sich die Software der Automaten nicht aktualisieren lässt. Der Grund: Die internationalen Hersteller haben Russland den Rücken gekehrt.

Damit steht der neue 100-Rubel-Schein sinnbildlich für das Dilemma der russischen Wirtschaft: Auf den ersten Blick scheint die Lage trotz internationaler Sanktionen überraschend entspannt, die Supermarktregale sind gefüllt, der Nahverkehr funktioniert, der Rubel ist trotz der aktuellen Abwertung stärker als vor dem Inkrafttreten der Sanktionen – und Moskau gibt sich nach außen betont gelassen. Darunter aber brodelt eine Gemengelage, die die russische Wirtschaft für Jahrzehnte schädigen wird, glaubt man Expertinnen und Experten.

„Sehr problematisch“ sei die wirtschaftliche Lage Russlands derzeit, urteilt zum Beispiel der Berliner Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Alexander Libman, der selbst aus Russland stammt. „Russland schlittert langfristig in eine Krise, die durch die Sanktionen bestimmt wird“, ist er sich sicher.

In der „schlimmsten Rezession der letzten 30 Jahre“ stecke das Land, sagt Sergei Guriev, Wirtschaftsprofessor am Pariser Institut d’Etudes Politiques und früherer Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). „Die russische Wirtschaft bricht zwar derzeit nicht zusammen. Sie geht aber durch eine wirklich üble Rezession.“

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Der Internationale Währungsfonds (IWF) gibt ihnen recht: In Russland dürfte die Wirtschaft im laufenden Jahr massiv einbrechen. Statt eines Wachstums erwartet der IWF dort einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 8,5 Prozent.

Allerdings gibt es Indikationen, die auf den ersten Blick beruhigend wirken: So sinkt die Inflation mittlerweile leicht, der Leitzins liegt wieder auf demselben Niveau wie vor der groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar, der Anstieg der Verbraucherpreise scheint vorerst zum Halten gekommen zu sein.

Neuer 100-Rubel-Schein

Kommt nicht in den Umlauf, weil die Software der Geldautomaten dafür nicht ausgelegt ist.

(Foto: Reuters)

Ist ein Kollaps der russischen Wirtschaft also überhaupt noch erwartbar – oder waren die Erwartungen des Westens an die Sanktionen maßlos überzogen? Haben sie ihr Ziel verfehlt, Russland daran zu hindern, den Krieg gegen die Ukraine fortzuführen?

„Die große wirtschaftliche Krise ist schon da“

Keinesfalls, ist Ökonom Libman überzeugt. „Die große wirtschaftliche Krise ist schon da. Aber die Busse fahren eben noch, die Heizungen funktionieren noch“, so der gebürtige Russe. Es sei schlichtweg naiv, auf einen kurzfristigen Effekt der Sanktionen zu hoffen. „Wirtschaftliche Katastrophen entwickeln sich immer langfristig“, erklärt er.

Auch Maria Shagina vom Londoner Thinktank International Institute for Strategic Studies (IISS) sieht das so. „Insgesamt hat sich die russische Wirtschaft auf kurze Sicht stabilisiert“, so die Sanktionsexpertin, „ähnlich wie 2014.“ Damals schon war Russland als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim mit internationalen Sanktionen belegt worden. „Aber die langfristigen Effekte werden dieses Mal viel stärker ausfallen als 2014“, sagt Shagina.

Wirtschaftliche Katastrophen entwickeln sich immer langfristig. Alexander Libman, Politologe

Janis Kluge, Russlandexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), verdeutlicht das am Beispiel der russischen Autoindustrie. Als vergangenen Mittwoch Russlands staatliche Statistikbehörde Rosstat die neuesten Zahlen zur Produktion im Land veröffentlichte, war selbst Kluge von einigen der Zahlen überrascht. So brach der Automobilsektor zwischen Mai 2021 und Mai 2022 um fast 97 Prozent ein. Bei Lkw beträgt das Minus knapp 39, bei Waschmaschinen 59, bei Glasfaserkabeln 81 Prozent.

Autoindustrie „quasi zum Stillstand gekommen“

„Wir wussten ja bereits, dass die russische Autoindustrie stark abhängig ist von internationalen Partnern. Dass die Produktion quasi zum Stillstand gekommen ist, ist aber wirklich beachtlich. Immerhin hängen knapp 600.000 Arbeitsplätze an der Branche, genauso wie die Zulieferer“, betont Kluge.

Lada-Fabrik in Ischewsk

Mittlerweile stehen in Ischewsk die Bänder still – das Foto stammt vom Februar dieses Jahres.

(Foto: Reuters)

Auch wenn es sich um „punktuelle Auswirkungen“ handele, zeige diese Entwicklung, dass „die Sanktionen die russische Industrie über Lieferketten wirklich hart treffen“, ist Kluge überzeugt. Die Zahlen deuten seiner Einschätzung nach „nicht nur auf eine Delle in der Konjunktur hin, sondern auf eine richtige Bruchstelle.“ Allerdings könne ein Teil der Rückgänge auch auf selbst auferlegte Beschränkungen einzelner Unternehmen zurückzuführen sein, merkt Kluge an.

Evrim Eken, die an der Universität St. Petersburg im Bereich internationale Beziehungen forscht, sieht im russischen Autobauer Avtovaz ein Beispiel dafür, wie Sanktionen in der Industrie ihre Wirkung entfalten: Arbeitsplätze werden vernichtet, die Einkommen sinken. Das Unternehmen wurde im Mai verstaatlicht.

Kluge zufolge befinden sich besonders die Bereiche Logistik und die Zahlungsinfrastruktur durch die Sanktionen in einer „Phase von Chaos und Umorientierung“. In beiden Bereichen könnte sich die Lage zwar kurzfristig bessern, weil die Branchen neue Wege fänden, mit den Maßnahmen umzugehen. Diese gegenläufigen Effekte können die Wirkung der Sanktionen aber nicht ausgleichen, so Kluge.

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„Unter dem Strich steht langfristig ein großes Minus für Russland“, urteilt er – und prognostiziert einen massiven Wohlstandsverlust. Das BIP werde so nachhaltig sinken, „dass der Rückstand auch langfristig nicht mehr aufzuholen sein wird“, so Kluge. „Insgesamt wird Russland zum Hinterhof der Weltwirtschaft.“

Nicht alle Sanktionen wirken gleichermaßen

Kritik an den Sanktionen hält er trotzdem für berechtigt. „Im Rückblick hat die erste Phase der Sanktionen, vor allem das Paralysieren des Bankensystems, nicht gut funktioniert“, sagt Kluge. Dass die akute Notlage, die man damals herbeiführen wollte, nicht eingetreten ist, führt er auf die eigenen Abhängigkeiten der westlichen Staaten zurück. Die Hoffnung, dass Putin aus Sorge um die Wirtschaft auf seine militärische Aggression verzichtet, habe man mittlerweile aufgegeben. Nun gehe es darum, „den Staat in Gänze und damit auch militärisch zu schwächen.“

Doch nicht alle Sanktionen sind gleich effektiv. „Am wirkungsvollsten waren bisher die Sanktionen gegen die Zentralbank“, sagt Libman. Laut Guriev haben diese „eine maximale Wirkung“ erzielt. Schon im April sagte Russlands Notenbankchefin Elwira Nabiullina, die Wirtschaft leide zunehmend unter den Sanktionen.

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IISS-Expertin Shagina hält auch die Exportkontrollen bei Technologien, die Russland nicht im eigenen Land produzieren kann, für effektiv. „Wir können deren Effekt auf das russische Militär schon sehen“, sagt Shagina. Erst vergangene Woche hatten die USA fünf chinesische Unternehmen – allesamt Technologiefirmen – auf eine schwarze Liste gesetzt, weil diese angeblich Russlands Militär- und Verteidigungsunternehmen vor und während der Invasion in der Ukraine unterstützt haben.

Die Forscherin sieht durchaus Möglichkeiten für externe Eingriffe: „Je länger der Krieg dauert, desto stärker ist China mit der Wahl konfrontiert, Russland zu helfen oder nicht.“ Grundsätzlich sieht sie die Effektivität der Sanktionen aber in deren Zusammenspiel auf verschiedenen Ebenen.

Genaue Zahlen sind dabei schwer zu erhalten, Russland hat die Veröffentlichung einiger wichtiger Statistiken vor einigen Monaten eingestellt, darunter die detaillierte Auflistung von Importen und Exporten. Doch durch die Veröffentlichungen der Handelspartner lässt sich ein ungefähres Bild der Lage zeichnen.

So gingen die Verkäufe von Handelspartnern nach Russland, die zusammen fast die Hälfte der Importe im Jahr 2021 ausmachten, im April gegenüber dem Vorjahr um etwa 40 Prozent zurück, wie Berechnungen des Nachrichtendienstes Bloomberg zeigen. Selbst Staaten wie China, die sich den Sanktionen nicht angeschlossen haben, kürzen Warenlieferungen.

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„Bis die Lieferketten neu konfiguriert sind, werden die Produzenten mit Engpässen konfrontiert sein und der Lebensstandard wird wahrscheinlich weiter sinken“, meint auch Bloomberg-Ökonom Scott Johnson.

Weniger gebracht haben dürfte hingegen, zumindest auf kurze Sicht, der Zahlungsausfall Russlands, der ebenfalls durch Sanktionen herbeigeführt wurde. De facto verfügt Russland über genügend Mittel, um seine Schulden gegenüber ausländischen Investoren zu begleichen – eine klassische Staatspleite sieht anders aus.

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Sanktionsexpertin Shagina zufolge könnte die Situation aber noch kippen. Zwar sei die kurzfristige Wirkung „nicht signifikant“. Langfristig jedoch werde der Zahlungsausfall möglicherweise „Russlands Möglichkeiten beeinflussen, Geld zu leihen, da er sich auch auf Russlands Ruf auswirkt“.

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Russlands Gegensteuern wirkt nur bedingt

Andere Punkte hält die Expertin sogar für kontraproduktiv, so etwa das Ölembargo, das im Dezember in Kraft treten soll. „Es wurde eingerichtet, um China und Indien daran zu hindern, sich zu engagieren – aber das ist nicht geschehen. Deshalb sprechen wir jetzt über die Preisobergrenze“, so Shagina.

„Die Frage, wie viel und wie lange blockfreie Länder wie China und Indien Russland weiterhin unterstützen werden, ist zentral“, sagt sie. „Diese Frage bestimmt darüber, wie schnell die russische Wirtschaft zusammenbrechen wird, in drei bis vier Jahren ist sie vielleicht wieder auf dem Stand der 1990er-Jahre.“

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Bei jenen Sanktionen, die ihre Wirkung entfalten, versucht Russland gegenzusteuern. Um die ausfallenden Importe auszugleichen, setzt Moskau etwa auf Parallelimporte. Gemeint ist damit der Import von Waren aus dem Ausland, ohne dass die Zustimmung des Herstellers vorliegt. Bis Ende 2022 ist das in Russland legal, wie der Kreml jüngst regelte.

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Doch Russlands Importprobleme lassen sich damit nur begrenzt lösen. Die Ware ist teurer, von schlechterer Qualität und in geringerer Stückzahl verfügbar als zuvor, wie Sanktionsexpertin Shagina erklärt. Zwar sprechen russische Experten, die die staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti zitiert, davon, 30 bis 40 Prozent der ausgefallenen Importe so zu ersetzen. SWP-Experte Kluge hingegen betont: „Auf Parallelimporten kann man keine Lieferketten aufbauen. Sie helfen lediglich, das Gefühl der Isolierung bei den Endkunden etwas zu mindern.“

Arbeitslosigkeit und Verteilungskämpfe als potenzielle Wendepunkte

Ohnehin sinkt die Stimmung der Verbraucher, wie Shagina konstatiert: „Für die russische Regierung ist es wichtig, die Inflation im Zaum zu halten“, erklärt sie. Laut einer kürzlich vom russischen Meinungsforschungsinstitut Levada durchgeführten Umfrage, auf die sie verweist, planen mehr als drei Viertel der Bevölkerung aktuell keine großen Anschaffungen, was bedeute, dass sich die Lebensbedingungen verschlechtern. „Und etwa die Hälfte der russischen Bevölkerung hat keine Ersparnisse.“

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Noch würden viele westliche Unternehmen ihre Mitarbeiter in Russland weiterbezahlen. „Aber sobald die Arbeitslosigkeit durchschlägt und die Sanktionen jeden Haushalt treffen, wird sich das Bild ändern. Dann bröckelt die Unterstützung für die Regierung.“ Aus diesem Grund sei Moskau sehr darauf bedacht, Gehälter oder Renten nicht zu kürzen, sagt Shagina.

Ob das gelingt, ist fraglich. Laut Ökonom Guriev dürften die Einkommen russischer Haushalte im laufenden Jahr inflationsbereinigt um insgesamt zehn Prozent sinken. Ob es durch solche Entwicklungen zu einer Wende kommt, wie Shagina sie sieht, ist für Guriev aber nicht sicher. „In jedem demokratischen Staat würde eine solche Entwicklung Massenproteste auslösen. Aber Russlands Repressionsapparat ist stark und gut finanziert.“

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SWP-Experte Kluge weist zudem auf die Arbeitslosigkeit, die nach seinen Schätzungen bis zum Jahresende von derzeit knapp vier auf bis zu acht Prozent steigen könnte. Besonderes Augenmerk richtet er aber auf den Staatshaushalt. „Dort sind die Mittel begrenzt, und Ende des Jahres dürften die meisten Vorräte erschöpft sein.“ Daraus könnten sich neue Verteilungskämpfe innerhalb der Eliten entwickeln. Viele reiche und „früher mächtige Personen“ hätten mittlerweile realisiert, dass ihre wirtschaftlichen Vorhaben in Russland keine Zukunft mehr haben.

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Guriev sieht noch eine Möglichkeit, um den Druck auf Moskau zu erhöhen. „Putin wird sein Vorhaben, die Ukraine zu zerstören, nicht ändern. Aber seine Ressourcen erschöpfen sich. Das Hauptproblem besteht also darin, ihm die Möglichkeit zu nehmen, seine Soldaten zu bezahlen. Dafür muss der Westen seine Öleinnahmen reduzieren.“

Schon bevor das Embargo im Dezember in Kraft tritt, sei es daher wichtig, dass es „so etwas wie Ölzölle, Steuern oder Preisobergrenzen gibt“, so Guriev. Russland könnte seine Öl- und Gasexporte zwar nach Asien umleiten, wie Forscherin Eken ausführt. Doch der Aufbau der Infrastruktur dafür „erfordert jede Menge Zeit und Investitionen in Milliardenhöhe“, so Eken.

Josep Borrell warnt vor „erheblichen Destabilisierungsrisiken“

Für Europa hängt von der Wirkung der Sanktionen vieles ab. Auf dem Spiel steht auch die eigene Sicherheit. Selbst wenn der Krieg in der Ukraine zu einem Ende kommen sollte, würde die globale Sicherheitslage durch die neue Rolle Russlands langfristig instabiler, warnt etwa Forscher Libman. „Die russische Armee wird dauerhaft geschwächt, das sehen wir jetzt schon“, erklärt er.

Ein dauerhaft armes Russland sei aber auch „eine Quelle für weitere Sicherheitsrisiken“: So entstehe im Osten Europas derzeit ein Staat, dessen Eliten und Bevölkerung massiv gegen den Westen seien. „Selbst wenn der Krieg vorbei ist oder Putin einmal nicht mehr da ist: Die letzten vier Monate haben uns in eine Welt katapultiert, die sehr schnell immer instabiler und unsicherer wird“, so Libman.

So warnte auch Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik, jüngst vor „erheblichen Destabilisierungsrisiken in vielen Regionen und Ländern“. SWP-Experte Kluge hingegen zeigt sich in diesem Punkt gelassen. „Russland wird in der Außenpolitik tendenziell dann aggressiver, wenn es sich nach innen stark fühlt“, sagt er. Auch wenn Moskau diesen Eindruck vermitteln will: Die Zahlen sprechen gegen das Bild von innerer Stärke.

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