„Russland will die ukrainische Zivilbevölkerung terrorisieren“

Brüssel, Riga Nato-Expertin Stefanie Babst hält weitere massive Angriffe auf Kiew und andere Großstädte in der Ukraine durch Russland für möglich – „nicht, um diese Städte militärisch einzunehmen, sondern um die Bevölkerung zu zermürben und die Regierung von Prasident Selenski unter Druck zu setzen“. Ziel der russische Armee, die ukrainische Zivilbevölkerung zu terrorisieren. 

Dem Handelsblatt sagte die frühere Leiterin des strategischen Planungsstabs der Nato zudem, dass Russland „Fakten schaffen“ und schon im September den Donbas sowie die besetzten Gebiete im Süden der Ukraine annektieren könnte. Eine Gegenoffensive der Ukraine ist Babst zufolge aktuell noch nicht möglich: „Aber je schneller sich die ukrainischen Streitkräfte neu formieren können und die notwendigen Waffensysteme aus dem Westen bekommen, desto größer dürfte ihre Chance sein, weitere Vorstöße der Russen zu verhindern und gegebenenfalls Gegenangriffe zu starten.“

Babst arbeitete 22 Jahre in verschiedenen Führungspositionen in der Nato, zuletzt als Chefin des strategischen Vorausschauteams des Nato-Generalsekretärs. Seit März 2020 ist die promovierte Politologin als strategische Beraterin tätig.

Die Nato-Expertin warnt zudem vor der wachsenden Nähe zwischen China und Russland. „China ist in technologischer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Hinsicht eine viel komplexere Bedrohung für den Westen als Russland.“ Eine „umfassende und effektive Eindämmungsstrategie“ habe man gegenüber China aber leider noch nicht.

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Kippt der Krieg in der Ukraine zugunsten Russlands?
Ein detaillierter Lageüberblick ist schwierig, da beide Seiten einen Informationskrieg führen. Nach meiner Einschätzung kämpfen beide Kriegsparteien zurzeit mit einer Reihe von strukturellen Problemen: Dazu gehören die Aufstockung ihrer Truppen, ihre Versorgung und logistische Unterstützung sowie Instandsetzung und Materialersatz. Die 90 Tage lange Großoffensive der Russen im Donbas und entlang anderer Frontabschnitte hat beiden Parteien große Verluste zugefügt.

Eine Pattsituation also?
Nicht wirklich. Russland hat durchaus, wenn auch mühsam, signifikante Geländegewinne erzielt und Städte wie Lyssytschansk und Sjewjerodonezk eingenommen. Auch Mariupol und Cherson hat die Ukraine verloren. Nachdem die Russen die Region Luhansk erobern konnten, greifen sie nun gezielt die Nachbarregion Donezk an. Auch Odessa wird wohl nicht ausgespart bleiben. Bis die ukrainischen Streitkräfte, wenn überhaupt, zu Gegenoffensiven übergehen können, müssen sie sich neu formieren, Truppenverbände aufstocken sowie Munition und die ankommenden westlichen Waffensysteme an die verschiedenen Frontabschnitte bringen. Letzteres ist eine echte Herausforderung, weil die Russen die ukrainischen Nachschubwege zunehmend bekämpfen.

Stefanie Babst

22 Jahre arbeitete Babst in verschiedenen Führungspositionen in der Nato, zuletzt als Leiterin des strategischen Vorausschauteams des Nato-Generalsekretärs. Seit März 2020 ist die promovierte Politologin als strategische Beraterin tätig.

Vor welchen militärischen Herausforderungen stehen die Ukrainer?
Positiv ist sicherlich, dass der Rückzug der ukrainischen Streitkräfte aus Luhansk offensichtlich einigermaßen geordnet verlaufen ist. Außerdem konnten sie den russischen Angreifern durchaus schwere Verluste beibringen. Aber man darf nicht vergessen, dass die Ukraine selbst erhebliche Verluste bei ihrer Truppenstärke und Bewaffnung erlitten hat. Die Rekrutierung und Ausbildung von Soldaten und die Verlegung effektiverer Distanzwaffen wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Bis dahin werden die Ukrainer kaum nennenswerte Gegenangriffe unternehmen können. Der ukrainische Generalstab hat September als möglichen Zeitraum dafür genannt.

Welche Wirkung hat die Lieferung schwerer westlicher Waffen, etwa der Mehrfachraketenwerfer aus den USA?
Sie werden den Ukrainern sicher besser dabei helfen, russische militärische Ziele hinter der Frontlinie anzugreifen, wie beispielsweise Munitionsdepots sowie Führungs- und Kommunikationseinrichtungen. Aber sie werden ihre Ziele sorgfältig auswählen müssen, denn mit sieben Panzerhaubitzen und zwei oder drei Mehrfachraketenwerfern können sich die Ukrainer nicht entlang einer Frontlinie verteidigen, die mehrere Hundert Kilometer lang ist.

Sehen Sie überhaupt die Chance, dass die Ukraine die russischen Invasoren vertreibt?
Das wird militärisch sehr schwierig werden, zumal die Russen sie weiter aus drei Himmelsrichtungen angreifen und aufreiben können. Aber je schneller sich die ukrainischen Streitkräfte neu formieren können und die notwendigen Waffensysteme aus dem Westen bekommen, desto größer dürfte ihre Chance sein, weitere Vorstöße der Russen zu verhindern und gegebenenfalls Gegenangriffe zu starten. Wahrscheinlich wird auch zunehmend eine Guerillataktik auf der ukrainischen Seite eine Rolle spielen.

Und das russische Militär?
Mit scheint, dass die russische Seite weiterhin eine „Dreifachstrategie“ verfolgen wird: erstens, die Fortsetzung der Bodenoffensive im Donbas, primär durch Dauerartilleriebeschuss. Zweitens, Angriffe mit Raketen auf Versorgungslinien und andere militärische und zivile Ziele im gesamten Gebiet der Ukraine. Und drittens: Moskau wird versuchen, in den besetzten Gebieten Fakten zu schaffen: mit der Vorbereitung sogenannter Referenden, der Einsetzung von russischem Führungspersonal in lokale Strukturen und der Wiederherstellung öffentlicher Infrastruktur.

Welche Konsequenzen hätte das?
Ich vermute, dass der Kreml spätestens im September die militärische Eroberung der Donbas-Region und besetzter Gebiete im Süden abschließen und dort „Anschlussreferenden“ abhalten will. Dann könnte Präsident Putin erklären, dass diese Gebiete künftig offiziell zur Russischen Föderation gehörten.

Die Zeit spielt also für Russland?
Ich persönlich erwarte nicht, dass Präsident Putin seine „Spezialoperation“ auf unbegrenzte Zeit fortsetzen will. Er will wahrscheinlich einen raschen Erfolg, den er dann zu Hause öffentlichkeitswirksam inszenieren kann. Das würde aber nicht bedeuten, dass der Krieg damit zu Ende ginge. Selbst wenn Russland eine „Pause“ machen würde, wird es die Ukraine als selbstständigen Staat weiterhin zerstören wollen.

Zuletzt häuften sich Angriffe auf zivile Ziele, etwa das Einkaufszentrum in Krementschuk. Sind Kriegsverbrechen Teil der russischen Strategie?
Russland will die ukrainische Zivilbevölkerung terrorisieren. Das ist ganz eindeutig. Ich schließe nicht aus, dass Putin Kiew und andere Großstädte weiter massiv mit Raketen und Marschflugkörpern angreifen lassen wird; nicht, um diese Städte militärisch einzunehmen, sondern um die Bevölkerung zu zermürben und die Regierung von Präsident Selenski unter Druck zu setzen.

Einkaufszentrum in Krementschuk in Flammen

Beim russischen Raketenangriff auf das Einkaufszentrum starben mindestens 18 Menschen.

(Foto: dpa)

Muss der Westen die Waffenlieferungen deshalb beschleunigen?
Hätten wir der Ukraine bereits vor Beginn der zweiten russischen Großoffensive Ende März/Anfang April effektivere Waffensysteme wie Flug- und Raketenabwehrsysteme und Distanzwaffen geliefert, hätten sie sich wahrscheinlich besser verteidigen können. Jetzt ist endlich mehr Dynamik entstanden. Aber alles, was von den westlichen Verbündeten nun geliefert wird, muss ins Land gebracht und verteilt werden. Zugleich müssen die ukrainischen Soldaten an diesen neuen Systemen ausgebildet werden. Das kostet viel Zeit.

>> Lesen Sie hier: Bundesregierung legt Waffenlieferungen offen – Panzerhaubitzen eingetroffen

Der russische Angriffskrieg hat die Nato aufgeschreckt, die Allianz will massiv aufrüsten. Aber ist die abgekämpfte Armee der Russen wirklich eine so große Bedrohung?
Ich wäre vorsichtig mit Beschreibungen wie „abgekämpft“. Wir haben wenige gesicherte Erkenntnisse, in welchem konkreten Zustand die russische Armee ist. Grundsätzlich ist Russlands konventionelles Arsenal sehr viel umfangreicher und komplexer als das, was wir bis dato im Donbas gesehen haben. Bei allen Problemen, die die russische Armee zu haben scheint, würde ich Russlands militärische Möglichkeiten nicht unterschätzen. Außerdem hat Putin gerade die Kriegswirtschaft eingeführt, die den militärisch-industriellen Komplex stärken soll. Das heißt für mich, dass Russland sich auf einen langen Krieg einstellt.

Wäre Russland in der Lage, an einer zweiten Front zu kämpfen, etwa in Litauen?
Russland hat in den vergangenen Jahren systematisch begonnen, in und um Kaliningrad eine sogenannte „A2/AD“-Blase aufzubauen, das steht für Anti Access/Area Denial, zu der Marschflugkörper, Kurz- und Mittelstreckenraketen, weitreichende Artillerie und andere Fähigkeiten gehören. Damit soll dem Gegner, also der Nato, der militärische Zugang und die Bewegungsfreiheit in dem Gebiet versagt werden. Ich denke, dass die Nato bei ihren Verteidigungsplänen für das Baltikum und Polen sehr genau auf die Entwicklung in der russischen „A2/AD“-Blase schauen wird. Außerdem würde ich verschärft die Situation in Weißrussland beobachten, das Moskau zunehmend für seine Operationen in der Ukraine nutzt.

Also schließen Sie eine Eskalation dort nicht aus?
Ausschließen darf man bei dem Putin-Regime überhaupt nichts. Wir müssen uns auf alle möglichen Szenarien gut vorbereiten.

>> Lesen Sie hier: Bundeswehr-Truppen in Litauen: Mehr als reine Abschreckung

US-Präsident Joe Biden hat immer wieder gesagt, er möchte einen Dritten Weltkrieg auf jeden Fall verhindern. Befinden wir uns tatsächlich gefährlich nahe an einer nuklearen Eskalation und sollten deswegen mit Waffenlieferungen vorsichtig sein?
Es gibt für mich keinen logischen Zusammenhang zwischen der nuklearen Drohung Russlands und unseren Waffenlieferungen. Präsident Putin hat die Eskalationsschraube am Tag drei nach der Invasion angezogen; da waren wir noch weit davon entfernt, über die ersten Lieferungen von schweren Waffen zu sprechen. Die Drohung mit Nuklearwaffen ist für Putin ein probates Mittel, um Angst in der westlichen Öffentlichkeit zu erzeugen.

Was hält ihn zurück?
Ich kann nicht erkennen, welche strategischen Vorteile er sich durch einen Einsatz taktischer Nuklearwaffen erhoffen würde. In erster Linie müsste er mit einer unmittelbaren Reaktion des Westens rechnen. Außerdem würde es seine Anstrengungen zunichtemachen, Russland im Kreis seiner internationalen Verbündeten weiter zu etablieren. Seit etlichen Jahren steckt Putin viel Energie in die Partnerschaften mit Indien, China, Brasilien, Südafrika und anderen Schwellenländern. Auf dem jüngsten Treffen der BRICS-Staaten hat Putin noch einmal betont, dass er weiterhin mit diesen Staaten eng zusammenarbeiten will. Ein Einsatz von Nuklearwaffen in der Ukraine wäre da komplett kontraproduktiv.

Wie schätzen Sie den Pakt zwischen Putin und dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping ein? Wird China perspektivisch zur Bedrohung für die Nato?
Ich habe schon während meiner Zeit in der Nato argumentiert, dass die Partnerschaft zwischen China und Russland eine „strategische Gleichzeitigkeit“ für den Westen darstellt. Beide Länder betrachten sich in fundamentaler Opposition zu unserem liberal-demokratischen Modell und wollen die internationale Ordnung grundsätzlich verändern. Es gibt kein Politikfeld, in dem sie ihre Zusammenarbeit nicht verstärkt haben. Aber China ist in technologischer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Hinsicht eine viel komplexere Bedrohung für den Westen als Russland. Leider haben wir gegenüber China noch keine umfassende und effektive Eindämmungsstrategie, so wie wir sie auch nicht gegenüber Russland hatten.

Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas Präsident Xi Jinping

Die Bindung zwischen China und Russland ist in den letzten Jahren enger geworden.


(Foto: AP)

Was genau befürchten Sie?
China setzt immer mehr wirtschaftliche, politische und militärische Druckmittel gegen andere Staaten ein, um seine strategischen Ziele zu verfolgen. Es modernisiert seine Streitkräfte auf ganzer Linie und macht keinen Hehl daraus, diese auch zur Einschüchterung seiner Nachbarn einzusetzen. Natürlich steht die „Integration“ Taiwans im Zentrum chinesischer Politik, aber wir sollten nicht vergessen, dass die chinesische Militärdoktrin ausdrücklich auch den Schutz wirtschaftlicher Interessen im Ausland als Aufgabe für die Streitkräfte erwähnt. In Europa hat China erhebliche Wirtschaftsinteressen und Infrastruktur wie Häfen und Brücken, nicht wahr?

Jens Plötner, der außenpolitische Berater des Bundeskanzlers, hat vor zwei Wochen öffentlich gesagt, man solle in die Beziehung zu China keinen Antagonismus hineinreden. Schätzt er die Absichten des Regimes richtig ein?
Offensichtlich kommen wir zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Ich analysiere die militärischen und wirtschaftlich-technologischen Fähigkeiten Chinas, seine erklärten strategischen Ziele und den politischen Willen der Führung in Peking, diese umzusetzen. Für mich ist China in jeder Hinsicht eine ernsthafte und langfristige Bedrohung unserer nationalen Interessen. Nicht umsonst steht das Reich der Mitte im strategischen Fokus in Washington.

>> Lesen Sie hier: Wie ein Scholz-Berater mit umstrittenen Äußerungen Kritik auslöst

Welche Schlüsse müsste man jetzt in Europa mit Blick auf China ziehen?
Wir brauchen in erster Linie eine vernetzte und langfristig angelegte Strategie gegenüber China, die alle wesentliche Bereiche im Blick hat: Technologie und Wirtschaft, unsere Abhängigkeit von Rohstoffen wie zum Beispiel Seltene Erden, Cyberabwehr und Infrastruktur, Desinformation und andere Formen von Chinas „soft power“. In allen diesen Bereichen sollten wir unsere Resilienz gegenüber China stärken.

Was meinen Sie konkret?
Das bedeutet, kritische Infrastruktur wie Terminals und Häfen nicht weiter an Peking zu verkaufen und Huawei keinen Zugang zu unseren Telekommunikationsnetzen zu geben. Und natürlich müssen wir uns jeden Tag vergegenwärtigen, dass China unsere Haltung im Ukrainekonflikt mit Argusaugen verfolgt. Die Regierung in Peking wird ihre Schlüsse mit Blick auf Taiwan daraus ziehen.

Frau Babst, vielen Dank für das Interview.

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